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Andreas G. Graf - Gedenkseite: Unterschied zwischen den Versionen

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("Dass Schlimmste ist am Besten, der Osten liegt im Westen, und morgen ist gestern".Zum Tod von Andreas Graf von Hartmut Rübner)
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Nach der in der DDR obligatorischen Berufsausbildung und einem Studien der Geschichte forschte der junge Historiker über die Arbeiterbewegung - zeitweilig unter dem Dach des Instituts für Marxismus-Leninismus. Seine, im Februar 1990 an der Humboldt-Universität eingereichten Dissertation war einem in West und Ost undankbaren Thema gewidmet: dem Anarchismus. Es sollte ihn bis zuletzt beschäftigen. Ein für die marxistische Geschichtswissenschaft vielleicht zu "sperriges Gut", wie er damals notierte, aber dennoch ein "gesellschaftliches Phänomen, eins der Sozialgeschichte, ein wirklich oder verborgen gegenwärtiges." "Gravierend" erschien ihm dabei der Umstand, daß "der Anarchismus als Resultante aus unzähligen individuellen Aktivitäten funktioniert, wie er will, daß keine beliebige oder wünschbare Funktion ihm auf die Dauer anzuhexen ist". Hier scheint etwas von der in der wissenschaftlichen Nische entwickelten Wortästhetik auf, die sich - trotz der seinerzeit unter Wendehälsen bereits obsoleten Verweise auf Lenins Schriften - in wohltuender Weise von dem oft schematisiert wirkenden Duktus des Marxismus-Leninismus unterschied. Bekenntniseifer oder Worthülsen, die manche Jungakademiker ohne tiefere Kenntnisse der Materie absondern, boten ihm Anlass für geharnischte Kommentare. So erlebte ich ihn, als er nach der Vorabbegutachtung meiner zum Druck anstehenden Arbeit - wegen einiger darin enthaltener unbedarfter Bemerkungen sichtlich in Ärger geraten - in den Verlag stürmte. Nach ein paar Sätzen wich meine Einschüchterung einer Sympathie vor dem Menschen, der hinter der habituellen Professionalität zum Vorschein kam. Seine auf verblüffendem Detailwissen basierende, professoral wirkende Gravität war dabei durchaus nicht unangenehm. Zudem teilten wir eine Leidenschaft für die nicht mainstreamförmigen Spielarten der Rockmusik. Dass ihm hier wie dort an fachlicher Qualität gelegen war, zeigen seine nicht allzu zahlreichen, dafür umso sorgfältiger ausgefeilten wissenschaftlichen Beiträge. Auch die von ihm entweder allein oder (mit-)herausgegebenen Schriften dokumentieren eine Akuratesse, die im institutionalisierten Rattenrennen heute eher selten anzutreffen ist.  
 
Nach der in der DDR obligatorischen Berufsausbildung und einem Studien der Geschichte forschte der junge Historiker über die Arbeiterbewegung - zeitweilig unter dem Dach des Instituts für Marxismus-Leninismus. Seine, im Februar 1990 an der Humboldt-Universität eingereichten Dissertation war einem in West und Ost undankbaren Thema gewidmet: dem Anarchismus. Es sollte ihn bis zuletzt beschäftigen. Ein für die marxistische Geschichtswissenschaft vielleicht zu "sperriges Gut", wie er damals notierte, aber dennoch ein "gesellschaftliches Phänomen, eins der Sozialgeschichte, ein wirklich oder verborgen gegenwärtiges." "Gravierend" erschien ihm dabei der Umstand, daß "der Anarchismus als Resultante aus unzähligen individuellen Aktivitäten funktioniert, wie er will, daß keine beliebige oder wünschbare Funktion ihm auf die Dauer anzuhexen ist". Hier scheint etwas von der in der wissenschaftlichen Nische entwickelten Wortästhetik auf, die sich - trotz der seinerzeit unter Wendehälsen bereits obsoleten Verweise auf Lenins Schriften - in wohltuender Weise von dem oft schematisiert wirkenden Duktus des Marxismus-Leninismus unterschied. Bekenntniseifer oder Worthülsen, die manche Jungakademiker ohne tiefere Kenntnisse der Materie absondern, boten ihm Anlass für geharnischte Kommentare. So erlebte ich ihn, als er nach der Vorabbegutachtung meiner zum Druck anstehenden Arbeit - wegen einiger darin enthaltener unbedarfter Bemerkungen sichtlich in Ärger geraten - in den Verlag stürmte. Nach ein paar Sätzen wich meine Einschüchterung einer Sympathie vor dem Menschen, der hinter der habituellen Professionalität zum Vorschein kam. Seine auf verblüffendem Detailwissen basierende, professoral wirkende Gravität war dabei durchaus nicht unangenehm. Zudem teilten wir eine Leidenschaft für die nicht mainstreamförmigen Spielarten der Rockmusik. Dass ihm hier wie dort an fachlicher Qualität gelegen war, zeigen seine nicht allzu zahlreichen, dafür umso sorgfältiger ausgefeilten wissenschaftlichen Beiträge. Auch die von ihm entweder allein oder (mit-)herausgegebenen Schriften dokumentieren eine Akuratesse, die im institutionalisierten Rattenrennen heute eher selten anzutreffen ist.  
  
