Priber, Christian Gottlieb: Unterschied zwischen den Versionen
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Priber, Sohn eines Zittauer Kaufmanns und Tuchhändlers, besuchte das Gymnasium seiner Heimatstadt, studierte ab 1718 Philosophie und Rechtswissenschaften in Leipzig – einem der wichtigsten Aufklärungszentren der deutschen Staaten – und wurde 1722 zum Doktor der Rechtswissenschaften in Erfurt promoviert. Im selben Jahr heiratete er in Zittau eine Tochter des dortigen Gymnasialdirektors und ließ sich als Advokat in der Stadt nieder. Sieben Kinder kamen zur Welt, von denen aber nur vier überlebten. Wahrscheinlich betrieb er als Rechtsanwalt auch die Handelsgeschäfte seines inzwischen verstorbenen Vaters weiter, scheint in finanzielle Schwierigkeiten geraten zu sein. | Priber, Sohn eines Zittauer Kaufmanns und Tuchhändlers, besuchte das Gymnasium seiner Heimatstadt, studierte ab 1718 Philosophie und Rechtswissenschaften in Leipzig – einem der wichtigsten Aufklärungszentren der deutschen Staaten – und wurde 1722 zum Doktor der Rechtswissenschaften in Erfurt promoviert. Im selben Jahr heiratete er in Zittau eine Tochter des dortigen Gymnasialdirektors und ließ sich als Advokat in der Stadt nieder. Sieben Kinder kamen zur Welt, von denen aber nur vier überlebten. Wahrscheinlich betrieb er als Rechtsanwalt auch die Handelsgeschäfte seines inzwischen verstorbenen Vaters weiter, scheint in finanzielle Schwierigkeiten geraten zu sein. | ||
1734 reiste oder flüchtete Priber nach London, und im Juni 1735 stellte er einen Antrag bei den „Trustees“ der neu gegründeten Kolonie Georgia auf Übersiedlung in diese Region und damit auf Landzuteilung. Im Dezember befand er sich allerdings im heutigen Charlestown (South Carolina), und im Februar 1736 bewarb er sich in dieser britischen Kolonie um eine Landzuteilung. Im März erhielt er das Land zugeteilt, machte sich aber in den Wochen oder Monaten danach auf den 800 km langen Weg nach Norden auf, nach Great Tallico (heute East Tennessee), dem Hauptsiedlungssitz der Oberen Cherokee (Overhill Cherokee). Hier fügte er sich schnell in die Stammesstrukturen und Gebräuche ein, verschenkte sein Hab und Gut, lernte die Sprache (ggf. mehrere) und wurde wahrscheinlich nominell in die matrilineare Züge tragende Gesellschaft adoptiert, so dass er ein vollwertiges Clan- und Stammesmitglied wurde. Priber gewann in der ohnehin nur fluiden Siedlungs- und Stammeshierarchie an Einfluss. Wie weit dieser Einfluss wirklich reichte, ist umstritten. Weil er kritisch in die betreffenden Handelsgeschäfte eingriff, galt er der britischen Kolonialmacht bald als Störenfried; Priber hatte u.a. auch Kontakte mit französischen und spanischen Kolonialbehörden aufgenommen, die Ansprüche auf britisch besetzte Indianerterritorien hegten. Deshalb – und aufgrund seiner generellen aufrührerischen Vorhaben – wurde er 1743 gefangen genommen und, als vermeintlicher Agent der Spanier oder Franzosen, nach Fort Frederica überstellt, dem damaligen britischen militärischen Hauptquartier