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Christian Sigrist - Gedenkseite: Unterschied zwischen den Versionen

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Redaktion [http://graswurzel.net Graswurzelrevolution]<br>
 
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Münster, 3. März 2015
 
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==Nachruf auf Ute und Christian Sigrist von Wolf-Dieter Narr==
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[[Datei:9783434462163_Sigrist_Regulierte_Anarchie.png|thumb|left|300px|Buchcover der letzten (4. erweiterten) Ausgabe von Christian Sigrists Studie "[http://www.alibro.de/product_info.php/info/p5109_Regulierte-Anarchie.html Regulierte Anarchie]", Münster 2010.]]
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Am Anfang ist der gleiche Rang. Er ist gleich am Ende. Und bleibt. Wie lebendige Erinnerung - so Menschen gleich empfinden. Also verbindet den Nach- ein gleichrangiger Vorruf auf das im Leben kaum getrennte, verschieden zusammen gewachsene Paar, Ute und Christian. Und also begrenzt und überwindet den Tod die dauernde Aufgabe, täglich zu erneuern, anarchisch zu leben: dem gelebten gleichen Rang unter den auf diese Weise identisch werdenden ungleichen Menschen in ihrer schwankenden Vielfalt. Hyperions Schicksals-Lied endet mit dieser Botschaft und hebt desgleichen an.
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Wie kann Christians Tod erinnert werden? Seinem, Ohnmacht schaffenden Sturz hätte Ute, die zarte, die zähe, die immer präsente, fallend gewehrt. Sie war freilich wenig zuvor von Christian und Freunden ihrerseits verabschiedet worden. Das Gedicht, in Ute Person geworden.
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Über Christian kann man sich mit ihm jetzt nicht mehr austauschen, selbst gesprächsmunter, wie er lebte, lebte er wie Kropotkin, Marcel Mauss und andere, die den Beginn des gesellschaftlichen Umgangs als Gabe-Beziehung ausgemacht haben. Darum zählt "Feldforschung" im Umgang mit Anderen, mit Fremden naher Erkundung an erster Stelle. Sie wurde von Christian zuerst in Afghanistan mitlebend erprobt. Dürfte ein an-archisch Lebender segmentäre Andersartigkeiten, andere Kulturen und ihre Umgangsformen anders als an sich selbst zu Wort kommen lassen? Als existenziell Anderes, als darum Besonderes und Individuelles. Deshalb gilt, was Goethe an Lavater, den Physiognomiker, geschrieben hat: "Kennst du schon das große Wort, individuum est ineffabile." Das Individuelle kann man nicht identifizieren. Unter den vor-politischen Spezifika zählen die Mit- und Zusammenerlebnisse.
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Mikrologische Einzelheiten und Feinheiten ohne entsprechende gesellschaftliche Zusammenhänge waren Christians Sache nicht über bedeutsam feine institutionelle Muster hinaus. Gleichheiten inmitten immer präsenter, auch gefährlicher Ungleichheiten. Darüber hat Christian Sigrist in einem mit Dieter Haller geführten Interview 2011, mich mitlehrend, Auskunft gegeben. Die Frage, "wie alles anfing", hat er zunächst mit einer informationsreich ausgeführten Antwort versehen: "Mein Anfang war wirklich pluriethnisch."
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Kund wird in dieser Antwort, warum Freundschaft und fachliche Nähe, wichtiger noch der durchgängige, jede Herrschaft umkrempelnde Elan mit ebenso überall prägenden herrschafts- und staatskritischen Absichten und Verhaltensweisen erst spät Freundschaft formten. Im Unterschied zur landschaftlichen Nähe wuchs der trauernde Berichterstatter, mitten in der nazistischen Gefahr, wie ein zwei Jahre jüngerer Bruder Christians ethnisch, soweit überhaupt möglich, schwäbisch homogen, ja der herrschen Ideologie und ihrer tödlichen diskriminierenden Praxis zu so etwas wie einem naziherrschaftlich behüteten Nazi-Kind heran. Der Bruch erfolgte erst und allmählich. Lange nach 1945. Dann aber fundamental. Ob, und wenn ja, welche Differenzen bei dem erwachsenen Ethnologen und dem bald unwilligen Politologen festzustellen sind, bleibe dahin gestellt. Habituell hält sie seit den sechziger Jahren die nur in Akzenten verschieden vertretene Anarchie als gesellschaftskritisches Muster nötiger nichtherrschaftlicher Gleichheit zusammen. Afghanistan und die Kritik westlich imprägnierter, im Sinne von Edward W. Said kolonial zivilisatorisch geprägter, westlich imperialer Welt.
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Nach seiner Freiburger Dissertation beim ungewöhnlichen Nachkriegssoziologen Heinrich Popitz, nachdem Sigrist sich vom Heidelberger Wilhelm Mühlmann u. a. infolge von dessen aufgedeckter Vergangenheit überworfen hatte, vertrat Christian bald den Lehrstuhl Ralf Dahrendorfs in Konstanz. Das waren die Jahre Ende Sechzig, Anfang Siebzig, da wir uns näher kamen. Er, von seinen jahrlangen afghanischen Erfahrungen, angeregt von der Lebensweise "seiner" Pashtunen, erhellte mit einer von weither und fremd hergeholten Fackel gänzlich anderer, europäisch abgelehnter und systemisch gefährdeter Lebensweise koloniale, in der BRD erst postfaschistisch gelernte, kapitalistisch prätentiöse Liberalität. Seinerzeit griff Sigrist Dahrendorfs dürftig belegte These im von ihm mit herausgegebenen Europäischen Archiv für Soziologie als unhistorisch, belegarm und falsch an. Dahrendorf, der von Gesellschaft pauschal behauptete, sie sei "eine ärgerliche Tatsache" (im Homo Sociologicus), suchte sie aus dürftiger US-amerikanischer Quelle in ewiger, vom "Westen" und seiner kapitalistisch etatistisch formierten "Modernisierungstheorie" und ihren "Werten" zu begründen ("Amba und Amerikaner. Bemerkungen zur These der Universalität von Herrschaft", 1964). Ohne dass Sigrist die eigene opportune Chance an der Uni Konstanz wahrgenommen hätte, sich universitär zu etablieren, begründete er seine herrschaftsfreien Gesellschaften aus verallgemeinerter teilnehmender Beobachtung. Damit behauptete er nicht, Herrschaftsfreiheit unter frühen Gesellschaften sei durchgehend gegeben. Eine solche herrschaftsfreie Vergesellschaftung unterstellte er nie. Wohl aber nahm er an, nicht hierarchisch, nicht kapitalistisch in einem fort zementierte Formen der Vergesellschaftung seien "segmentär" möglich, was Pierre Clastre "Staatsfeinde" genannt hat.
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Afghanistan - ich sehe immer noch Christians intensiven Blick und höre überzeugt seine überzeugende Sprache - war für ihn, von Popitz ermöglicht, das Tor zur "Feldforschung", das er allenfalls alters- und umständebedingt nicht mehr durchschritt. Noch unsere letzten Unterhaltungen, die jahrelang um ein leider nicht verwirklichtes Vorhaben über Afghanistan in Geschichte und Gegenwart kreisten - von der Zeitschrift Dialectical Anthropology schon zugesagt -, kritisierten den mehrfachen, sowjetischen, US-amerikanischen und nicht zuletzt historisch und habituell tief verwurzelten wilhelminischen und bundesdeutsch vereinigten Imperialismus aus der Tiefe nicht nur Afghanistan geltender primärer Erfahrung. Sie reichte von der Opposition und Kritik an der Bundesrepublik, die reich war an Prügeln, sie Christian in den Weg zu werfen, bis zu intimen Kenntnissen von China. Vor allem galt sie seinen systematischen Interessen und Einsichten in die neuerlich weltweite Tendenz, die überall gegebenen Agrarfragen in kapitalistischer, dazuhin bauern- und frauenfeindlich zu beantworten.
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"Die Feldforschung war für mich eine prägende Erfahrung", berichtet Christian im oben genannten Interview im Gegensatz zu den meisten Akademikern, die sich in abstrakter Eitelkeit ihrer luftigen Kompetenzen rühmen. "Diese Zeit um 1967 war eine der schönsten Phasen meines Lebens. Ohne je eine Reitstunde in meinem Leben gehabt zu haben, ritt ich durch die Wüste und einen belebten Basar. Gleichzeitig war es auch eine sehr schwierige und gefährliche Zeit - in Zarauza (bei Urgun) gab es sogar Morddrohungen gegen mich. Damals wurde ich von einem bedeutenden Khan der Zadran als Ehrengast beherbergt und in die Tracht eines pashtunischen Kriegers gekleidet. Damals bereiste ich auch das afghanisch-deutsche Paktya-Projekt und schrieb eine Kritik dazu. Für mich war zu diesem Zeitpunkt schon ersichtlich, dass die Volksrepublik Afghanistan kommen würde, was viele jedoch nicht glauben wollten."
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Kein Leben, es sei denn, es wurde primär herrschaftlich erzwungen, ist gänzlich langweilig. Christians prickelnd vor lebendiger Spannung. Auch in den vergleichsweise ruhigen Perioden als unangepasster Ordinarius ethnologischer und soziologischer Zuspitzung. Allein die Zahl und Qualität ungewöhnlicher Dissertationen, seine selbstständigen Schülerrinnen und Schüler machen darauf aufmerksam. Dort, wo es studentenbewegt und konfliktreich zuging, mischte er am Rande von Disziplinarverfahren mit. Dort trat er "unmöglicher" Weise für angegriffene Leute ein, wo diese falsch - wie Ulrike Meinhof - oder überzogen belangt oder durch das "Berufsverbot" deutsche Konventionen fortsetzend repressiv "selektiert" (pardon für das nazibeliebte Fremdwort) und zugerichtet wurden. Allein das erwähnte politische Interesse, von der immer erneut gewaltsam, je mörderisch zugespitzten sog. Flüchtlingsfrage zu schweigen, steht dafür.
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Davon und von anderem mehr, auch die nötige, jedoch unterlassene oder in nutzlosem Streit endende Verbindung und habituelle Mischung von Marxismus und Anarchie, nicht zuletzt die Notwendigkeit human überschaubarer, in diesem Sinne zeitgenössischer segmentärer Gesellschaften, wird mit Christian Sigrists Gedanken, so hoffe ich, bald schon und kritisch die Rede sein. Gedanken und Kritik, verbunden mit der Intelligenz und dem Liebreiz von Ute.
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Quelle: [http://www.inkrit.de/argument/index.htm DAS ARGUMENT], Nr. 321 (erscheint im 2. Quartal 2015)
  
