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− | + | Was ist das Individuum und in welcher Beziehung steht das Individuum zum Kollektiv (also zur Gemeinschaft oder neudeutsch: zur Community und im erweiterten Sinne zur Gesellschaft)? Und welches Verständnis hat das Individuum von sich selbst, was macht seine Individualität aus? | |
− | Es | + | Diese Fragen stehen im Zentrum der von Maurice Schuhmann vorgelegten Studie „Radikale Individualität Zur Aktualität der Konzepte von Marquis de Sade, Max Stirner und Friedrich Nietzsche“. Es sind Fragen, die seit Anfang der 1970er Jahre in der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung eine regelrechte Renaissance erlebt haben. Verantwortlich waren hierfür so¬ziale und politische Prozesse in den westlichen Industrienationen, die auf eine Atomisierung – im Sinne einer Entwurzelung des Individuums – und Anonymisierung des Einzelnen hinausliefen. Am deutlichsten zeigen sich die Folgen dieser Prozesse in der zunehmenden Negierung traditioneller Bindungen wie Familie, Schichtzugehörigkeit, Betriebszuge¬hörigkeit usw. Dadurch sind die Fragen nach dem Stellenwert von „Individualität" und die Auswirkungen von Individualisierungstendenzen zunehmend stärker in den Fokus des öffentlichen Interesses gerückt. |
− | + | Schuhmann will mit seiner Studie auf einer politisch-philosophischen Ebene ausloten, welche Konsequenzen dieser Prozess der zunehmen¬den Individualisierung für die Gesellschaft hat. Gleichzeitig versucht er Antworten auf die Frage nach möglichen Ordnungsprinzipien in einer modernen, individualistisch ausgerichteten Gesellschaft zu finden. Das Konzept der Individualität und der ihr von der Gesellschaft beigemessene Stellenwert stehen im Zentrum seiner Analyse. Dieses Konzept bildet das Fundament für eine mögliche Neuorientierung und gleichzeitig dient es als Bewertungsmaßstab für ein gesell¬schaftliches Ordnungsprinzip. | |
− | + | Schuhmann behandelt in seiner Studie die Konzeptionen von Individualität bei Marquis de Sade, Max Stirner und Friedrich Nietzsche. Dabei wird erstmalig in kompakter Form die Individualitätsphilosophie dieser drei Denker, deren Bedeutung für die Sozialwissenschaft von der Forschung bislang weitgehend ignoriert wurde, dargestellt und miteinander konfrontiert. Alle drei haben sich in ihren Schriften eingehend mit den Fragen der Individualität und der Stellung des Individuums bzw. der Person innerhalb des Kollektivs beschäftigt. | |
− | + | Stirner nimmt das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft als eine Konfliktsituation wahr und propagiert in seinem Werk einen radikalen Individualismus bzw. Egoismus. Auch de Sade spricht sich für eine unbedingte Bejahung der Individualität in Form eines entfesselten Individualismus aus und dies sowohl in Gedankenexperimenten als auch in konkreten Gesellschaftsutopien (wie z.B. in seiner frühsozialistischen Inselutopie Tamoe in seinem philosophischen Roman „Aline et Valcour"). Nietzsche, der ebenfalls stets dem Individuum gegenüber dem Kollektiv den Vorrang gegeben hat, scheint in seinem Werk bei der Suche nach einem Ausweg aus dem Nihilismus zwischen der Bejahung der Entwicklung und der Suche nach einer metaphysischen Begründung für diese neue Form der Individualität zu schwanken. | |
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− | + | Während in den aktuellen Diskursen die Tendenzen zur sozialen Atomisierung und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft vorrangig als Verlust betrachtet werden, bejahen die drei Denker den Prozess der Individualisierung. Jedoch findet bei ihnen ein Austausch des Gesellschaftsprinzips statt. An Stelle einer metaphysischen Begründung der Gesellschaft vertreten die drei Denker ein Konzept, das auf der Nützlichkeitserwägung und der Ethik des freien und autonomen Individuums beruht. Im Gegensatz zum klassischen Liberalismus sprechen sie sich jedoch nicht unbedingt für ein rein ökonomisch ausgerichtetes Wesen aus, sondern sie meinen ein durchaus gesellschaftsbezogenes Individuum. | |
