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Version vom 22. August 2014, 18:21 Uhr

Lexikon der Anarchie: Personen


Josef Bovshover (jiddisch יוסף באָװשאָװער, geb.1872 in Mogilev, Weißrussland; gest. 1915 in Poughkeepsie, USA); Jiddischer Dichter.

Josef Bovshover (1872-1915)


Leben

In der alten Heimat

Josef Bovshover wurde am jüdischen Feiertag Jom Kippur im Jahr 1872 in Libovitsh (evtl. Lyubizh), einer Stadt in der Nähe von Mahiljou (jidd.transkr. und ältere dt. Schreibweise: Mogilev), Weißrussland, als eines von sieben Kindern geboren. Er stammte aus einer sehr feinen Mischpoke; seine Vorfahren mütterlicherseits waren Kantoren und gelehrte Talmudisten, die Vorfahren väterlicherseits Geschäftsleute. Der Vater war ein großer Gelehrter, ein frommer Jude aus vollem Herzen, ein wohltätiger und spendierfreudiger Mann, aber er war auch, nach den Worten Mikhal Kohns, dem Herausgeber der Gesammelten Werke, ein religiöser Fanatiker, der seine Kinder streng orthodox erzog. Gerne hätte der Vater aus seinem Sohn einen religiösen Gelehrten gemacht, doch zum Leidwesen seiner Eltern schlug dieser einen anderen Weg ein. Der junge Bovshover verbrachte viel Zeit in der Natur, wo er sich mitunter den ganzen Tag alleine aufhielt und von wo er erst spät abends nach Hause kam. Im Alter von ungefähr 16 Jahren zog Bovshover nach Riga und begann als Laufbursche für ein großes Mehl-Geschäft zu arbeiten. Ein Bekannter, der ihn zu dieser Zeit in Riga traf, schrieb über ihn: „Er muss sechzehn gewesen sein und arbeitete als Laufbursche für ein großes Mehl Geschäft. Der schwere Korb mit Mehl Säcken nahm nicht das liebe, kindliche Lächeln vom Gesicht des Jungen mit dem hübschen Kopf, der mit schwarzen und gekräuselten Haar deutlich aus den mit Mehl beschattenen armen Kleidern herausstach.“[1] Für Bovshover waren die Jahre in Riga lehrreich in vielerlei Hinsicht, denn hier erlernt er die deutsche Sprache, vor allem mit Hilfe der deutschen Literatur.

Erste Schritte in Amerika

Im Oktober 1891 wanderte Bovshover in die Vereinigten Staaten von Amerika aus, wo bereits zwei seiner älteren Brüder lebten. Sie alle zählen zu einer großen Welle jüdischer Emigrantinnen und Emigranten, die ab den frühen 1880er Jahren aus Osteuropa flüchteten. Die Verelendung der ostjüdischen Massen und die oftmals staatlich initiierten antijüdischen Pogrome waren hierfür entscheidende Gründe. In New York landete Bovshover, wie so viele osteuropäische Einwanderer und Einwanderinnen, in einem der berüchtigten Sweatshops der Textilindustrie, wo ihm Bekannte einen Job als Futter-Macher besorgten hatten, der ein wenig besser bezahlt war als die Tätigkeit eines normalen Schneiders. Der Lohn eines Schneiders betrug zwischen sieben und acht Dollar pro Woche, ein Futter-Macher verdiente bis zu vier Dollar mehr. Die Arbeitsbedingungen waren allerdings so schlecht, dass Bovshover dort nicht lange beschäftigt war. Angeblich verlor er den Job als Futter-Macher, weil er sich angewöhnt hatte, den Mitarbeitern seine revolutionären Lieder vorzutragen. Nach der Kündigung eröffnete einer seiner Brüder für Bovshover ein kleines Geschäft, in dem Bovshover seine Erfahrung aus dem Mehlgeschäft einbringen konnte. Aber der Versuch scheiterte, denn Bovshover mangelte es an Geschäftssinn und Engagement.