 
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==Christian Sigrist (1935-2015)==
 
==Christian Sigrist (1935-2015)==
[[Datei:9783434462163_Sigrist_Regulierte_Anarchie.png|thumb|left|300px|Buchcover der letzten (4. erweiterten) Ausgabe von Christian Sigrists Studie "[http://www.alibro.de/product_info.php/info/p5109_Regulierte-Anarchie.html Regulierte Anarchie]", Münster 2010.]]
 
  
 
Mitte Februar 2015 verstarb Christian Sigrist plötzlich infolge eines häuslichen Unfalls. Wir trauern um einen ungewöhnlichen Menschen, der immer wieder wichtige Impulse zu kritischem Denken gegeben hat, an dem sich sicher auch viele gerieben haben. Vor allem war Christian Sigrist ein Exponent radikaler kritischer Soziologie und Anthropologie. Dies kam vor allem in seiner konsequenten Kritik an Vorstellungen der Unvermeidlichkeit und Universalität der Herrschaft von Menschen über Menschen zum Ausdruck.
 
Mitte Februar 2015 verstarb Christian Sigrist plötzlich infolge eines häuslichen Unfalls. Wir trauern um einen ungewöhnlichen Menschen, der immer wieder wichtige Impulse zu kritischem Denken gegeben hat, an dem sich sicher auch viele gerieben haben. Vor allem war Christian Sigrist ein Exponent radikaler kritischer Soziologie und Anthropologie. Dies kam vor allem in seiner konsequenten Kritik an Vorstellungen der Unvermeidlichkeit und Universalität der Herrschaft von Menschen über Menschen zum Ausdruck.

Version vom 14. April 2015, 10:53 Uhr

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Christian Sigrist als Redner bei der Einweihung der Paul-Wulf-Skulptur "Münsters Geschichte von unten" am 5.9.2010 in Münster. Foto: Volker Pade (Freundeskreis Paul Wulf)

Christian Sigrist ist tot

Am 14. Februar 2015 ist in Münster der libertär-marxistische Ethnologe und Soziologe Christian Sigrist gestorben.

