Wintsch, Jean: Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 21. Juli 2020, 10:23 Uhr
Lexikon der Anarchie: Personen
Jean Wintsch (geb.: 19. l. 1880 in Warschau; gest.: 27. 4. 1943 in Lausanne). Libertärer Pädagoge.
Inhaltsverzeichnis
Äußere Daten
Als junger Mann kommt W. aus Polen nach Lausanne in der französischsprachigen Schweiz, wo er die naturwissenschaftliche Sektion des Gymnasiums besucht. Nach der Reifeprüfung studiert er in Lausanne und Zürich Medizin, schließt mit der Dissertation ab und etabliert sich als praktischer Arzt in der waadtländischen Hauptstadt. 1909 gründet er dort die „Ecole Ferrer“, die er bis zu deren Ende 1919 mitleitet. Während zehn Jahren redigiert er das „Bulletin de l’Ecole Ferrer“. Nachdem die „Ecole Ferrer“ ihren Betrieb aufgegeben hat, beschäftigt sich Wintsch mit Fragen der medizinischen Pädagogik. Er wird Lausanner Schularzt. Ab 1931 leitet er den sanitarischen Dienst der Schulen Lausannes. Er versieht zudem einen Lehrauftrag an der „Ecole des Sciences sociales“ der Lausanner Universität als außerordentlicher Professor
Politischer Werdegang
Wintsch, Freidenker, aktiver Gewerkschafter und entschiedener Föderalist, verwirklicht zusammen mit Arbeitern, Intellektuellen und Künstlern ein Schulkonzept, das zwar auf Paul Robins und Sébastian Faures Ideen fußt, aber seine eigene Ausprägung findet. Seine medizinischen und hygienischen Interessen schlagen auf seine ganze Arbeit – auch auf jene in der „Ecole Ferrer“ durch, indem er seine entwicklungspsychologischen, ernährungsphysiologischen und pädagogisch-psychologischen Erkenntnisse im Schulalltag der „Ecole“ zur Anwendung empfiehlt. Sein gesamtes Werk scheint von einem Ziel geleitet zu sein, das zugleich als ein pädagogisches und politisches aufzufassen ist: Wintsch will die Lebensbedingungen der Arbeiterkinder verbessern – und dazu gehört eben auch die Erziehung dieser Kinder. Erst nach der Gründung der Schule publiziert Wintsch aber eine Broschüre zur „Ecole Ferrer“, die als – wohl nachträglich erarbeitete – kulturpolitische Absichtserklärung zu bezeichnen ist: Darin sieht er im Zusammengehen von manueller und intellektueller Bildung, was Werkstätte und Schule einander annähert, die unerläßliche Bedingung, um eine Kultur zu erneuern.
Stellenwert Wintschs innerhalb des libertären Spektrums
Interdisziplinär denkend, zeigt Wintsch, wie libertäre Pädagogik mit libertärer Politik zusammen gesehen werden kann. Seine praxisausgerichtete Forschung in sanitarischer und hygienischer Hinsicht belegt die Relevanz libertärer Positionen in einem Gesellschaftsgefüge einer größeren Stadt wie Lausanne zu Beginn des 20. Jahrh. Mit der „Ecole Ferrer“ hat Wintsch die einzige Ferrer-Nachfolgeschule in der Schweiz ins Leben gerufen und geleitet. Indem er Unterrichtsmaterialien aus P. Robins Cempuis in die „Ecole Ferrer“ übernommen hat, ist die Kontinuität zwischen P. Robin, S. Faure und Wintsch erklärbar. Insofern ist Wintsch wohl der einzige Vertreter einer „libertären Reformpädagogik“ in der Schweiz, der sich institutionell verankern konnte.
Literatur und Quellen:
Die wichtigsten Werke
- L’Ecole Ferrer, Genf 1919
- Vive l’Anarchie, in: Le Réveil, Genf 23. 10. 1909
- Les dessins de l’enfant et leur signification, in: Annuaire de l’instruction en Suisse, Lausanne 1933, S. 101-134
- L’Ecole Espagnole, Lausanne 1937
- Définition de l’intelligence, in: Revue médicale de la Suisse romande, Lausanne 1937
Übersetzungen: keine
Quellen
- R. Bianco: Les Pionniers de l’Education Libre (Tolstoi, Robin, Faure, Wintsch), in: Le Monde Libertaire 1967
- Bulletin de l’Ecole Ferrer, Lausanne 1913- 1921
- H. U. Grunder: Anarchistische Erziehung. Geschichte - Modelle - Beispiele, Baltmannsweiler 2007
- H. U. Grunder: Von der Kritik zu den Konzepten. Aspekte einer „Geschichte der Pädagogik der französischsprachigen Schweiz“ im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1986
- Société de l’Ecole Ferrer: Statuts et livrets de sociétaire, Lausanne 1910
Autor: Hans Ulrich Grunder
Quelle: Dieser Artikel erschien erstmals in: Lexikon der Anarchie: Encyclopaedia of Anarchy. Lexique de l'anarchie. - Hrsg. von Hans Jürgen Degen. - Bösdorf: Verlag Schwarzer Nachtschatten, 1993-1996 (5 Lieferungen). - Loseblattsammlung in 2 Ringbuchordnern (alph. sortiert, jeder Beitrag mit separater Paginierung). Für die vorliegende Ausgabe wurde er überarbeitet.
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