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''"Daß die Monarchie . . . nicht bestehen kann, ergibt sich von selbst. Die Polyarchie, welche sich im reinen Repräsentativsystem ausspricht, ist ebenfalls durch Theorie und Geschichte vor dem Richterstuhl der Individualität verurteilt. Seinen wahren Ausdruck findet der Individualismus erst in der Omniarchie, welche gerade dadurch, daß sie die Herrschaft aller ernst nimmt, die Herrschaft des oder der einzelnen unnötig macht - Anarchie wird."'' <"Anarchie oder Autorität?", S. 128> | ''"Daß die Monarchie . . . nicht bestehen kann, ergibt sich von selbst. Die Polyarchie, welche sich im reinen Repräsentativsystem ausspricht, ist ebenfalls durch Theorie und Geschichte vor dem Richterstuhl der Individualität verurteilt. Seinen wahren Ausdruck findet der Individualismus erst in der Omniarchie, welche gerade dadurch, daß sie die Herrschaft aller ernst nimmt, die Herrschaft des oder der einzelnen unnötig macht - Anarchie wird."'' <"Anarchie oder Autorität?", S. 128> | ||
− | Der von Marr propagierte Anarchismus, den Landauer als ein "übles Gebräu" der zeitgenössischen anarchistischen Tendenzen | + | Der von Marr propagierte Anarchismus, den der deutsch-jüdische Anarchist Gustav Landauer später als ein "übles Gebräu" der zeitgenössischen anarchistischen Tendenzen charakterisieren sollte, erregte das besondere Mißfallen des Berliner Linkshegelianers und Publizisten Edgar Bauer (1820-1886). Im Verlauf der Reaktionsperiode trennte sich Wilhelm Marr schließlich von seinen einstigen anarchistischen Jugendidealen und erlangte in den 1870er Jahren eine unrühmliche Bekanntheit als antisemitischer Agitator. Zenker zufolge hat sich Marr jedoch Anfang der 90er Jahre vom Antisemitismus wieder distanziert "und als verbitterter, zurückgezogener Mann in Hamburg die schlotterenden Sympathien seines Greisenalters wieder den anarchistischen Idealen seiner Jugend zugewandt". (Zenker: Der Anarchismus, Kritische Geschichte der anarchistischen Theorie, Jena 1895 (Reprint Berlin 1979), S. 91). |
Version vom 2. November 2006, 13:10 Uhr
Lexikon der Anarchie: Personen
Reserviert zur Bearbeitung durch Jochen Schmück
Wilhelm Marr (* 16. November 1819 in Magdeburg; † 17. Juli 1904 in Hamburg), deutscher Publizist, der in den 1840er Jahren als einer der Ersten im deutschen Sprachraum den Anarchismus politisch propagiert hatte. Später erlangte er eine unrühmliche Bekanntheit als "Erfinder" des Begriffs "Antisemitismus".
Bisherige Rohfassung
Wilhelm Marr gehört zu den Ersten im deutschen Sprachraum, die in Anlehnung an Pierre Joseph Proudhon den Anarchismus politisch propagiert haben. Marr hatte sich Ende Juli 1843 dem "Jungen Deutschland" in der Schweiz angeschlossen hatte und sich zu dessen radikalstem Wortführer entwickelte. Die "Blätter der Gegenwart für sociales Leben" erschienen im ersten Jahr monatlich in einer Auflagenhöhe von ca. 1.000 Exemplaren, von denen die Hälfte an feste Abonnenten in den Kreisen der Jungdeutschen vertrieben wurde. Zu den bevorzugten Themen, die in den "Blättern der Gegenwart für sociales Leben" behandelt wurden, gehörten die sozialen Fragen und die Religionskritik.