Christian Sigrist (geb. am 25. März 1935 in St. Blasien) promovierte 1965 mit einer Studie über Segmentäre Gesellschaften in Afrika und unternahm in der Folgezeit Feldforschungen in Afghanistan und Guiné-Bissau. Sigrists Forschung konzentrierte sich auf die Gebiete: Theorie der Übergangsgesellschaften, Befreiungsbewegungen, Agrar-, Rechts-, Entwicklungssoziologie, Anthropologie. Er veröffentlichte darüber hinaus zahlreichen Artikel und Reportagen zu Problemen der Dritten Welt.

Bekannt wurde Sigrist vor allem durch seine Studie "Regulierte Anarchie. Untersuchungen zum Fehlen und zur Entstehung politischer Herrschaft in segmentären Gesellschaften Afrikas", mit der er maßgeblich dazu beigetragen hat, dass die deutschsprachigen Anthropologie und Ethnologie in den 1960er und 1970er Jahren den Anschluss an die libertäre Schule der angloamerikanischen Social Anthropology gefunden hat.

Seit 1971 war Sigrist bis zu seiner Emeretierung im Jahr 2000 als Professor für Soziologie an der Universität in Münster tätig. Ab 1978 war er zudem als agrarsoziologischer Berater des kapverdischen Ministers für ländliche Entwicklung aktiv.

Wer seine Erinnerungen an Christian Sigrist mit uns teilen möchte, kann sie auf der Diskussions-Seite veröffentlichen. Wir übernehmen dann die Texte hier auf die Christian-Sigrist-Gedenkseite.

Falls jemand Probleme mit dem Schreiben auf der Diskussions-Seite haben sollte, der kann uns seinen Text und gerne auch Fotos zur Veröffentlichung auf der Gedenkseite per E-Mail schicken an: redaktion@dadaweb.de.

Jochen Schmück
Redaktion DadAWeb.de



Einladung zur Christian Sigrist-Gedenkveranstaltung

Liebe Freundinnen, Freunde und Weggefährten von Christian Sigrist,

hiermit lade ich Euch ganz herzlich zur Christian Sigrist-Gedenkveranstaltung ein. Die Feier findet am 15. Juni ab 18 Uhr in der Brücke (Wilmergasse, Münster) statt. Es würde mich sehr freuen, wenn Ihr kommt und Eure Erinnerungen an Christian mit uns teilt.

Damit ich einschätzen kann, wieviele Menschen ungefähr kommen, teilt mir bitte mit, ob Ihr teilnehmen wollt. Wenn Ihr einen Redebeitrag halten möchtet, teilt mir das bitte ebenfalls mit, damit ich das bei der Planung der Feier berücksichtigen kann.

Für den musikalischen Teil der Veranstaltung werden Nils Zurawski und Reinald Döbel sorgen, wie schon bei der sehr bewegenden Gedenkfeier für Ute Sigrist 2014.

Bis jetzt sind schon Nachrufe in der "jungen Welt", im "Freitag" und auf "iley" erschienen. Wolf-Dieter Narrs Nachruf auf Christian erscheint voraussichtlich im "Argument". Ich werde für die Graswurzelrevolution Nr. 398 einen Nachruf schreiben.

Es wäre schön, wenn Ihr Eure Nachrufe auf Christian, sowie Fotos und Erinnerungen an Jochen Schmück mailt, damit er die Texte und Bilder mit Quellenangabe [hier] auf der Gedenkseite veröffentlichen kann: [mailto: redaktion@dadaweb.de redaktion@dadaweb.de]

Christian wird am 16. April um 14 Uhr in Heidelberg beerdigt. Die Beerdigung wird auf Wunsch der Familie Sigrist im kleinen Kreis stattfinden.

Wir werden Christian nicht vergessen.

Alles Liebe,
Bernd Drücke
Redaktion Graswurzelrevolution
Münster, 3. März 2015



Nachruf auf Ute und Christian Sigrist von Wolf-Dieter Narr

Buchcover der letzten (4. erweiterten) Ausgabe von Christian Sigrists Studie "Regulierte Anarchie", Münster 2010.

Am Anfang ist der gleiche Rang. Er ist gleich am Ende. Und bleibt. Wie lebendige Erinnerung - so Menschen gleich empfinden. Also verbindet den Nach- ein gleichrangiger Vorruf auf das im Leben kaum getrennte, verschieden zusammen gewachsene Paar, Ute und Christian. Und also begrenzt und überwindet den Tod die dauernde Aufgabe, täglich zu erneuern, anarchisch zu leben: dem gelebten gleichen Rang unter den auf diese Weise identisch werdenden ungleichen Menschen in ihrer schwankenden Vielfalt. Hyperions Schicksals-Lied endet mit dieser Botschaft und hebt desgleichen an.

Wie kann Christians Tod erinnert werden? Seinem, Ohnmacht schaffenden Sturz hätte Ute, die zarte, die zähe, die immer präsente, fallend gewehrt. Sie war freilich wenig zuvor von Christian und Freunden ihrerseits verabschiedet worden. Das Gedicht, in Ute Person geworden.

Über Christian kann man sich mit ihm jetzt nicht mehr austauschen, selbst gesprächsmunter, wie er lebte, lebte er wie Kropotkin, Marcel Mauss und andere, die den Beginn des gesellschaftlichen Umgangs als Gabe-Beziehung ausgemacht haben. Darum zählt "Feldforschung" im Umgang mit Anderen, mit Fremden naher Erkundung an erster Stelle. Sie wurde von Christian zuerst in Afghanistan mitlebend erprobt. Dürfte ein an-archisch Lebender segmentäre Andersartigkeiten, andere Kulturen und ihre Umgangsformen anders als an sich selbst zu Wort kommen lassen? Als existenziell Anderes, als darum Besonderes und Individuelles. Deshalb gilt, was Goethe an Lavater, den Physiognomiker, geschrieben hat: "Kennst du schon das große Wort, individuum est ineffabile." Das Individuelle kann man nicht identifizieren. Unter den vor-politischen Spezifika zählen die Mit- und Zusammenerlebnisse.