Als Bovshover 1891 in den Vereinigten Staaten von Amerika eintraf, strömten große Teile der jüdischen Arbeiterschaft in die Sozialistische Arbeiterpartei (SLP) unter der Leitung von Daniel DeLeon. Diese erfolgreiche Mobilisierung gelang durch die Organisation jiddischsprachiger Sektionen der SLP und später mit Hilfe der United Hebrew Trade (UHT), einer Dachgesellschaft verschiedener jüdisch-amerikanischer Gewerkschaften, die der SLP verpflichtet war. Befürworter anderer Ideen, wie die des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes aus Polen, Litauen und Russland (BUND) oder anarchistische Gruppierungen, wehrten sich gegen die Vereinnahmung des amerikanisch-jüdischen Proletariats durch die SLP. Deren erfolgreiche Agitation war beispielsweise einer der Gründe dafür, dass die anarchistische Bewegung in den 1890er Jahre einige Krisen erlebte, wie das Jahr 1892, in dem die Fraye arbeter shtime monatelang nicht erschien. Bovshover scheint ganz zu Beginn seiner Aufenthalts in den Vereinigten Staaten von Amerika nicht sonderlich an Politik interessiert gewesen zu sein, womit er ideologisch ganz auf der Linie der einwandernden Osteuropäerinnen und Osteuropäer lag, von denen heute Forscher wie Tony Michels annehmen, dass sich ihre Radikalität erst in ihren amerikanischen Jahren entwickelt hat. Bovshover war weder in Libovitsh noch in Riga ein politischer Aktivist gewesen, er wurde es erst in den USA. Auf eine bestimmte Ideologie war er damals nicht fixiert; so verkehrte er zwar mit Personen aus dem Umkreis der anarchistischen Fraye arbeter shtime, seine ersten Gedichte veröffentlichte er aber in der sozialdemokratische Arbeter tsaytung der SLP.


Erfolge

In den Jahren 1892 und 1893 arbeitete Bovshover eifrig an seinen jiddischen Gedichten während er, nach seinem anfänglichen Scheitern als Geschäftsmann und Futter-Macher, erneut Tätigkeiten im Textilgewerbe nachging. 1893 scheint er dann erstmalig mit seiner Poesie erfolgreich gewesen zu sein, denn sie wurde in der jiddischen Presse häufig gedruckt, wie in der Zeitschrift Arbeter fraynd, die in den Monaten März und April jede Woche ein Gedicht von ihm veröffentliche, der Arbeter tsaytung der SLP und der anarchistischen Fraye arbeter shtime. Einige der Gedichte, die Bovshover im Jahr 1893 produzierte, stehen im besonderen Gedenken an die gescheiterten deutsche Revolution des Jahres 1848, die für revolutionäre deutsch-amerikanische Gruppierungen in New York Anlass verschiedener Festivitäten war. An diesem Diskurs beteiligten sich auch viele der jüdischen Radikalen, die mit den deutschen Bewegungen oftmals eng verbunden waren. Im März 1893 entstanden die Gedichte Merts gedanken, Di ziftsende shtime, Tsum kempfer und im Herbst des Jahres das Gedicht Di kugl-giser, das ganz konkret die historische Ereignisse in Deutschland aufgreift.