[[Bild:978-3930819294_IWK_2005_1-2.GIF|right|thumb|250px|Die letzte von Andreas G. Graf zusammen mit Heiner Becker 2005 herausgegebenen Ausgabe der IWK.]]
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[[Bild:978-3930819294_IWK_2005_1-2.GIF|right|thumb|250px|Die letzte von Andreas G. Graf gemeinsam mit Heiner Becker 2005 herausgegebenen Ausgabe der [http://www.alibro.de/product_info.php/info/p5117_IWK--Jg--41--2005---H--1-2.html IWK.]]]
 
Der ins Deutsche übersetzte, von Dieter Nelles und ihm annotierte - und mit umfangreichen Studien zu Widerstand und Exil deutscher AnarchosyndikalistInnen ergänzte - [http://www.alibro.de/product_info.php/info/p5078_Die-unsichtbare-Front.html Reisebericht Rudolf Berners ins nazistische Deutschland (1937)], erweiterte das Spektrum der Widerstandsforschung nicht zuletzt durch eine akribische Quellenforschung. Und der nachfolgende Sammelband [http://www.alibro.de/product_info.php/info/p5177_Anarchisten-gegen-Hitler.html "Anarchisten gegen Hitler" (2001)], der auf eine Tagung der Forschungsstelle Widerstandsgeschichte zurückgeht, eröffnete die Perspektive auf den europäischen Faschismus.  
 
Der ins Deutsche übersetzte, von Dieter Nelles und ihm annotierte - und mit umfangreichen Studien zu Widerstand und Exil deutscher AnarchosyndikalistInnen ergänzte - [http://www.alibro.de/product_info.php/info/p5078_Die-unsichtbare-Front.html Reisebericht Rudolf Berners ins nazistische Deutschland (1937)], erweiterte das Spektrum der Widerstandsforschung nicht zuletzt durch eine akribische Quellenforschung. Und der nachfolgende Sammelband [http://www.alibro.de/product_info.php/info/p5177_Anarchisten-gegen-Hitler.html "Anarchisten gegen Hitler" (2001)], der auf eine Tagung der Forschungsstelle Widerstandsgeschichte zurückgeht, eröffnete die Perspektive auf den europäischen Faschismus.  
  

Version vom 13. Juli 2013, 11:52 Uhr

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Andreas G. Graf ist tot

Am 5. Juli 2013 ist der Berliner Historiker und Publizist Andreas W. Graf im Alter von 61 Jahren nach langer schwerer Krankheit gestorben.

Andreas G. Graf hatte in der DDR Geschichte studiert und im Februar 1990 an der Humboldt-Universität mit einer Dissertation zur Geschichte des Anarchismus in Deutschland promoviert. Seit 2001 war Graf als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Otto-Suhr-Institut für Politologie an der Freien Universität Berlin tätig, und er war erst Redakteur und zuletzt auch Herausgeber der renommierten historischen Fachzeitschrift IWK (Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung).

In seiner eigenen Forschungsarbeit beschäftigte sich Graf bevorzugt mit der anarchistischen und anarchosyndikalistischen Bewegung in Deutschland im Kaiserreich, der Weimarer Republik und im III. Reich. Seine Veröffentlichungen - insbesondere zur Geschichte des anarchistischen und anarchosyndikalistischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus - zählen zu den fundiertesten Studien, die zum Thema vorgelegt wurden.

Wer seine Erinnerungen an Andreas Graf mit uns teilen möchte, kann sie auf der Diskussions-Seite veröffentlichen. Wir übernehmen dann die Texte hier auf die eigentliche Gedenkseite.

Falls jemand Probleme mit dem Schreiben auf der Diskussions-Seite haben sollte, der kann uns seinen Text und gerne auch Fotos zur Veröffentlichung auf der Gedenkseite per E-Mail schicken an: redaktion@dadaweb.de.

Jochen Schmück
Redaktion DadAWeb.de

Nachrufe und Erinnerungen

"Dass Schlimmste ist am Besten, der Osten liegt im Westen, und morgen ist gestern".
Zum Tod von Andreas Graf von Hartmut Rübner

Am 5. Juli ist 61-jährig Andreas Graf gestorben. Außer der Familie trauern Kollegen- und Freunde über einen engagierten Wissenschaftler.