Die Verwandtschaft Marrs mit den Ideen der späteren politischen Anarchisten kommt am deutlichsten in seiner radikalen antiautoritären Kritik der bestehenden Institutionen des Staates, des Eigentums und der Religion zum Ausdruck. Der zeitgenössische Einfluß Proudhons – dessen Schriften Marr ebenso wie die vom Max Stirner kannte – läßt sich in seiner unter dem Titel "Die Soziale Frage" veröffentlichten Artikelserie und dort insbesondere in Stellungnahmen wie der folgenden erkennen:
"Das Privateigentum ward die Grundlage des Staates und wird es bleiben, solange es überhaupt noch einen 'Staat' in der heutigen Bedeutung des Wortes gibt. Wie der Gott der Pfaffen nichts anderes ist als der übergeschnappte Menschengeist, so ist das, was man 'Privateigentum' nennt, nichts anderes als die zur Sinnlichkeit gewordene Übergeschnapptheit des Menschengeistes. 'Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt', zu Gott zu kommen und – 'Eigentümer' zu werden. Gott ist unnahbar heilig – das Privateigentum ebenfalls, soll es wenigstens sein. Die Würde, das Ansehen des Privateigentums wird durch Gendarmen und Polizisten aufrechterhalten – die Würde Gottes ebenfalls. Ob die Gendarmen nun blaue oder schwarze Röcke tragen, ist einerlei." <Abgedruckt in und zit. n. Kowalski; Vom kleinbürgerlichen Demokratismus zum Kommunismus. Zeitschriften aus der Frühzeit der deutschen Arbeiterbewegung (1834-1847), Archivalische Forschungen zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd.5/I, Berlin (Ost) 1967, S.329.>
Nach Marrs eigenen Angaben standen die "Arbeiter, welche mit an dem Blatte arbeiteten", den Herausgebern "an Entschiedenheit wenig nach." <Wilhelm Marr; Das Junge Deutschland in der Schweiz, auszugsweise abgedruckt in und zit. n. Vester (Hg.); Die Frühsozialisten, Bd.2, S.114.>
So wurde beispielsweise in der zweiten Nummer des Blattes die Zuschrift eines Arbeiters abgedruckt – die wohl als das erste Lebenszeichen des deutschsprachigen proletarischen Anarchismus betrachtet werden kann -, in der die Notwendigkeit einer revolutionär ausgerichteten anarchistischen Propaganda wie folgt betont wurde:
"Vor allem ist es erforderlich, daß wir … kämpfen gegen eine Regierung, welche mehr als eine Vollzieherin der Gesetze ist; kämpfen gegen die heutigen Begriffe von Eigentum, welche den Arbeiter zum Sklaven seines Brotherren machen. Sind erst die heutigen Begriffe von Staat, Kirche und Eigentum gefallen, dann wird uns auch eine bessere Zukunft aufkeimen. Doch bis dahin das Schwert nicht in die Scheide und Zufriedenheit in keines Menschen Herz, damit das Volk sich nicht für anderer, sondern für sein eigenes Wohl schlage, denn auf halbem Wege stehen bleiben oder das Ziel verfehlt haben ist gleichbedeutend. Das Volk würde seine Kräfte, sein Blut und Leben dargebracht haben und zum Lohn – andere Herrscher bekommen: 'Le roi est mort – vive le roi!'" <Abgedruckt in und zit. n. Kowalski; Kleinbürgerlicher Demokratismus, S.344.>
Nicht zuletzt wegen dieser und ähnlich heftiger Attacken auf Staat, Eigentum und Religion wurde das Blatt im Sommer 1845 von den schweizerischen Behörden verboten. Der Herausgeber wurde verhaftet und nach Deutschland ausgeliefert.
Die von Marr 1852 veröffentlichte Schrift "Anarchie oder Autorität?" ist vermutlich der erste anarchistische Propagandaschrift, die im deutschsprachigen Raum erschienen ist. Neben Michail Bakunin, Karl Grün, Moses Hess und Karl Vogt gehörte Marr damit zu denjenigen, die in Deutschland schon relativ früh die Ideen Proudhons rezipiert hatten.
Sein Anarchieverständnis hat er in "Anarchie oder Autorität?" wie folgt beschrieben:
"Daß die Monarchie . . . nicht bestehen kann, ergibt sich von selbst. Die Polyarchie, welche sich im reinen Repräsentativsystem ausspricht, ist ebenfalls durch Theorie und Geschichte vor dem Richterstuhl der Individualität verurteilt. Seinen wahren Ausdruck findet der Individualismus erst in der Omniarchie, welche gerade dadurch, daß sie die Herrschaft aller ernst nimmt, die Herrschaft des oder der einzelnen unnötig macht - Anarchie wird." <"Anarchie oder Autorität?", S. 128>
Der von Marr propagierte Anarchismus, den der deutsch-jüdische Anarchist Gustav Landauer später als ein "übles Gebräu" der zeitgenössischen anarchistischen Tendenzen charakterisieren sollte, erregte das besondere Mißfallen des Berliner Linkshegelianers und Publizisten Edgar Bauer (1820-1886). Im Verlauf der Reaktionsperiode trennte sich Wilhelm Marr schließlich von seinen einstigen anarchistischen Jugendidealen und erlangte in den 1870er Jahren eine unrühmliche Bekanntheit als antisemitischer Agitator. Zenker zufolge hat sich Marr jedoch Anfang der 90er Jahre vom Antisemitismus wieder distanziert "und als verbitterter, zurückgezogener Mann in Hamburg die schlotterenden Sympathien seines Greisenalters wieder den anarchistischen Idealen seiner Jugend zugewandt". (Zenker: Der Anarchismus, Kritische Geschichte der anarchistischen Theorie, Jena 1895 (Reprint Berlin 1979), S. 91).
Primärliteratur
Marr, Wilhelm: Das Junge Deutschland in der Schweiz. Ein Beitrag zur Geschichte der geheimen Verbindungen unserer Tage, Leipzig 1846 [auch 1848?]
Marr, Wilhelm: Der Mensch und die Ehe vor dem Richterstuhl der Sittlichkeit, Nebst einem Anhange: Zur Charakteristik des deutschen Liberalismus: 1. Die Republik Karl Heinzens. 2. In eigener Angelegenheit. Leipzig 1848.
Anarchie oder Autorität, Hamburg 1852
Marr, Wilhelm: Der Ausschluß Oesterreichs aus Deutschland ist eine politische Widersinnigkeit. Eine Warnung, welche vielleicht zu spät kommt. Hamburg (Schardius) 1866, 32 S.