Mikrologische Einzelheiten und Feinheiten ohne entsprechende gesellschaftliche Zusammenhänge waren Christians Sache nicht über bedeutsam feine institutionelle Muster hinaus. Gleichheiten inmitten immer präsenter, auch gefährlicher Ungleichheiten. Darüber hat Christian Sigrist in einem mit Dieter Haller geführten Interview 2011, mich mitlehrend, Auskunft gegeben. Die Frage, "wie alles anfing", hat er zunächst mit einer informationsreich ausgeführten Antwort versehen: "Mein Anfang war wirklich pluriethnisch."

Kund wird in dieser Antwort, warum Freundschaft und fachliche Nähe, wichtiger noch der durchgängige, jede Herrschaft umkrempelnde Elan mit ebenso überall prägenden herrschafts- und staatskritischen Absichten und Verhaltensweisen erst spät Freundschaft formten. Im Unterschied zur landschaftlichen Nähe wuchs der trauernde Berichterstatter, mitten in der nazistischen Gefahr, wie ein zwei Jahre jüngerer Bruder Christians ethnisch, soweit überhaupt möglich, schwäbisch homogen, ja der herrschen Ideologie und ihrer tödlichen diskriminierenden Praxis zu so etwas wie einem naziherrschaftlich behüteten Nazi-Kind heran. Der Bruch erfolgte erst und allmählich. Lange nach 1945. Dann aber fundamental. Ob, und wenn ja, welche Differenzen bei dem erwachsenen Ethnologen und dem bald unwilligen Politologen festzustellen sind, bleibe dahin gestellt. Habituell hält sie seit den sechziger Jahren die nur in Akzenten verschieden vertretene Anarchie als gesellschaftskritisches Muster nötiger nichtherrschaftlicher Gleichheit zusammen. Afghanistan und die Kritik westlich imprägnierter, im Sinne von Edward W. Said kolonial zivilisatorisch geprägter, westlich imperialer Welt.

Nach seiner Freiburger Dissertation beim ungewöhnlichen Nachkriegssoziologen Heinrich Popitz, nachdem Sigrist sich vom Heidelberger Wilhelm Mühlmann u. a. infolge von dessen aufgedeckter Vergangenheit überworfen hatte, vertrat Christian bald den Lehrstuhl Ralf Dahrendorfs in Konstanz. Das waren die Jahre Ende Sechzig, Anfang Siebzig, da wir uns näher kamen. Er, von seinen jahrlangen afghanischen Erfahrungen, angeregt von der Lebensweise "seiner" Pashtunen, erhellte mit einer von weither und fremd hergeholten Fackel gänzlich anderer, europäisch abgelehnter und systemisch gefährdeter Lebensweise koloniale, in der BRD erst postfaschistisch gelernte, kapitalistisch prätentiöse Liberalität. Seinerzeit griff Sigrist Dahrendorfs dürftig belegte These im von ihm mit herausgegebenen Europäischen Archiv für Soziologie als unhistorisch, belegarm und falsch an. Dahrendorf, der von Gesellschaft pauschal behauptete, sie sei "eine ärgerliche Tatsache" (im Homo Sociologicus), suchte sie aus dürftiger US-amerikanischer Quelle in ewiger, vom "Westen" und seiner kapitalistisch etatistisch formierten "Modernisierungstheorie" und ihren "Werten" zu begründen ("Amba und Amerikaner. Bemerkungen zur These der Universalität von Herrschaft", 1964). Ohne dass Sigrist die eigene opportune Chance an der Uni Konstanz wahrgenommen hätte, sich universitär zu etablieren, begründete er seine herrschaftsfreien Gesellschaften aus verallgemeinerter teilnehmender Beobachtung. Damit behauptete er nicht, Herrschaftsfreiheit unter frühen Gesellschaften sei durchgehend gegeben. Eine solche herrschaftsfreie Vergesellschaftung unterstellte er nie. Wohl aber nahm er an, nicht hierarchisch, nicht kapitalistisch in einem fort zementierte Formen der Vergesellschaftung seien "segmentär" möglich, was Pierre Clastre "Staatsfeinde" genannt hat.

Afghanistan - ich sehe immer noch Christians intensiven Blick und höre überzeugt seine überzeugende Sprache - war für ihn, von Popitz ermöglicht, das Tor zur "Feldforschung", das er allenfalls alters- und umständebedingt nicht mehr durchschritt. Noch unsere letzten Unterhaltungen, die jahrelang um ein leider nicht verwirklichtes Vorhaben über Afghanistan in Geschichte und Gegenwart kreisten - von der Zeitschrift Dialectical Anthropology schon zugesagt -, kritisierten den mehrfachen, sowjetischen, US-amerikanischen und nicht zuletzt historisch und habituell tief verwurzelten wilhelminischen und bundesdeutsch vereinigten Imperialismus aus der Tiefe nicht nur Afghanistan geltender primärer Erfahrung. Sie reichte von der Opposition und Kritik an der Bundesrepublik, die reich war an Prügeln, sie Christian in den Weg zu werfen, bis zu intimen Kenntnissen von China. Vor allem galt sie seinen systematischen Interessen und Einsichten in die neuerlich weltweite Tendenz, die überall gegebenen Agrarfragen in kapitalistischer, dazuhin bauern- und frauenfeindlich zu beantworten.

"Die Feldforschung war für mich eine prägende Erfahrung", berichtet Christian im oben genannten Interview im Gegensatz zu den meisten Akademikern, die sich in abstrakter Eitelkeit ihrer luftigen Kompetenzen rühmen. "Diese Zeit um 1967 war eine der schönsten Phasen meines Lebens. Ohne je eine Reitstunde in meinem Leben gehabt zu haben, ritt ich durch die Wüste und einen belebten Basar. Gleichzeitig war es auch eine sehr schwierige und gefährliche Zeit - in Zarauza (bei Urgun) gab es sogar Morddrohungen gegen mich. Damals wurde ich von einem bedeutenden Khan der Zadran als Ehrengast beherbergt und in die Tracht eines pashtunischen Kriegers gekleidet. Damals bereiste ich auch das afghanisch-deutsche Paktya-Projekt und schrieb eine Kritik dazu. Für mich war zu diesem Zeitpunkt schon ersichtlich, dass die Volksrepublik Afghanistan kommen würde, was viele jedoch nicht glauben wollten."