Nach der in der DDR obligatorischen Berufsausbildung und einem Studien der Geschichte forschte der junge Historiker über die Arbeiterbewegung - zeitweilig unter dem Dach des Instituts für Marxismus-Leninismus. Seine, im Februar 1990 an der Humboldt-Universität eingereichten Dissertation war einem in West und Ost undankbaren Thema gewidmet: dem Anarchismus. Es sollte ihn bis zuletzt beschäftigen. Ein für die marxistische Geschichtswissenschaft vielleicht zu "sperriges Gut", wie er damals notierte, aber dennoch ein "gesellschaftliches Phänomen, eins der Sozialgeschichte, ein wirklich oder verborgen gegenwärtiges." "Gravierend" erschien ihm dabei der Umstand, daß "der Anarchismus als Resultante aus unzähligen individuellen Aktivitäten funktioniert, wie er will, daß keine beliebige oder wünschbare Funktion ihm auf die Dauer anzuhexen ist". Hier scheint etwas von der in der wissenschaftlichen Nische entwickelten Wortästhetik auf, die sich - trotz der seinerzeit unter Wendehälsen bereits obsoleten Verweise auf Lenins Schriften - in wohltuender Weise von dem oft schematisiert wirkenden Duktus des Marxismus-Leninismus unterschied. Bekenntniseifer oder Worthülsen, die manche Jungakademiker ohne tiefere Kenntnisse der Materie absondern, boten ihm Anlass für geharnischte Kommentare. So erlebte ich ihn, als er nach der Vorabbegutachtung meiner zum Druck anstehenden Arbeit - wegen einiger darin enthaltener unbedarfter Bemerkungen sichtlich in Ärger geraten - in den Verlag stürmte. Nach ein paar Sätzen wich meine Einschüchterung einer Sympathie vor dem Menschen, der hinter der habituellen Professionalität zum Vorschein kam. Seine auf verblüffendem Detailwissen basierende, professoral wirkende Gravität war dabei durchaus nicht unangenehm. Zudem teilten wir eine Leidenschaft für die nicht mainstreamförmigen Spielarten der Rockmusik. Dass ihm hier wie dort an fachlicher Qualität gelegen war, zeigen seine nicht allzu zahlreichen, dafür umso sorgfältiger ausgefeilten wissenschaftlichen Beiträge. Auch die von ihm entweder allein oder (mit-)herausgegebenen Schriften dokumentieren eine Akuratesse, die im institutionalisierten Rattenrennen heute eher selten anzutreffen ist.

Die letzte von Andreas G. Graf gemeinsam mit Heiner Becker 2005 herausgegebenen Ausgabe der IWK.

Der ins Deutsche übersetzte, von Dieter Nelles und ihm annotierte - und mit umfangreichen Studien zu Widerstand und Exil deutscher AnarchosyndikalistInnen ergänzte - Reisebericht Rudolf Berners ins nazistische Deutschland (1937), erweiterte das Spektrum der Widerstandsforschung nicht zuletzt durch eine akribische Quellenforschung. Und der nachfolgende Sammelband "Anarchisten gegen Hitler" (2001), der auf eine Tagung der Forschungsstelle Widerstandsgeschichte zurückgeht, eröffnete die Perspektive auf den europäischen Faschismus.

Seit April 2001 wissenschaftlicher Assistent am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaften der FU Berlin, übernahm er die Aufgabe des verantwortlichen Redakteurs der "Internationalen wissenschaftlichen Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (IWK"). Als sich die FU 2007 jedoch als Exzellenzzentrum der Wissenschaft etablierte, kam es zu einschneidenden Abwicklungsvorgängen im Fachbereich. In das elitäre Konzept passte die unpopuläre Arbeitergeschichte gar nicht. Die Redakteursstelle entfiel ebenso wie das daran verknüpften Beschäftigungsverhältnisse in der FU Berlin und der Arbeitsplatz Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Wie der "Freigesetzte" im Editorial der IWK anmerkte, befand sich die Zeitschrift nun "in einer seltsamen Zwischenphase"; eine "wie auch immer geartete Planungsperspektive" war unbestimmt (jW v. 19.02.2008). Im 42. Jahr erschien im April 2008 die seitdem letzte Ausgabe. Trotz der solidarischen Hilfestellung durch den BasisDruck Verlag und dem neuen Herausgeber, dem Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam, gelang es nicht mehr, das im Ungewissen treibende Schiff wieder auf Kurs zu bringen. Das ungeliebte Markenzeichen der IWK, die unregelmäßige Erscheinungsweise - wie er eingestand - blieb ein ungebrochenes Kontinuum. In den Redaktionsräumen des Verlags wurden Pläne geschmiedet, damit das Projekt nicht "in einer Endmoräne" auslief. Doch der angegriffene Gesundheitszustand erlaubte es Andreas Graf zuletzt nicht mehr, dazu das Steuer noch einmal fester in den Griff zu bekommen.

Nun hat er die Brücke verlassen. Seine Familie, Freunde und Kollegen werden ihn am 19. Juli an einem würdigen Ort Berlins verabschieden: dem Friedhof Baumschulenweg in der Kiefholzstraße, auf dem Tausende von Antifaschisten neben anderen Opfern des Nazismus ihre letzte Ruhe gefunden haben.

Weblinks

Vorträge von Andreas G. Graf (Audiodateien)

  • Rudolf Rocker - Portrait eines Anarchosyndikalisten.
  • Die Freie Arbeiter-Union Deutschland (FAUD)
  • Anarchisten gegen Hitler

Quelle: Libertäre Reihe im Internet Archive


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