Georgias. Wahrscheinlich verstarb er dort Mitte der vierziger Jahre als Gefangener. | 1734 reiste oder flüchtete Priber nach London, und im Juni 1735 stellte er einen Antrag bei den „Trustees“ der neu gegründeten Kolonie Georgia auf Übersiedlung in diese Region und damit auf Landzuteilung. Im Dezember befand er sich allerdings im heutigen Charlestown (South Carolina), und im Februar 1736 bewarb er sich in dieser britischen Kolonie um eine Landzuteilung. Im März erhielt er das Land zugeteilt, machte sich aber in den Wochen oder Monaten danach auf den 800 km langen Weg nach Norden auf, nach Great Tallico (heute East Tennessee), dem Hauptsiedlungssitz der Oberen Cherokee (Overhill Cherokee). Hier fügte er sich schnell in die Stammesstrukturen und Gebräuche ein, verschenkte sein Hab und Gut, lernte die Sprache (ggf. mehrere) und wurde wahrscheinlich nominell in die matrilineare Züge tragende Gesellschaft adoptiert, so dass er ein vollwertiges Clan- und Stammesmitglied wurde. Priber gewann in der ohnehin nur fluiden Siedlungs- und Stammeshierarchie an Einfluss. Wie weit dieser Einfluss wirklich reichte, ist umstritten. Weil er kritisch in die betreffenden Handelsgeschäfte eingriff, galt er der britischen Kolonialmacht bald als Störenfried; Priber hatte u.a. auch Kontakte mit französischen und spanischen Kolonialbehörden aufgenommen, die Ansprüche auf britisch besetzte Indianerterritorien hegten. Deshalb – und aufgrund seiner generellen aufrührerischen Vorhaben – wurde er 1743 gefangen genommen und, als vermeintlicher Agent der Spanier oder Franzosen, nach Fort Frederica überstellt, dem damaligen britischen militärischen Hauptquartier Georgias. Wahrscheinlich verstarb er dort Mitte der vierziger Jahre als Gefangener. | ||
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Diese Ansichten weisen den Quellen zufolge, bei aller Radikalität, aber auch Merkmale auf, die sich nicht nur als anarchistisch, sondern auch als ‚anarchoid‘ kennzeichnen lassen. Denn Priber scheint sich auf dem Weg in eine staatslose Gesellschaft zumindest für eine bestimmte Übergangszeit eine leitende politische Rolle zugeschrieben zu haben. | Diese Ansichten weisen den Quellen zufolge, bei aller Radikalität, aber auch Merkmale auf, die sich nicht nur als anarchistisch, sondern auch als ‚anarchoid‘ kennzeichnen lassen. Denn Priber scheint sich auf dem Weg in eine staatslose Gesellschaft zumindest für eine bestimmte Übergangszeit eine leitende politische Rolle zugeschrieben zu haben. | ||
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Version vom 20. Oktober 2019, 12:41 Uhr
Christian Gottlieb Priber, geb. 22. März 1697 in Zittau, gest. ca. 1744/45 in Gefangenschaft in Fort Frederica (Georgia); aufklärerischer anarchistischer Theoretiker und Praktiker; plante, als einflussreicher Akteur bei den Cherokee, ab ca. 1735 die Errichtung eines herrschaftsfreien Gemeinwesens auf Basis von Kollektiveigentum mit Indianern, ehemaligen Sklaven und europäischen Einwanderern (Schuldnern, ehemaligen Kriminellen, religiösen Freigeistern usw.).