Kein Leben, es sei denn, es wurde primär herrschaftlich erzwungen, ist gänzlich langweilig. Christians prickelnd vor lebendiger Spannung. Auch in den vergleichsweise ruhigen Perioden als unangepasster Ordinarius ethnologischer und soziologischer Zuspitzung. Allein die Zahl und Qualität ungewöhnlicher Dissertationen, seine selbstständigen Schülerrinnen und Schüler machen darauf aufmerksam. Dort, wo es studentenbewegt und konfliktreich zuging, mischte er am Rande von Disziplinarverfahren mit. Dort trat er "unmöglicher" Weise für angegriffene Leute ein, wo diese falsch - wie Ulrike Meinhof - oder überzogen belangt oder durch das "Berufsverbot" deutsche Konventionen fortsetzend repressiv "selektiert" (pardon für das nazibeliebte Fremdwort) und zugerichtet wurden. Allein das erwähnte politische Interesse, von der immer erneut gewaltsam, je mörderisch zugespitzten sog. Flüchtlingsfrage zu schweigen, steht dafür.

Davon und von anderem mehr, auch die nötige, jedoch unterlassene oder in nutzlosem Streit endende Verbindung und habituelle Mischung von Marxismus und Anarchie, nicht zuletzt die Notwendigkeit human überschaubarer, in diesem Sinne zeitgenössischer segmentärer Gesellschaften, wird mit Christian Sigrists Gedanken, so hoffe ich, bald schon und kritisch die Rede sein. Gedanken und Kritik, verbunden mit der Intelligenz und dem Liebreiz von Ute.

Quelle: DAS ARGUMENT, Nr. 321 (erscheint im 2. Quartal 2015)



Christian Sigrist (1935-2015)

Mitte Februar 2015 verstarb Christian Sigrist plötzlich infolge eines häuslichen Unfalls. Wir trauern um einen ungewöhnlichen Menschen, der immer wieder wichtige Impulse zu kritischem Denken gegeben hat, an dem sich sicher auch viele gerieben haben. Vor allem war Christian Sigrist ein Exponent radikaler kritischer Soziologie und Anthropologie. Dies kam vor allem in seiner konsequenten Kritik an Vorstellungen der Unvermeidlichkeit und Universalität der Herrschaft von Menschen über Menschen zum Ausdruck.

Zutiefst geprägt durch die Erfahrung der Diskriminierung und existenziellen Gefährdung unter dem NS-Regime, verband Christian Sigrist seit seinen Studienjahren in Freiburg i.Br. die Leidenschaft für sozialwissenschaftliche Forschung und Theoriebildung mit einem politischen Engagement, das manche aus seinem Umkreis gelegentlich auch überforderte. Vor dem Hintergrund der Begegnung mit der social anthropology am Institut für Soziologie und Ethnologie in Heidelberg entstand seine Dissertation, zugleich sein opus magnum: Regulierte Anarchie. Den auf Émile Durkheim zurückgehenden theoretischen Ansatz verband Christian Sigrist mit der komparativen Analyse vorliegender Studien über akephale Gesellschaften, zumal in Afrika, die sich angesichts des Fehlens oder gar der bewussten Vermeidung einer Zentralinstanz als herrschaftsfrei erwiesen. Wie Sigrist später präzisierte, schloss dies deutliche Machtgefälle vor allem aufgrund der Geschlechterverhältnisse, aber auch entlang von Altersstufen, freilich nicht aus. Zunächst führte ihn die Frage nach der andauernden Realität solcher Verhältnisse nach Afghanistan und auf die Geheimnisse des paschtunischen Rechts- und Ehrenkodex, des Pashtunwali. Diese Forschung begründete eine lebenslange Faszination und ein persönliches Engagement.

Der Aufbruch der Student*innen-Bewegung versprach dann völlig neue Chancen der politischen und gesellschaftlichen Veränderung auch in der Bundesrepublik Deutschland. Auf das Scheitern des Versuchs, die ambivalenten Ansätze in Heidelberg in ein institutionalisiertes kritisches Wissenschaftsprogramm zu überführen, folgten die Berufung nach Münster im Jahr 1971 und intensive Auseinandersetzungen um Formen und Perspektiven einer linken Soziologie. Die praktische Kritik an Herrschaftsinstitutionen, die Unterstützung des Protests gegen einen faschistischen Professor in Bochum, die Teilnahme an der Kampagne gegen die Isolationshaft politischer Häftlinge und endlich das Insistieren, dass der Tod eines Prozessbeobachters in Duisburg während eines Polizeieinsatzes aufgeklärt werden müsse, führten zu Straf- und Disziplinarverfahren, die während seiner kreativsten Jahre Lebensfreude und Energie raubten. Dennoch nutzte er die Chancen, die der Sieg nationaler Befreiungsbewegungen vor allem in Guiné-Bissau und Kapverde ab 1974 zu bieten schien, um sich aktiv an den erhofften gesellschaftlichen Veränderungen zu beteiligen, vor allem an der Agrarreform in Kapverde. Nach dem Ende der sowjetischen Besetzung forschte Christian Sigrist wieder in Afghanistan. Daneben setzte er sich intensiv und kritisch mit der zeitgenössischen soziologischen Theorie auseinander, die dies verdiente, so namentlich jener Niklas Luhmanns. Bis in die letzte Zeit erhob er öffentlich Protest an den vielen Stellen, wo ihm dies notwendig erschien.

Vor allem aber war Christian Sigrist für viele Studierende ein manchmal sperriger, aber ungemein anregender und anstoßender Lehrer, wenn sie sich einmal auf ihn eingelassen hatten. Das gilt nicht nur für diejenigen, die heute an deutschen und internationalen Hochschulen lehren und forschen, sondern – vielleicht wichtiger – für die viel Zahlreicheren, die im Schuldienst kritische Impulse weitertragen. Auch diese Zeitschrift hätte es vermutlich nie gegeben, hätte Christian Sigrist nicht entscheidend dabei mitgearbeitet, eine umfassende, Gesellschaftsgrenzen überschreitende Sozialforschung und Gesellschaftstheorie voranzutreiben. Ganz praktisch sorgte er dafür, dass am Institut für Soziologie in Münster Freiräume bestanden, die gerade für die Anfangsphase der PERIPHERIE entscheidend wichtig waren. Als Beiratsmitglied war er dem Projekt lange Jahre bis zuletzt verbunden. Viele der früheren und heutigen Mitglieder unseres Redaktionskreises waren seine Schüler, haben zeitweise eng mit ihm kooperiert und sehen sich bis heute seinem Programm verpflichtet, für das er stand. Dass dessen institutionelle Verankerung nicht in der einmal erhofften Form und in dem einmal möglich erscheinenden Ausmaß gelungen ist, gehört zur Problematik seiner Generation. Diese Perspektive immer neu zu denken und voranzutreiben, bleibt sein Vermächtnis.