Ohne Mäzen und eigenen Reichtum, in prekären Arbeitsverhältnissen, blieb Bovshover zeit seines jungen Lebens ein verarmter Dichter, der zwar innerhalb der jiddischsprachigen Welt ein wenig Aufmerksamkeit erfuhr, der aber ansonsten mit den gleichen Widrigkeiten zu kämpfen hatte, wie andere osteuropäische Arbeiterinnen und Arbeiter auch: hohe Arbeitszeiten, niedrige Löhne und schlechte Arbeits- und Lebensverhältnisse. Er verließ früh morgens sein Zimmer in Brooklyn zur Arbeit und kam spät abends erschöpft wieder nach Hause, wo er sich dann in sein Arbeitszimmer begab und an seinen Gedichten feilte. Im Jahr 1895 zog Bovshover nach New Haven, wo er für ein wenig Geld und ein Zimmer das Kleidergeschäft eines Freundes hütete, als Kellner arbeitete und Zeitungen austrug; er verlor den letzten Job, weil sich die Beschwerden mehrten, dass die Zeitung morgens ausbleibe. An der örtlichen Yale Universität besuchte er Kurse über Englisch und Literatur, was eine nachhaltige Wirkung auf sein literarisches Schaffen hatte, denn nachdem er gegen Ende des Jahres 1895 oder im Jahr 1896 wieder nach New York gezogen war, übersetzte er einige seiner jiddischen Gedichte ins Englische und schrieb erstmalig Gedichte in englischer Sprache. Obwohl sich Bovshover mit der Zeit ein beachtliches literarisches Können angeeignet hatte - er schrieb Gedichte, Satiren, Erzählungen, Essays, übersetzte Jiddisch, Englisch, Deutsch und Russisch und war journalistisch tätig -, lohnte sich das literarisches Schaffen für ihn nicht; und auch bekanntere jiddische Dichter wie Morris Rosenfeld oder David Edelstadt kamen nur über die Runden, wenn sie hauptsächlich einer anderen Tätigkeit nachgingen.

Ab dem Jahr 1896 begann Bovshover die Zusammenarbeit mit Benjamin R. Tucker und dessen anarchistischer Zeitung Liberty, für die Bovshover unter dem Pseudonym Basil Dal englische Gedichte entwarf. Die erste Veröffentlichung, das Gedicht To the Toilers, erschien am 7. März 1896 zusammen mit einer enthusiastische Lobpreisung auf den jungen Dichter vom Herausgeber des Blattes. Tucker, einer der wichtigsten Theoretiker des Individualanarchismus, muss als einer der großen Förderer des jiddischen Dichters gelten; allerdings gelang es ihm nicht, Bovshover in der englischen Presse oder unter englischen Literaturkritikern einen Namen zu machen, denn dafür war der Abstand zwischen dem Anarchisten Tucker und der bürgerlichen Welt und der zwischen einem jiddischen Literaten, der revolutionäre Lieder auf Englisch schrieb, und dem englischen Literaturbetrieb zu groß. Möglicherweise wirkte sich der persönliche Kontakt zu Tucker auf die ideologischen Anschauen Bovshovers insofern aus, dass bereits vorhandene anarchistische Ideen um individualanarchistische Entwürfe verfeinert wurden.

Krankheit und Tod

Ab den späten 1890er Jahren zeigt sich bei Bovshover eine geistige Krankeit, die Mitschuld am frühen Tod des Dichters hatte. Es fällt schwer, heute darüber eine Prognose abzugeben, aber Bovshover litt vielleicht an einer starken Depression, einer pathologischen Melancholie, die ihn passiv werden ließ und die ihn später zum Verstummen brachte. Emma Goldmann nennt den jiddischen Lyriker in ihrer Autobiographie Living my Life einen auffällig impulsiven Menschen. Vor allem nach seinem 26. Geburtstag hinterließ die Krankheit bei ihm auch äußerliche Spuren; seine linke Achsel begann weit herabzuhängen und die Rechte zog er unnatürlich stark hoch; den Kopf trug er immer tief zwischen die Schultern gezogen, sein Gesicht war aschfahl und seine Kleidung abgetragen und alt. Ab den späten 90er Jahren ging er keiner Tätigkeit mehr nach und war so auf die Wohltätigkeit seiner Freundinnen und Freunde und seiner Brüder, die in den Vereinigten Staaten von Amerika lebten, angewiesen. Diese nahmen den verelendeten Dichter zeitweise auf und erst als der Zustand des Dichters immer schlechter wurde und die in seiner Lyrik so oft besungenen schwarzen Wolken sich seines Verstandes vollends bemächtigten, musste er das Leben bei Verwandten, Freundinnen und Freunden mit einem Aufenthalt in einer Nervenheilanstalt eintauschen. Hier verbrachte er mehrere Jahre seines Lebens bis er am 20. oder 25. Dezember 1915 in einem Sanatorium in Poughkeepsie im Staat New York verstarb.