Biographie
Priber, Sohn eines Zittauer Kaufmanns und Tuchhändlers, besuchte das Gymnasium seiner Heimatstadt, studierte ab 1718 Philosophie und Rechtswissenschaften in Leipzig – einem der wichtigsten Aufklärungszentren der deutschen Staaten – und wurde 1722 zum Doktor der Rechtswissenschaften in Erfurt promoviert. Im selben Jahr heiratete er in Zittau eine Tochter des dortigen Gymnasialdirektors und ließ sich als Advokat in der Stadt nieder. Sieben Kinder kamen zur Welt, von denen aber nur vier überlebten. Wahrscheinlich betrieb er als Rechtsanwalt auch die Handelsgeschäfte seines inzwischen verstorbenen Vaters weiter, scheint in finanzielle Schwierigkeiten geraten zu sein. 1734 reiste oder flüchtete Priber nach London, und im Juni 1735 stellte er einen Antrag bei den „Trustees“ der neu gegründeten Kolonie Georgia auf Übersiedlung in diese Region und damit auf Landzuteilung. Im Dezember befand er sich allerdings im heutigen Charlestown (South Carolina), und im Februar 1736 bewarb er sich in dieser britischen Kolonie um eine Landzuteilung. Im März erhielt er das Land zugeteilt, machte sich aber in den Wochen oder Monaten danach auf den 800 km langen Weg nach Norden auf, nach Great Tallico (heute East Tennessee), dem Hauptsiedlungssitz der Oberen Cherokee (Overhill Cherokee). Hier fügte er sich schnell in die Stammesstrukturen und Gebräuche ein, verschenkte sein Hab und Gut, lernte die Sprache (ggf. mehrere) und wurde wahrscheinlich nominell in die matrilineare Züge tragende Gesellschaft adoptiert, so dass er ein vollwertiges Clan- und Stammesmitglied wurde. Priber gewann in der ohnehin nur fluiden Siedlungs- und Stammeshierarchie an Einfluss. Wie weit dieser Einfluss wirklich reichte, ist umstritten. Weil er kritisch in die betreffenden Handelsgeschäfte eingriff, galt er der britischen Kolonialmacht bald als Störenfried; Priber hatte u.a. auch Kontakte mit französischen und spanischen Kolonialbehörden aufgenommen, die Ansprüche auf britisch besetzte Indianerterritorien hegten. Deshalb – und aufgrund seiner generellen aufrührerischen Vorhaben – wurde er 1743 gefangen genommen und, als vermeintlicher Agent der Spanier oder Franzosen, nach Fort Frederica überstellt, dem damaligen britischen militärischen Hauptquartier Georgias. Wahrscheinlich verstarb er dort Mitte der vierziger Jahre als Gefangener.
Stellung innerhalb des aufklärerischen Anarchismus
Priber ist den radikalen Linien der Aufklärung zuzurechnen. Den mittlerweile sieben überlieferten relevanten zeitgenössischen Quellen zufolge bestanden seine naturrechtlich basierten Vorstellungen darin, dass sie sich nicht nur gegen religiöse, staatliche und ökonomische Herrschaft richteten, sondern gegen Herrschaft an sich, und zwar auf fünf Gebieten: Politik, Ökonomie, Religion, Geschlecht, Ethnie. Er erstrebte:
-eine Republik ohne jegliche Herrschaft, vollkommene Realisierung von Recht und Freiheit (Republik im Sinn von Gemeinwesen, nicht als institutionell-politische Organisationsform), -Gemeinschaftseigentum, -ein Nebeneinander und Absterben aller Religionen unter dem Dach einer neuen naturrechtlich-moralischen, nichtreligiösen Weltanschauung, -gleiche Freiheiten für Frauen und Männer sowie ein Leben ohne Heiratskontrakte, -ein Miteinander verschiedener Ethnien: Indianer, ehemalige schwarze Sklaven, europäische Zuwanderer.
Diese Ansichten weisen den Quellen zufolge, bei aller Radikalität, aber auch Merkmale auf, die sich nicht nur als anarchistisch, sondern auch als ‚anarchoid‘ kennzeichnen lassen. Denn Priber scheint sich auf dem Weg in eine staatslose Gesellschaft zumindest für eine bestimmte Übergangszeit eine leitende politische Rolle zugeschrieben zu haben.
Theoretische Einflüsse
Aufklärerisch geprägt war Priber, allein durch sein Studienumfeld, von Naturrechtssauffassungen. Gleichfalls ist bekannt, dass Priber, der plante, ein Königreich, einen Staat oder eine Stadt namens „Paradies“ zu gründen, sich allen Religionen gegenüber abfällig geäußert hat; insgesamt knüpfte er an aufklärerische Auffassungen einer ‚natürlichen‘ – statt ‚ausgeformten‘ – Religion an. Gleichfalls wird sich Priber auf aufklärerische anarchoide literarische Entwürfe bezogen haben (Rabelais, Fénelon, Schnabel u.a.). Ebenfalls prägten ihn Konstrukte des „guten Wilden“ oder „edlen Wilden“, die dazu dienten, die europäische Gesellschaft und ihre Deformationen anzuprangern, aber auch dazu, alternative Sozial- und Gesellschaftsmodelle gedanklich zu durchspielen (Montaigne, Foigny, Lahontan u.a.).