Wir verlieren mit Christian Sigrist einen stets kritischen Wegbegleiter und langjährigen Unterstützer und Freund.

Aus: Peripherie. Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt, Nr. 137 (2015)



Zum Tod von Prof. Dr. Christian Sigrist – Bis zuletzt gegen Wilhelm II. Von Jörg Rostek

Christian Sigrist bei einer antimilitaristischen Veranstaltung der Grünen in Marl am 15.02.2012: Thema war die Militarisierung der Hochschulen. Foto: Jörg Rostek

Der Soziologe Christian Sigrist war nicht nur ein kritischer Intellektueller und engagierter Lehrer und Wissenschaftler, wie die Westfälische Wilhelms-Universität heute in einer Pressemitteilung schreibt; er war einer der größten Kritiker der Benennung der Wilhelms-Universität Münster nach Kaiser Wilhelm II. und lehnte diesen Namen bis zuletzt ab. So führte Christian Sigrist im Jahr 1997 in der Debatte um die Umbenennung der Westfälischen Wilhelms- Universität als Mitglied einer entsprechenden Universitätkommission in einer Vorlage („Wilhelm II. Und der Antisemitismus – Vorlage für die Universitätskommission: Namensänderung der WWU?“, hier als pdf) aus, dass durch die Person Wilhelm II. eine antisemitische und rassenideologische Gesinnung “die Machtmittel hatte, die aus dem Rassenwahn hervorgehenden Vernichtungsphantasien wenigstens in den afrikanischen Kolonien zu realisieren“. Rassistische Ideologie und Militärismus hätten sich, so Sigrist, in der wilhelminischen Kolonialpolitik “verhängnisvoll kombiniert.”

Christian Sigrist macht in seiner Schrift Wilhelm II. direkt für den „versuchten Genozid an den Herero und den versuchten Ethnozid an den Nama im deutschen Schutzgebiet Südwestafrika“ verantwortlich. Erst auf Drängen des damaligen Reichskanzlers Bülow, sei Wilhelm II. überredet worden, den „Ausrottungsbefehl“ abzumildern. Laut Schätzungen, schreibt Sigrist, hätten nur ein Drittel der Herero die Vernichtung überlebt.

„Dass der Krieg die Herero als Nation nicht definitiv auslöschen konnte, ändert nichts daran, dass dieses Ziel verfolgt und vom Kaiser selbst gebilligt wurde. Auch das schlechte Beispiel, das andere Kolonialmächte gaben, z.B. die Briten im Burenkrieg, mindert die persönliche Schuld des Kaisers nicht“, so Sigrist und schließt seine Schrift mit dem Satz: „Dass diese Phantasien zur vernichtenden Gewalt wurden in einer den Kaiser mit Schuld beladenden Weise schließt aus, dass die Universität Münster im Bewusstsein dieser Zusammenhänge weiterhin seinen Namen trägt.“

Keine Frage, dass dieser Satz heute noch gilt. Traurige Tatsache: Die Universitätskommission zur Umbenennung der Universität Münster sprach sich mit 6:4 Stimmen für die Umbenennung aus (siehe iley-Artikel). Die Entscheidung darüber ließ der Senat jedoch im Sande verlaufen, “bis das Rektorat die Sache endgültig für erledigt erklärte”.

Jörg Rostek, 26. Februar 2015


Rüdiger Haude: Anarchie im gelobten Land

Christian Sigrists unverhoffter Beitrag zur Religionswissenschaft

Das Schlagwort von der Interdisziplinarität muss keine leere Hülse sein - das zeigt das wissenschaftliche Wirken von Christian Sigrist, der die ethnologische Einsicht in die Möglichkeit, ohne Befehl und Gehorsam zusammenzuleben, in die Soziologie einspeiste. Damit konnte man sich Gedanken darüber machen, wie der Abbau von Herrschaft in der Gegenwart möglich ist - anthropologische Hindernisse standen dem jedenfalls nicht entgegen. Sigrists wichtigstes Buch - die "Regulierte Anarchie" von 1967 - schlug ironischerweise aber in noch einem ganz anderen Fach die höchsten Wellen: in der Religionswissenschaft.

Sigrist hatte die heidnischen "segmentären Gesellschaften" Afrikas untersucht, bei denen die Verwandtschaftsstruktur das politische Regulativ lieferte, das andernorts durch herrschaftliche Gewalt ersetzt wurde. Diese segmentären Gesellschaften hatten, wie sich zeigte, eine recht genaue Analogie in den zwölf "Stämmen" Israels, von denen die Bibel berichtet, dass sie eine ganze Weile im "gelobten Land" lebten, bevor sie sich ungefähr 1000 Jahre vor unserer Zeitrechnung zum ersten Mal einen König gaben.

Nicht, dass eine solche Analogiebildung 1967 ganz neu gewesen wäre. Schon der französische Soziologe Émile Durkheim, der den Begriff "segmentäre Gesellschaft" um die vorletzte Jahrhundertwende geprägt hatte, hatte die "Hebräer" diesem segmentären Typus zugeschlagen, bei dem die Familien "in freier Selbständigkeit nebeneinander" lebten. Und zur gleichen Zeit hatte in Deutschland der protestantische Theologe Julius Wellhausen eben diese Hebräer als Parallelfall behandelt, als er die Araber seiner Zeit als "Ein Gemeinwesen ohne Obrigkeit" beschrieb.