Werk

Gattungen und Einflüsse

Bovshover bevorzugte die Gattungen Lyrik und Epik, wobei das lyrische Werk mengenmäßig überwiegt. Bei seinen Gedichten handelt es sich vor allem, gemessen an inhaltlichen Kriterien, um soziale und politische Dichtung (Arbeiterlyrik); es finden sich aber auch Natur- und Liebesgedichte in seinem Œuvre. Seine Prosastücke sind vorwiegend kurz; es sind meistens phantasievolle Kurzgeschichten und biographische Skizzen mit gesellschaftskritischem Hintergrund.

Sein lyrischen Werk und seine Prosatexte lassen sich grob in zwei Phasen unterteilen, wobei es möglich ist diese Phasen an den Einflüssen durch anderen Autoren festzumachen. Noch vor seiner Zeit in Amerika ist es vor allem die deutsche Poesie, die ihn beeinflusst hat, allen voran Heinrich Heine. Als er dann in die USA kommt, trifft er dort auf die drei Dichter Morris Rosenfeld, Morris Winchevsky und David Edelstadt. Diese drei Dichter, insbesondere Edelstadt, dienen ihm als Vorbild für seine eigenen Gedichte: er übernimmt Edelstadts Themen und oftmals sogar die Titel seiner Gedichte. Ein sehr wichtiges Motiv der Gedichte sind „Tränen“, das alle der genannten Dichter häufig gebrauchen. Die vier Dichter sind als „Sweatshop Poets“ bekannt, doch sie lassen sich auch als „Tränen Dichter“ bezeichnen.

In der zweiten Periode, die sich graduell entwickelt und nicht scharf von der ersten abgrenzen lässt, machen sich vor allem die Einflüsse von Walt Whitman, Edwin Markham und Ralph Waldo Emerson bemerkbar. Unter der Wirkung von Emerson und Whitman schreibt Bovshover Gedichte, die sich, ganz im Stil der Transzendentalisten, an die Natur und das Weltall richten. Bovshover kommt ihnen sogar so nahe, dass er beginnt, sich von seinem großen Helden Heinrich Heine zu lösen. Er sagt: „Der allgemeine Eindruck, den Heine auf die Jugend macht, ist kein ganz gesunder“. Die Lieder Emersons machen auf Bovshover dagegen einen „sehr gesunden Eindruck“ und auch das Werk Emersons ist „sehr gesund“[2].

Heine und Edelstadt

Ein Freund aus Riga erklärte einmal wie Bovshover die deutsche Sprache erlernte (transkr.): „Nit lernendik keyn deytsh […] gekent oyzvendig zayn heyne“ [3]. Bovshover konnte bereits in jungen Jahren Gedichte von Heinrich Heine auswendig. Der große Einfluss Heines auf Bovshover, nicht nur auf dessen Spracherwerb, sondern auch auf dessen Poesie, ist an den Gedichten auf inhaltlicher und auf formaler Ebene nachvollziehbar. So in dem 36 Strophen á 4 Verse langen Gedicht Likht un shatten, in dem sich das Ich in der zweiten Strophe an Heine erinnert, der dann plötzlich in Strophe sieben leibhaftig erscheint. Dann entfaltet sich bis zum Ende des Gedichts ein monologisches Sprechen von Heine, der Ereignisse nach seinem Tod kommentiert. In Strophe 19 reflektiert er beispielsweise den Skandal um die Errichtung des Denkmals zu seinem hundertsten Geburtstag (1897), das wegen einer antisemitischen Hetzkampagne gegen den jüdischen Dichter weder in Düsseldorf, Mainz oder Frankfurt, sondern in der amerikanischen Stadt New York, im Stadtteil Bronx errichtet wurde:

Man hat mir zu Ehren ein Denkmal gemacht,
die Loreley sitzt auf ihm oben,
sie wollen es aber in Düsseldorf nicht,
ich denk mir, das kommt durch meinen Glauben. [4]

David Edelstadt, der populärste anarchistische jiddische Dichter seiner Zeit, ist ein weiterer wichtiger Autor, ohne den die Dichtung von Bovshover nicht denkbar wäre. Gemeinsam begründen sie eine beachtenswerte anarchistische Tradition in der neuen jiddischen Literatur. Darin zählen beide zu einer größeren Gruppe an Lyrikerinnen und Lyrikern, die aufgrund ihrer sozialen und politischen Dichtung, sowie ihrer proletarischen Herkunft, als „sweatshop poets“ (dt.: Schwitzbuden-Dichter) angesprochen werden. Diese literarische Bewegung war aufgespalten in ideologische Lager, zuerst dem anarchistischen und sozialistischen, später auch dem sozialistisch-zionistischen Lager. Neben Freiheits- und Naturdichtung, verfassten sie vor allem soziale Gedichte. Die politische Lyrik von Edelstadt lässt sich als proletarisch-revolutionär klassifizieren, in denen anarchistische Positionen manchmal ganz offen zu Tage treten, wie in dem programmatischen Gedicht Anarkhie (Strophe 1):

Eine Welt ohne Herrschaft, ohne Ketten, ohne Tränen,
eine Welt voller Liebe und Harmonie,
wo des Einen Glück wird des Zweiten nicht stören,
das ist Anarchie.[5]

Als Edelstadt am 17. Oktober 1892 an Schwindsucht starb, einer für die arbeitende Klasse damals typischen Krankheit, war Bovshover tief bewegt und schrieb noch am gleichen Tag die Elegie Tsum andenken fun david edelshtat. Das Gedicht zeigt die enge Verbindung der beiden anarchistischen Dichter zueinander; es leitet die gesammelten Werke Edelstats folks-gedikhte ein (Strophe 27, 28 u. 29):


Edelstadt! Du bist gestorben,
fühlst nicht mehr den Weltenschmerz,
doch dein Tod, der hat verwundet,
schrecklich, schrecklich mir mein Herz.
Bist gestorben, doch ich tröst mich,
denn es lebt dein großer Geist,
wenn ich deine Lieder singe,
wird es für mich sein der Trost.
Und ich weiß die Zeit wird kommen,
mit dem freiheitsvollen Glanz,
dann wird jeder niederlegen,
auf deinem Grab einen Blumenkranz.
17ter Oktober, 1892.[6]

Stellung zur Religion

Bovshovers Haltung zu Religion veränderte sich mit der Zeit und lässt unterschiedliche interpretatorische Ansätze zu. Im Frühwerk finden sich verschiedene antireligiöse Gedichte, aber auch solche mit biblische Themen und Motiven. Das Spätwerk Bovshovers enthält dagegegn keine antireligiösen Gedichte mehr.

Die antireligiösen Tendenzen in den frühen Gedichten entsprechen einer gegen Ende des 19. Jahrhunderts typischen Haltung innerhalb der anarchistischen Bewegung. So veranstalteten jüdisch-anarchistische Aktivisten in New York antireligiöse Jom Kippur-Bälle. Am Tag der Versöhnung, an dem jüdische Gläubige fasten und beten, veranstalteten anarchistische Gruppen ein rauschendes säkulares Fest, um ihrem Atheismus besonderen Ausdruck zu verleihen. Auf den Bällen sprachen beispielsweise Johann Most, Johanna Greie oder Saul Yanovsky. Ab dem 20ten Jahrhundert überwog jedoch der Wille zur religiösen Toleranz und Integration innerhalb der jüdisch-anarchistischen Bewegung in den Vereinigten Staaten von Amerika.

