Daniel L. Everett: Das glücklichste Volk: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 29. Juni 2010, 10:48 Uhr
Die DadA-Buchempfehlung
Buchcover: | |
Autor/en: | Daniel L. Everett |
Titel: | Das glücklichste Volk |
Untertitel: | Sieben Jahre bei den Pirahã-Indianern am Amazonas |
Editoriales: | Dt.Erstausgabe, engl. Originaltitel: Don't sleep, there are snakes. Aus d. Engl. von Sebastian Vogel. |
Verlag: | Deutsche Verlags-Anstalt |
Erscheinungsort: | München |
Erscheinungsjahr: | 2010 |
Umfang, Aufmachung: | Gebundene Ausgabe, 416 Seiten, zahlr. Abb. |
ISBN: | (ISBN-13:) 978-3421043078 |
Preis: | 24,95 EUR |
Direktkauf: | bei aLibro, der Autorenbuchhandlung des DadAWeb |
Vom Leben im Hier und Jetzt
Buchbesprechung
1977 reiste der amerikanische Missionar und Ethnolinguist Daniel Everett mit Frau und Kindern in den brasilianischen Urwald, um den Indianerstamm der Pirahã (sprich: Pi-da-HAN) zum christlichen Glauben zu bekehren. Die Pirahã leben als Jäger und Sammler an einem Nebenfluss im Amazonasgebiet. Ihr Siedlungsgebiet liegt in einem Reservat von 240 Kilometer Länge, zwei Tagesreisen mit dem Boot von den Außenrändern der modernen Zivilisation entfernt.
Everett war nicht der erste Kontakt, den die Pirahã mit Menschen aus der modernen Zivilisation bekommen hatten. Schon seit Jahrzehnten waren sie immer wieder von Händlern, Regierungsbeamten und Missionaren aufgesucht worden. Dennoch haben sie es geschafft, sich dem Einfluss der Zivilisation zu widersetzen. Noch immer bauen sie ihre Hütten in derselben primitiven Weise wie ihre Vorfahren, ohne Wände und ohne festen Boden. Gelegentlich tauschen sie Werkzeuge ein, die sie aber achtlos im Urwald verrotten lassen, wenn sie diese nicht mehr brauchen. An moderner Technik haben sie kein Interesse. Gefallen fanden sie dagegen am Alkohol, mit dem sie die Händler gelegentlich versorgten.
Persönlicher Besitz bedeutet den Pirahã nichts, und sie kennen keine politischen Führer. In ihrer anarchischen Lebensweise ähneln sie anderen indigenen Stammesgesellschaften im südamerikanischen Regenwald, wie sie von Claude Lévi-Strauss und seinem Schüler Pierre Clastres beschrieben worden sind. Auch im Fall der von Everett beschriebenen Pirahã ist es faszinierend, einen Einblick in die Kultur der gelebten Anarchie dieser Ureinwohner des brasilianischen Regenwaldes zu bekommen.
Everett hatte das Gefühl, das wohl glücklichste Volk der Welt getroffen zu haben:
"Eines ist mir von meiner ersten Begegnung mit den Pirahã am stärksten in Erinnerung geblieben: Alle schienen glücklich zu sein. Jedes Gesicht zierte ein Lächeln. Anders als so oft bei kulturübergreifenden Begegnungen wirkte hier niemand gleichgültig oder zurückhaltend."
Um den Pirahã die Botschaft Christi verkünden zu können, erlernte Everett ihre Sprache und stellte dabei schnell fest, dass diese Sprache allen Erwartungen zuwiderläuft. So kennen die Pirahã keine Farbbezeichnungen wie rot und gelb. Auch Zahlen sind ihnen unbekannt, und sie können folglich auch nicht rechnen. Sie sprechen nicht über Dinge, die sie nicht unmittelbar selber erlebt haben. Dementsprechend können sie auch nichts mit der fernen Vergangenheit anfangen, und sie machen sich auch keine Gedanken über die Zukunft. In dieser auf das Hier und Jetzt konzentrierten Lebensweise sieht Everett auch die Ursache für das gesteigerte Glücksempfinden der Pirahã. Gleichzeitig ist sie der Grund dafür, warum diese Ureinwohner des Regenwaldes der christlichen Botschaft, die ihnen Everett nahebringen wollte, kaum etwas abgewinnen konnten. Sie fragen Everett, ob er denn selbst Jesus jemals gesehen habe oder irgendjemand kennen würde, der Jesus wirklich begegnet sei? Da er das verneinen musste, wurde die Sache mit Jesus für sie völlig uninteressant.