Die britischen Ethnologen, auf die Sigrist sich in der "Regulierten Anarchie" hauptsächlich bezog, haben in ihren Lehrveranstaltungen die Bibel ständig als Mittel zur Veranschaulichung herangezogen. Namentlich Edward E. Evans-Pritchard, der in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts die Nuer im Südsudan erforschte, versicherte, bei diesen fühle sich der Ethnologe und der Missionar wie in alttestamentlichen Zeiten. Was ihm bei den Nuer außerdem auffiel, fasste er in die Worte: "Die geordnete Anarchie, in der sie leben, passt gut zu ihrem Charakter, denn es ist unmöglich, unter den Nuer zu leben und sich vorzustellen, dass Herrscher über sie herrschen". Der logische Rückschluss auf politische Verhältnisse und "Charakter" der Menschen in alttestamentlichen Zeiten musste nur noch ausdrücklich vollzogen werden. Und dies geschah in einer Zeit, als man auch begann, die biblischen Mythologien mit dem Instrumentarium der strukturalistischen Ethnologie zu analysieren. Die Begegnungsgeschichte von Bibelwissenschaft und Ethnologie hat der Theologe Bernhard Lang 1984 in einem Aufsatz mit dem Titel "Spione im gelobten Land" dargestellt. Christian Sigrist spielt darin eine wichtige Rolle.

Sigrists Leistung besteht einerseits darin, die Arbeiten der britischen "social anthropologists" dahingehend systematisiert zu haben, dass er die politische Rolle des Verwandtschaftssystems in den segmentären staatslosen Gesellschaften präzise bestimmte und mit kulturellen Phänomenen wie dem ausgeprägten Gleichheitsbewusstsein, oder mit ökonomischen Bestimmungen wie egalitären Erbrechtsregelungen in Zusammenhang brachte. Er beschrieb kulturvergleichend die politisch exponierten Rollen ("Instanzen") in diesen Kulturen, die Arbeitsteilung und andere Dimensionen der Ungleichheit, und zeigte, wie diese davon abgehalten wurden, in verfestigte Befehl-Gehorsams-Strukturen abzugleiten. Außerdem analysierte er Widerstandsbewegungen, die sich als Folge einer Staatsentstehung herausbildeten, solange das vorstaatliche "Gleichheitsbewußtsein" noch nicht zurückgedrängt war. Mit dem aus der politischen Soziologie Max Webers entlehnten Konzept der "Regulierten Anarchie" verpasste er den Einsichten der "social anthropologists" eine fruchtbare politische Zuspitzung.

Andererseits ist für die Rezeptionsgeschichte auch wichtig, dass Sigrist die Einsichten der britischen Ethnologen in den deutschsprachigen Diskurs übersetzte. So waren sie für die deutschen Theologen der 70er und 80er Jahre greifbar, die schwerlich eine Sprach- und eine Disziplingrenze zugleich überwunden hätten.

Der israelische Religionshistoriker Abraham Malamat hat 1973 die Parallelität der biblischen mit afrikanischen Genealogien aufgezeigt, wobei er sich auf genau dieselben Ethnien bezog wie Sigrist. Malamats Arbeit war den deutschen Theologen bekannt. Aber das explosive politische Potenzial, das in der Soziologisierung der Bibelexegese steckte, musste noch entdeckt werden. In den USA wurde dieses Potenzial einige Jahre später durch Forscher wie Norman Gottwald mit der Theorie entfaltet, das alte Israel sei aus einer sozialrevolutionären Bewegung von Bauern entstanden. Als durch die Verarbeitung von Eisen und weitere technologische Entdeckungen das palästinische Hochland landwirtschaftlich erschließbar wurde, seien in der schon lange unruhigen Region die Bauern den kanaanäischen Stadtkönigen schlicht ins Gebirge davongelaufen, um dort ihr eigenes, königloses Gemeinwesen zu errichten - vielleicht unterstützt von einer kleinen "Mose-Schar" entlaufener ägyptischer Fronarbeiter, die den Gründungsmythos der Befreiung mitbrachten. (Israel wäre insofern vergleichbar mit den "maroon societies" geflohener Sklaven in den Amerikas der Neuzeit - diese strukturelle Analogie ist nach meiner Kenntnis noch nicht systematisch untersucht worden.)

Hortus Deliciarum, Moses führt das Volk Israel durch das Rote Meer. Circa 1180

In Deutschland, wo man bei der Methode der "kritisch-historischen" Bibelexegese traditionell weltweit führend war, unternahm es der Alttestamentler Frank Crüsemann 1978 zum ersten Mal, die herrschaftsfeindlichen Texte des Alten Testaments durch Rückgriff auf Sigrists Ansatz zu analysieren. In seinem Buch "Der Widerstand gegen das Königtum" liest er sowohl die biblisch überlieferten Zentralisierungsprozesse als auch die Zeugnisse antiherrschaftlichen Widerstands durch die Brille der "Regulierten Anarchie", deren sechstes Kapitel sich mit ebensolchen Vorgängen im ethnografischen Befund beschäftigte. Er sehe, schrieb Crüsemann, "keinen einzigen Punkt, wo sich ein Sigristsches Theorem durch das Material in Israel falsifizieren lässt".

An Crüsemann schloss 1983 Christa Schäfer-Lichtenberger mit ihrer Untersuchung israelitischer Städte an. Nicht nur betrachtete sie die dörflichen Siedlungen der Israeliten in der vorstaatlichen Richterzeit als "Regulierte Anarchie", sondern fand auch einen Idealtyp israelitischer Städte, der dem Modell einer "primitiven Demokratie" folgte, wo also Entscheidungen von Volksversammlungen und Ältestenräten gefällt wurden.

Für den Rest des 20. Jahrhunderts war die Annahme, beim vorstaatlichen ("richterzeitlichen") Israel habe es sich um eine "Regulierte Anarchie" im Sinne Sigrists gehandelt, das dominierende Paradigma. Nicht nur im deutschsprachigen Diskurs: In Dublin resümierte der Alttestamentler A.D.H. Mayes 1989: "Es ist jetzt üblich geworden, das vormonarchische Israel als eine segmentäre Gesellschaft zu denken." Dass dies auf der Arbeit von Sigrist beruhte, machte er dabei deutlich. Den Impuls der "Regulierten Anarchie" trieben in Deutschland Theologen wie Rainer Albertz oder Rainer Neu weiter. Albertz betonte, dass die Abwesenheit von Herrschaftsinstanzen im biblischen Buch der Richter nicht länger als Mangel, sondern nur noch als Folge intentionalen Handelns verstanden werden könne. Neu führte vor allem die nomadischen Traditionen des Alten Testaments zur Stützung der These von Israel als einer segmentären Gesellschaft an.