Marr, Wilhelm: Die Flagge deckt die Ladung (s. Flagge, die) - konnte nicht in C. G. Kayser's Bücher-Lexikon nachgeweisen werden.
Marr, Wilhelm: Nach Jerusalem mit dem Papst! Eine Bergpredigt. 1. u. 2. Aufl. Altona (Verlags-Büreau) 1867 u. 1868, 8 S.
Marr, Wilhelm: Reise nach Central-Amerika (Nicaragua, Costa Rica), Bd.I (XII, 322 S.) u. Bd.II (VIII, 276 S.)
Marr, Wilhelm: Reise nach Central-Amerika. 2. (Titel-Aufl.), 2 Bde., Hamburg (O. Meißner) 1863, 322 u. VIII, 276 S.
Marr, Wilhelm: Selbständigkeit und Hoheitsrecht der freien Stadt Hamburg sind ein Anachronismus geworden. Eine kurze Beleuchtung hamburger Zustände. Hamburg (Hoffmann & Campe) 1866, 64 S.
Marr, Wilhelm: Es muß alles Soldat werden! oder die Zukunft des norddeutschen Bundes. Ein Phantasiegemälde. (Aus: Kosmopolit.) Hamburg (Schardius) 1867, 32 S.
Marr, Wilhelm: Streifzüge durch das Koncilium von Trient. Voltaire frei nach erzählt. Hamburg (O. Meißner) 1868, 35 S.
Marr, Wilhelm: Sieben Briefe über den Stein der Weisen. Ein sozialistisches Essai, Bern (Jent u. Reinert) 1872, 50 S., gr. 8°
Marr, Wilhelm: Religiöse Streifzüge eines philosophischen Touristen, Berlin (Denicke) 1876, 198 S., gr. 8°
Marr, Wilhelm: Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum. Vom nicht confessionellen Standpunkt aus betrachtet, 11. Aufl. Bern (Costenoble) 1879
Marr, Wilhelm: Wählet keine Juden! Der Weg zum Siege des Germanenthums über das Judenthum. Ein Mahnwort an die Wähler nichtjüdischen Stammes aller Confessionen. Mit einem Schlußwort: "An die Juden in Preußen". 1-3. Aufl., Berlin (Hentze) 1879, 48 S.
Marr, Wilhelm: Der Weg zum Siege des Germanenthums über das Judenthum, 4. Aufl. v. "Wählet keine Juden", Berlin (Hentze) 1880, 48 S.
Marr, Wilhelm: Der Judenkrieg, seine Fehler und wie er zu organisieren ist, 2. Teil v. "Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum". Chemnitz (Schmeitzer) 1880 (= Antisemtische Hefte; 1), 32 S., 8°
Marr, Wilhelm: Goldene Ratten und rothe Mäuse. Chemnitz (Schmeitzer) 1880 (= Antisemtische Hefte; 2), 32 S., 8°
Marr, Wilhelm: Oeffnet die Augen, ihr deutschen Zeitungsleser. Unentbehrliches Büchlein für jeden deutschen Zeitungsleser von W. Marr. Chemnitz (Schmeitzer) 1880 (= Antisemtische Hefte; 3), 32 S., 8°
Marr, Wilhelm: Der Judenspiegel, 3. Aufl., Hamburg (Selbstverlag) 1882, 56 S. Standort: 232 [Bibliothek des Diakon. Werkes d. Evang. Kirche in Deutschland. Central-Bibliothek der inneren Mission., Berlin 33, Altensteinstr. 51, Tel. 838 29 82/2980. Öffnungszeiten: Mo-Mi. 9-16,30, Do-Fr. 9.00-15.00]
Marr, Wilhelm: Zur Klärung der Colonialfrage, Barmbeck (Hamburg Festhausch ?) 1885
Marr, Wilhelm: Lessing contra Sem [?]. Allen "Rabbinern" der Juden- und Christenheit, allen Toleranz-Duselheimern aller Parteien, allen "Pharisäern und Schriftgelehrten", tolerantest gewidmet, Berlin (M. Schulze) 1885, 44 S. - Klären, wofür die Abk. "Sem." steht
Marr, Wilhelm: Lessing contra Sem. Allen "Rabbinern" der Juden- und Christenheit, allen Toleranz-Duselheimern aller Parteien, allen "Pharisäern und Schriftgelehrten", tolerantest gewidmet. Mit einem (Holzschnitt-)Bildnis des Verfassers, 2. Aufl. Berlin (Marburg Verlag d. Reichsherold) 1885, 44 S.
Sekundärliteratur
Zu seiner Rolle als Vertreter des frühen Anarchismus in Deutschland siehe Adler: Geschichte der ersten sozialpolitischen Arbeiterbewegung in Deutschland, S. 47-63; Nettlau: Geschichte der Anarchie, Bd. I, S. 161f. sowie J. Langhard: Die anarchistische Bewegung in der Schweiz. Von ihren Anfängen bis zur Gegenwart und die internationalen Führer, Berlin 1903 [Reprint Glashütten i. Taunus 1975], S. 1ff.