Je tiefer Daniel Everett in die Kultur der Pirahã eintauchte, desto weniger konnte er sich ihrer auf das Hier und Jetzt fixierten Denkweise verschließen. Schon bald war Everett nach seinem eigenen Eingeständnis nicht mehr in der Lage, sich mit derselben Unbefangenheit wie früher zu seinem christlichen Glauben zu bekennen. Insgesamt verbrachte er sieben Jahre bei den Pirahã, fasziniert von ihrer Sprache und ihrer Sicht auf die Welt. Am Schluss waren es die Pirahã, die ihn mit ihrer Lebensweise bekehrt hatten. Aus dem Missionar war ein Atheist geworden, der für den christlichen Glauben an Gott nichts mehr übrig hatte. Obgleich seine Familie darüber zerbrach, gab Everett seine missionarische Tätigkeit auf und widmete sich fortan nur noch seinen ethnolinguistischen Studien.
Es ist diese einzigartige Sprache, die die Pirahã und ihren Erforscher Daniel Everett weltweit bekannt gemacht hat. Die Pirahã lehnen alles Abstrakte ab. Sie leben auch im Wortsinn im "Hier und Jetzt". Ihre Sprache kennt keine Nebensätze. Deshalb verbinden die Pirahã niemals zwei einzelne Aussagen. Während wir zum Beispiel sagen würden: "der Mann, der ein Kanu hat, fängt einen Fisch“, sagen sie: "der Mann hat ein Kanu", "der Mann fängt einen Fisch". Der eingeschobene Nebensatz: "der ein Kanu hat" fällt für die Pirahã aus dem direkten Erlebniskontext heraus. Sie formulieren deshalb zwei eigenständige Aussagen über das, was jeweils unmittelbar relevant ist.
Everetts Forschungsergebnisse haben zu einem heftigen Streit unter den internationalen Sprachwissenschaftlern geführt. Für viele Linguisten, insbesondere die, die Noam Chomsky nahestehen, sind Everetts Behauptungen ein echter Affront. Chomsky vertritt die Annahme, dass unsere Sprachfähigkeit etwas biologisch Gegebenes sei, vergleichbar etwa mit dem aufrechten Gang. So wie wir Beine für das Gehen haben, so besitzen wir auch ein Organ für die Sprache. Man kann sich dieses Organ wie eine Art Superprozessor im Gehirn vorstellen, und dieser ist baugleich für die gesamte Menschheit. Chomsky zufolge liegt allen Sprachen der Menschheit derselbe Bauplan, eine "Universale Grammatik", zugrunde.
Dem widerspricht Daniel Everett energisch. Er kann im Gegensatz zu Chomsky kein universales Prinzip erkennen, das für alle Sprachen der Welt im Kern identisch ist. Seiner Ansicht nach ist unsere Sprache ein Produkt unserer Lebensweise, unserer Kultur. Und deshalb unterscheiden sich Sprachen je nach Lebensraum, je nach den Wertmaßstäben einer Gemeinschaft bis ins Innerste voneinander. Es gebe kein besseres Beispiel für diese These als die Pirahã, behaupten Everett und seine Anhänger.
Daniel Everett nimmt mit seinem Buch die Tradition des philosophischen Reiseberichts wieder auf, in dem die wissenschaftliche Studie und die persönliche weltanschauliche Reflexion miteinander verknüpft werden. Ich habe sein Buch mit anhaltender Spannung gelesen, von der ersten bis zur letzten Seite. Es ist eines dieser seltenen Bücher, die ein Fenster aufstoßen und den Blick freigeben auf eine andere unbekannte Welt. Everett zeigt uns eine Welt, in der die Menschen im unmittelbaren Hier und Jetzt leben und offensichtlich ganz glücklich dabei sind.
Jochen Schmück
Inhalt
Vortrag von Daniel L. Everett (in Engl.) über die Pirahã-Indianer und ihre Lebensweise des "xibipiio", das Leben im "Hier und Jetzt". |
- Vorbemerkung [11]
- Prolog [13]
Teil I - LEBEN
- 1. Die Welt der Pirahã [21]
- 2. Der Preis der Jüngerschaft [58]
- 3. Manchmal macht man Fehler [96]
- 5. Materielle Kultur und das Fehlen von Ritualen [114]
- 6. Familie und Gemeinschaft [135]
- 7. Die Natur und die Unmittelbarkeit des Erlebens [177]
- 8. Mord und Gesellschaft [214]
- 9. Das Land für ein freies Leben 224
- 10. Caboclos: Bilder aus dem brasilianischen Leben am Amazonas [237]
Teil II - SPRACHE
- 11. Kanalwechsel mit Pirahã-Klängen [263]
- 12. Pirahã-Wörter [284]
- 13. Wie viel Grammatik braucht ein Mensch? [299]
- 14. Werte und Gespräche: die Partnerschaft von Sprache und Kultur [309]
- 15. Rekursion: Sprache als russische Puppe [331]
- 16. Krumme Köpfe, gerade Köpfe: Sichtweisen auf Sprache und Wahrheit [359]
Teil III - SCHLUSS
- 17. Der Missionar wird bekehrt [385]
- Epilog: Warum kümmern wir uns um andere Kulturen und Sprachen? [402]
- Anmerkungen zur Pirahã -Sprache [409]
- Dank [412]