− | + | Gemeinsam ist den drei Denkern eine libertäre Sicht hinsichtlich der Basis des gesellschaftlichen Lebens. Weder Staat, noch Gesetz oder Religion, ja nicht einmal eine gemeinsame Sprache, akzeptieren sie als Grundlage des gesellschaftlichen Lebens. Ihr Konzept von Gesellschaft leitet sich nicht von einem von außen vorbestimmten Ideal ab, sondern orientiert sich an dem wertneutral verwendeten Begriff des Egoismus. Dieser darf nicht mit einem a-sozialen Egoismus verwechselt werden. Vielmehr bildet dieser Egoismus ein Fundament, auf dem sich gesellschaftlicher Pluralismus mit einer individual-ethischen Kompo¬nente frei entfalten kann. | |
− | + | Aus den Erkenntnissen seiner Untersuchung der Konzeptionen von Individualität bei de Sade, Stirner und Nietzsche versucht Schuhmann im abschließenden Teil seiner Arbeit Impulse für den aktuellen Diskurs über die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft abzuleiten. Er leistet damit einen wertvollen Beitrag zur Entwicklung eines modernen Konzeptes von „Individualität", das nicht nur den heutigen sozialen, kulturellen und politischen Rahmenbedingungen Rechnung zu tragen versucht, sondern das auch eine erfrischend libertäre Perspektive aufweist. Das macht seine Arbeit zu einer ausgesprochen spannenden Lektüre, die dazu anregt, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft neu zu durchdenken und die Diskussion über alternative gesellschaftliche Ordnungssysteme aufzunehmen, die sowohl der freien Entfaltung des Individuums als auch der Begründung und Aufrechterhaltung von Gesellschaft dienlich sind. | |
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Version vom 1. März 2012, 09:46 Uhr
Die DadA-Buchempfehlung
Buchcover: | ![]() |
Autor/en: | Maurice Schuhmann |
Titel: | Radikale Individualität |
Untertitel: | Zur Aktualität der Konzepte von Marquis de Sade, Max Stirner und Friedrich Nietzsche |
Editoriales: | Edition Moderne Postmoderne. Zugleich Dissertation an der Freie Universität Berlin. |
Verlag: | transcript Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis |
Erscheinungsort: | Berlin |
Erscheinungsjahr: | 2011 |
Umfang, Aufmachung: | Kartoniert, 396 Seiten. |
ISBN: | (ISBN-13:) 978-3837617191 |
Preis: | 34,80 EUR |
Direktkauf: | bei aLibro, der Autorenbuchhandlung des DadAWeb |
Besprechung
Radikale Individualität
Was ist das Individuum und in welcher Beziehung steht das Individuum zum Kollektiv (also zur Gemeinschaft oder neudeutsch: zur Community und im erweiterten Sinne zur Gesellschaft)? Und welches Verständnis hat das Individuum von sich selbst, was macht seine Individualität aus?
Diese Fragen stehen im Zentrum der von Maurice Schuhmann vorgelegten Studie „Radikale Individualität Zur Aktualität der Konzepte von Marquis de Sade, Max Stirner und Friedrich Nietzsche“. Es sind Fragen, die seit Anfang der 1970er Jahre in der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung eine regelrechte Renaissance erlebt haben. Verantwortlich waren hierfür so¬ziale und politische Prozesse in den westlichen Industrienationen, die auf eine Atomisierung – im Sinne einer Entwurzelung des Individuums – und Anonymisierung des Einzelnen hinausliefen. Am deutlichsten zeigen sich die Folgen dieser Prozesse in der zunehmenden Negierung traditioneller Bindungen wie Familie, Schichtzugehörigkeit, Betriebszuge¬hörigkeit usw. Dadurch sind die Fragen nach dem Stellenwert von „Individualität" und die Auswirkungen von Individualisierungstendenzen zunehmend stärker in den Fokus des öffentlichen Interesses gerückt.