Die in Bovshovers Frühwerk geäußerte Kritik enthält ideologische Komponenten, mag aber auch persönbliche Gründe haben. Mikhal Kohn verweist mehrfach auf die strenge religiöse Erziehung durch den Vater, woraus sich biographisch eine Verbindung zu Bovshovers starker Abneigung gegen Religion ableiten ließe. Daneben stehen die ideologischen Komponenten seiner Negation ganz im Einklang mit der grundsätzlichen libertären Forderung nach Gleichheit und Herrschaftslosigkeit. Der Glauben, so appelliert das Ich im Gedicht Tsum gloybigen, steht allein im Dienst der Herrschaft, des Stricks und der Ketten. Das Gedicht Lebt in frieden zelebriert einen ganzen Kanon libertärer Ideale, darunter auch die drei Verse:

Keinen Gott und keinen Thron,
ja, es darf kein Oben
und es darf kein Unten geben.

Die antireligiösen Tendenzen der frühen Gedichte zielen ebenso auf die Institutionen der Weltreligionen und deren Vertreter ab. In A monolog fun der dumhayt spricht das Ich als Dummheit über seine Geschäftigkeit für die christlichen Kirchen im Kopf des Proletariats. Dort erzeugt es einen schwarzen Schleier, den die verblendeten Gläubigen ausräumen müssen, um wieder klar zu sehen.

Auf der anderen Seite schrieb Bovshover das an das alte Testament angelehnte dramatische Gedicht Tsvey veltn, in dem sich Abraham und sein Vater Terach um die Darstellung Gottes streiten. Samuel Malts interpretierte in der Dezember Ausgabe der Fraye arbeter shtime 1973 das dramatische Gedicht als Suche des Dichters nach einem gerechten Glauben.[7]

Im Spätwerk Bovshovers finden sich keine antireligiösen Gedichte mehr. Möglicherweise ist dieser Sinneswandel eine Folge seiner Rezeption amerikanischer Transzendetalisten, womöglich aber auch eine Rückbesinnung auf die eigene jüdische Kultur.

Gedichte

März Gedanken

Wenn ich so stehe am Meer bei Nacht,
in Weh versunken, stumm, betracht,
und hör die stillen Wellen rauschen,
dann seuftz ich, wein und stöhne aus:
So schläft die Freiheit auf der Welt,
erstickt von Räubern, Knecht und Geld,
so seufzt und stöhnt sie wie das Meer,
voll tiefem Schmerz, voll Weh, voll Gram.
Wenn ich ein Rinnsal seh beim Meer klein,
und neben ihm ein Felsenstein,
der lässt es nicht ins Meer hinein,
dann schrei ich aus mit Schmerz mit Pein:
das Rinnsal, ach, bin ich, bin ich,
zum Meer der Freiheit zieht es mich,
doch Weh! Eine starke Wand verstellt den Weg,
gebaut von unserer Herrscherwelt.
Wenn ich den Donner sehe mit wildem Krach,
zerspaltet den Stein und macht ihn flach,
zerschneidet seine Härte, wie eine Säge,
und macht dem Rinnsal frei den Weg,
dann werde ich mutig, stark und dreist,
sogleich wacht auf mein Freiheitsgeist,
und tief begeistert ruf ich aus, schrei:
Revolution! Du machst mich frei!


Lebt in Frieden

Frieden auf der ganzen Erde,
Gleichheit für die ganze Welt !
Freunde, lebt, wie euch gefällt,
ohne Schwindel, ohne Geld,
ohne Henker, ohne Schwert.
König, Bauer, Sklave, Knecht,
jeder hat das gleiche Recht.
Keinen Gott und keinen Thron,
ja, es darf kein Oben
und es darf kein Unten geben.
Was man darf, soll jeder tun,
wie der Bauer so der König
Welcher Mensch wär dann noch wenig?