Norbert Lohfink, als Jesuit eine katholische Stimme in diesem sonst hauptsächlich protestantischen Konzert, steuerte das Argument bei, dass der biblische Gedanke eines "Gottesreichs" Ausdruck der Staatsablehnung gewesen sei. Gott sollte herrschen, damit sich kein Mensch auf den Thron setzen konnte. So rief der israelitische "Richter" Gideon, dem laut Bibel das Königtum angetragen wurde, aus: "Nicht ich will über euch herrschen, und mein Sohn soll auch nicht über euch herrschen, sondern Jahweh soll über euch herrschen." Solche religiöse Absicherung der Abwesenheit menschlicher Regierung hatte schon im 17. Jahrhundert der portugiesisch-niederländische Philosoph Baruch de Spinoza in seinem "Theologisch-politischen Traktat" als "Theokratie" bezeichnet, aus der völlige politische Gleichheit folge. Nun, Ende des 20. Jahrhunderts, wurde dieser Begriff durch den Ägyptologen Jan Assmann, der sich ebenfalls an der bibelbezogenen Sigrist-Rezeption beteiligte, weiter differenziert: Die Theokratie, von der Lohfink und Spinoza sprachen, sei eine "identitäre Theokratie"; sie könne in eine "repräsentative Theokratie" umschlagen, bei der die Herrschaft Gottes wieder durch Menschen vermittelt sei; statt Regulierter Anarchie hätten wir dann wieder einen, womöglich despotischen, Staat.

Assmannn lieferte auch den interessanten Gedanken, dass die "politische Theologie" des richterzeitlichen Israel in Abgrenzung von der ägyptischen Weltanschauung gedacht werden müsse. In dem "Bund", den Gott mit Israel schließt, ist der Pharao in zwei Richtungen negiert: als Vertragspartner der Gottheit wird er durch das Volk ersetzt; als Herrschaftsinstanz durch Gott. Die "Herausführung aus dem Sklavenhause" Ägypten ist der Gründungsmythos Israels. Dieser herrschaftsfeindliche Impuls ist eine ebenso starke Herausforderung für unerbittliche Religionskritik wie für jahrtausendelang erlernte staatstreue Frömmigkeit.

Im 21. Jahrhundert ebbte das Paradigma vom alten Israel als "Regulierter Anarchie" wieder ab. Ich selbst habe zu dieser Zeit Analysen zur Rolle der Schriftlichkeit im herrschaftsfreien Kontext, zur Frage der Geschlechterverhältnisse und ihrer Dynamik beim Übergang zum Staat, und zur politischen Funktion biblischer Mythen (wie der Jona-Erzählung oder der Geschichte vom Turmbau zu Babel) vorlegen können. Dabei durfte ich nicht nur auf persönliche theoretische Anregungen, sondern auch auf praktische Unterstützung durch Christian Sigrist zurückgreifen. Daran denke ich heute, nach seinem überraschenden Tod, dankbar zurück.

Es wurde aber zunehmend schwerer, diesem Ansatz Gehör zu verschaffen. Einleuchtende Gründe dafür, dass man das vormonarchische Israel nun nicht mehr als segmentäre Gesellschaft betrachten solle, habe ich kaum vernommen - auch wenn nicht jedes Detail, das die britischen "social anthropologists", wie auch die Sigrist-Schule der Geschichtsforschung zum alten Israel, vorgetragen haben, heute noch Bestand hat. Kulturhistorische Theorien sind offenbar nur in passenden Gegenwarts-Kontexten denkbar, und in Zeiten des amoklaufenden Neoliberalismus fällt es wohl zunehmend schwer, Staatsabbau und politisch-ökonomische Gleichheit in einem Gedanken zu vereinen.

Christian Sigrist hat sich über die unerwartete Wirkung seiner "Regulierten Anarchie" im Felde der Religionswissenschaft gefreut. Dies bedeute, so schrieb er im Vorwort der dritten Auflage des Buchs im Jahre 1994, "daß das Anarchie-Thema in einen religiösen Kontext eingebracht und so von der Wissenschaft her die hergebrachte enge Sichtweise der Verbindung von Thron und Altar aufgebrochen wird". Zusammen mit Rainer Neu brachte er 1989 und 1997 zwei Anthologien "Ethnologische Texte zum Alten Testament" heraus, die den Theologen Handwerkszeug bei der Arbeit mit der Theorie der "Regulierten Anarchie" bieten. Ich benutze hier den Präsens, denn einer Anknüpfung an dieses Paradigma steht aus wissenschaftlicher Sicht nichts entgegen.

Aus: "junge welt". Der Text ist mit der veränderten Überschrift "Anarchie im Alten Testament" am 21. März 2015 in der jw erschienen (Beilage "faulheit & arbeit", S.6f).


Werke (eine Auswahl)

  • Macht und Herrschaft (Hg.) (2004)
  • Ethnologische Texte zum Alten Testament, Teil 2.: Die Entstehung des Königtums.
  • Regulierte Anarchie. Untersuchungen zum Fehlen und zur Entstehung politischer Herrschaft in segmentären Gesellschaften Afrikas (1967).
  • Das Rußlandbild des Marquis de Custine. Von der Civilisationskritik zur Russlandfeindlichkeit (1990).
  • Wissenschaft, Widerstand und Autorität (1981)
  • Wissenschaftsfreiheit heute. Zensur und Kriminalisierung? am Beispiel des Soziologen Prof. Christian Sigrist. (1980)
  • Indien. Bauernkämpfe: die Geschichte einer verhinderten Entwicklung, von 1756 bis heute
  • Probleme des demokratischen Neuaufbaus in Guinea-Bissao und auf den Kapverdischen Inseln (1977)

Im Verlag Syndikat hat er zusammen mit Fritz Kramer herausgegeben:

  • Gesellschaften ohne Staat. Bd. 1: Gleichheit und Gegenseitigkeit; Bd. 2: Genealogie und Solidarität (beide 1978)

Zu Sigrists 65. Geburtstag erschienen Ende März 2000 die Festschriften

  • "Soziologie im Minenfeld" als sechster Band der wissenschaftlichen Buchreihe "Kulturelle Identität und politische Selbstbestimmung in der Weltgesellschaft".
  • "Subjekte und Systeme. Soziologische und anthropologische Annäherungen" .


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