Schuhmann will mit seiner Studie auf einer politisch-philosophischen Ebene ausloten, welche Konsequenzen dieser Prozess der zunehmen¬den Individualisierung für die Gesellschaft hat. Gleichzeitig versucht er Antworten auf die Frage nach möglichen Ordnungsprinzipien in einer modernen, individualistisch ausgerichteten Gesellschaft zu finden. Das Konzept der Individualität und der ihr von der Gesellschaft beigemessene Stellenwert stehen im Zentrum seiner Analyse. Dieses Konzept bildet das Fundament für eine mögliche Neuorientierung und gleichzeitig dient es als Bewertungsmaßstab für ein gesell¬schaftliches Ordnungsprinzip.
Schuhmann behandelt in seiner Studie die Konzeptionen von Individualität bei Marquis de Sade, Max Stirner und Friedrich Nietzsche. Dabei wird erstmalig in kompakter Form die Individualitätsphilosophie dieser drei Denker, deren Bedeutung für die Sozialwissenschaft von der Forschung bislang weitgehend ignoriert wurde, dargestellt und miteinander konfrontiert. Alle drei haben sich in ihren Schriften eingehend mit den Fragen der Individualität und der Stellung des Individuums bzw. der Person innerhalb des Kollektivs beschäftigt.
Stirner nimmt das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft als eine Konfliktsituation wahr und propagiert in seinem Werk einen radikalen Individualismus bzw. Egoismus. Auch de Sade spricht sich für eine unbedingte Bejahung der Individualität in Form eines entfesselten Individualismus aus und dies sowohl in Gedankenexperimenten als auch in konkreten Gesellschaftsutopien (wie z.B. in seiner frühsozialistischen Inselutopie Tamoe in seinem philosophischen Roman „Aline et Valcour"). Nietzsche, der ebenfalls stets dem Individuum gegenüber dem Kollektiv den Vorrang gegeben hat, scheint in seinem Werk bei der Suche nach einem Ausweg aus dem Nihilismus zwischen der Bejahung der Entwicklung und der Suche nach einer metaphysischen Begründung für diese neue Form der Individualität zu schwanken.
Während in den aktuellen Diskursen die Tendenzen zur sozialen Atomisierung und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft vorrangig als Verlust betrachtet werden, bejahen die drei Denker den Prozess der Individualisierung. Jedoch findet bei ihnen ein Austausch des Gesellschaftsprinzips statt. An Stelle einer metaphysischen Begründung der Gesellschaft vertreten die drei Denker ein Konzept, das auf der Nützlichkeitserwägung und der Ethik des freien und autonomen Individuums beruht. Im Gegensatz zum klassischen Liberalismus sprechen sie sich jedoch nicht unbedingt für ein rein ökonomisch ausgerichtetes Wesen aus, sondern sie meinen ein durchaus gesellschaftsbezogenes Individuum.
Gemeinsam ist den drei Denkern eine libertäre Sicht hinsichtlich der Basis des gesellschaftlichen Lebens. Weder Staat, noch Gesetz oder Religion, ja nicht einmal eine gemeinsame Sprache, akzeptieren sie als Grundlage des gesellschaftlichen Lebens. Ihr Konzept von Gesellschaft leitet sich nicht von einem von außen vorbestimmten Ideal ab, sondern orientiert sich an dem wertneutral verwendeten Begriff des Egoismus. Dieser darf nicht mit einem a-sozialen Egoismus verwechselt werden. Vielmehr bildet dieser Egoismus ein Fundament, auf dem sich gesellschaftlicher Pluralismus mit einer individual-ethischen Kompo¬nente frei entfalten kann.