Mikhal Kohn über Josef Bovshover

Die Seelen der wahren Poeten entsprechen besonders dem anarchistischen Ideal, schon allein deshalb, weil sie sich weniger als andere an die Vorstellungen eines äußeren Gesetzes und an befehlende Autorität anzupassen vermögen. Sie blicken hinweg über die künstlichen Grenzen, über welche der gewöhnliche „Spießbürger“ schreibend nie hinwegkommt. Der Geist eines Poeten lässt sich weder an die vergangenen Traditionen noch an die gegenwärtige Verlogenheit fesseln. Seine Augen sind die eines Propheten, eines Sehers, der mit seinem Adlerblick tief in die Zukunft schaut und die Unvermeidlichkeit einer idealen Gesellschaft vorhersagt, in der es weder Sklaven noch Herren geben wird. Durch die schwarzen Wolken der Gegenwart sehen sie den Regenbogen, der eines Morgens erstrahlt.[8]

Bibliographie

Bibliographie der Einzelausgaben

  • Bilder un gedanken. London: "Arbayter fraynd" drukeray, 1900
  • Poetishe Verke. London: Aroysgegeben fun der gruppe „Frayhayt“, 1903
  • Lieder un gedikhte. London: L. Fridman, 1907
  • Bilder un gedanken. London: L. Fridman, 1907
  • Gezamelte shriften. Poezy un proza, New York: Fraye arbayter shtime,1911
  • Geklibene lider. mit einem Vorwort von Sh. Agurski, Petrograd: Tsentraler yidisher komisaryat, 1918
  • To the toilers and other verses. mit einer Danksagung von Benj. R. Tucker, New York: Oriole Press, 1928
  • Lider. hrsg. von: I. Fefer und E. Fininberg, Kiev: Kultur-lige, 1930
  • Geklibene lider. Yoysef Bovshover, Moskau/Minsk: Tsentraler felker-farlag fun F.S.S.R, Vaysrusishe optaylung,1931
  • Lider un dertseylungen. Kiev: Melukhe-farlag far di natsyonale minderhaytn in USSR, 1939

Übersetzungen von Bovshover

  • Shakespeare, William: Shaylok, oder, Der koyfman fun venedik. übers. von Josef Bovshover, New York: Hibru pablishing kompani, 1899
  • Green Ingersol, Robert: Farbrekhens gegen farbrekher. übers. von Josef Bovshover, New York: Fraye publishing asosieyshon, 1903
  • Möglicherweise hat Bovshover auch Faust von Goethe ins Jiddische übersetzt.

Anthologien

  • Bassin, Morris (Hrsg.): Antologye. Finfhundert johr yidishe poezie, Bd. 2, 2. Aufl., New York: Dos bukh, 1917
  • N.B. Minkov (Hrsg.): Pionern fun yidisher poezie in amerike. Dos sotsiale lid, Bd. 1, New York: Grenich Printing Coorporation, 1956

Biograpien

  • Marmor, Kalmon: Yosef Bovshover. New York: The Kalmann Marmor Jubilee Commitee, 1952

Quellen

  • Bovshover, Josef: Gezamelte shriftn. Poezy und proza, New York: Fraye Arbayter Shtime, 1911
  • Kohn, Mikhal: J. Bovshover. Zayn leben un zayn verk, in: Josef Bovshover: Gezamlte shriftn. Poezy und proza, New York: Fraye Arbeter Shtime, 1911, S. III – XXVII
  • Malts, Samuel: Der troymerisher kemper-poet, in: Fraye arbeter shtime. Vol.3008 (Dezember 1973), New York: Free Voice of Labour Association, 1973.
  • Marmor, Kalmon: Yosef Bovshover. New York: The Kalmann Marmor Jubilee Commitee, 1952
  • Michels, Tony: A Fire in their Hearts. Yiddish Socialists in New York, Harvard: UP, 2005

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Weblinks


Anmerkungen

  1. Marmor, S.10
  2. Kalmon, S. 49
  3. Marmor, S. 10
  4. Bovshover, S. 69
  5. Edelshat, S. 142
  6. Bovshover, S. 56
  7. Malts, S. 4
  8. Kohn, S. XV

Autor: Marcel Gruber



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