Aus den Erkenntnissen seiner Untersuchung der Konzeptionen von Individualität bei de Sade, Stirner und Nietzsche versucht Schuhmann im abschließenden Teil seiner Arbeit Impulse für den aktuellen Diskurs über die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft abzuleiten. Er leistet damit einen wertvollen Beitrag zur Entwicklung eines modernen Konzeptes von „Individualität", das nicht nur den heutigen sozialen, kulturellen und politischen Rahmenbedingungen Rechnung zu tragen versucht, sondern das auch eine erfrischend libertäre Perspektive aufweist. Das macht seine Arbeit zu einer ausgesprochen spannenden Lektüre, die dazu anregt, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft neu zu durchdenken und die Diskussion über alternative gesellschaftliche Ordnungssysteme aufzunehmen, die sowohl der freien Entfaltung des Individuums als auch der Begründung und Aufrechterhaltung von Gesellschaft dienlich sind.
Jochen Schmück,
Potsdam, im März 2012
INHALT
Vorwort [VII]
Editorische Notiz [VIII]
Gerhard Senft: "La propriété est impossible..." - Pierre-Joseph Proudhons Problematisierung der Eigentumsordnung [IX]
PIERRE-JOSEPH PROUDHON: THEORIE DES EIGENTUMS [XXIII]
Mitteilung an den Leser [XXIV]
ERSTES KAPITEL - EINFÜHRUNG [1]
§ 1. - Von den verschiedenen Arten, das Wort Eigentum zu verstehen. [1]
§ 2. - Zusammenfassung meiner früheren Arbeiten über das Eigentum. [12]
ZWEITES KAPITEL [53]
Darüber, daß das Eigentum absolut ist: ein dem Absolutismus ungünstiges Vorurteil.
DRITTES KAPITEL [60]
Verschiedene Arten, den Boden zu besitzen: in Gemeinschaft, im feudalen System, unabhängig bzw. als Eigentum. - Untersuchung der beiden ersten Arten: Ablehnung.
VIERTES KAPITEL [72]
Die Meinung der Juristen über Ursprung und Grundlage des Eigentums: Widerlegung dieser Meinungen.
FÜNFTES KAPITEL [80]
Ein historischer Blick auf das Eigentum: Ursachen seiner schwankenden Erscheinungsformen, seiner Veränderungen, seiner vielerlei Arten von Mißbrauch und Verfall; es hat nirgends in der Fülle seines wahren Wesens, in Übereinstimmung mit dem Wunsch der Gesellschaft und in vollständiger Kenntnis seiner selbst existiert.
SECHSTES KAPITEL [96]
Neue Theorie: daß die Beweggründe, folglich die Legitimität des Eigentums nicht in seinem Ursprung bzw. seinem Anfang, sondern in seinen Zwecken zu suchen sind. Darlegung dieser Beweggründe.
§ 1. - Notwendigkeit, nach Organisierung des Staates in der Freiheit eines jeden Bürgers ein Gegengewicht zum Staat zu schaffen. Föderalistischer und republikanischer Charakter des Eigentums. Bemerkungen zu Wahlzensus und Vermögenseinziehung. [98]
§ 2. - Verzicht auf jede Art von regelndem Gesetz, was Besitz, Produktion, Zirkulation und Konsum von Sachen angeht. Analogien der Liebe und der Kunst. Mobilisierung der Immobilie. Wesen des wahren Eigentümers.[115]
SIEBENTES KAPITEL [127]
Ausbalancierung des Eigentums. System von Garantien.
§ 1. - Einwirkung des Eigentums auf sich selbst. [130]
§ 2. - Ein System von Garantien; Einfluß der Institutionen. [132]
ACHTES KAPITEL [146]
Die Kritik des Verfassers - gerechtfertigt.
NEUNTES KAPITEL [161]
Zusammenfassung des vorliegenden Buches.
Nachtrag zu S. 158, Anm. 182. [181]
ANHANG [183]
Übersetzung fremdsprachiger Zitate und Bezeichnungen, die nicht bereits im Text bzw. in Anmerkungen übersetzt sind.
Personen- und Sachregister [184]