Marxismus: Unterschied zwischen den Versionen
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Die Digitalisierung nahezu aller Lebensbereiche und die Globalisierung des ökonomischen Systems seit den 1980er Jahren erzwangen schließlich auch ein Weiterdenken jenseits der gestanzten Muster der Vergangenheit, das zumindest Ansätze für eine Kritik der veränderten herrschenden Verhältnisse bot. So knüpft beispielsweise Nick Dyer-Witheford in seinem Buch ''Cyber-Marx'' mit seiner Vorstellung eines "autonomistischen Marxismus" an die italienischen Theoretiker Antonio Negri und Mario Tronti an. In seinen Augen hat die globale Restrukturierung des Kapitalismus keineswegs die alten Widersprüche zwischen Arbeit und Kapital aufgehoben, sondern vielmehr auf eine neue Ebene gebracht. Im Kreislauf von automatisierten Fabriken, interaktiven Medien, virtuellen Seminaren, gentechnologischen Laboratorien und globalen Netzwerken kaum durchschaubarer Konzernstrukturen hat sich zweierlei gebildet: gigantische Monopole, welche die Herrschaft über ganze Staatengebilde ausüben, als auch subversive Guerilla-Einheiten, die entweder isoliert oder postmodern über das World Wide Web virtuell organisiert gegen die Übermacht der technologischen Kontrolle mittels Sabotage oder Arbeitsverweigerung rebellieren. Vieles in seiner Analyse der Verflechtungen des digitalen Kapitalismus erscheint schlüssig, doch mutet seine Abgrenzung zur "Verzweiflung" von Horkheimer und Adorno in der Betonung der "Sabotage" und des "Widerstandes" gegen die Macht der Herrschaft etwas antiquiert an. Zuweilen erinnert die Rede von der medialen Subversion an die Diskussionen der 1970er Jahre und das Rekurrieren auf das demokratische Potenzial des Internets – das es zweifelsohne besitzt –- an Hans Magnus Enzensbergers ''Baukasten zu einer Theorie der Medien'' (1970). Auch wenn sich "Hacktivisten" wie die "Electrohippies" oder das "Electronic Disturbance Theater" als Guerilla im Internet etablieren konnten, ist dies nicht der Beweis für den Beginn eines subversiven Kampfes an den Schnittstellen des digitalen Kapitalismus. | Die Digitalisierung nahezu aller Lebensbereiche und die Globalisierung des ökonomischen Systems seit den 1980er Jahren erzwangen schließlich auch ein Weiterdenken jenseits der gestanzten Muster der Vergangenheit, das zumindest Ansätze für eine Kritik der veränderten herrschenden Verhältnisse bot. So knüpft beispielsweise Nick Dyer-Witheford in seinem Buch ''Cyber-Marx'' mit seiner Vorstellung eines "autonomistischen Marxismus" an die italienischen Theoretiker Antonio Negri und Mario Tronti an. In seinen Augen hat die globale Restrukturierung des Kapitalismus keineswegs die alten Widersprüche zwischen Arbeit und Kapital aufgehoben, sondern vielmehr auf eine neue Ebene gebracht. Im Kreislauf von automatisierten Fabriken, interaktiven Medien, virtuellen Seminaren, gentechnologischen Laboratorien und globalen Netzwerken kaum durchschaubarer Konzernstrukturen hat sich zweierlei gebildet: gigantische Monopole, welche die Herrschaft über ganze Staatengebilde ausüben, als auch subversive Guerilla-Einheiten, die entweder isoliert oder postmodern über das World Wide Web virtuell organisiert gegen die Übermacht der technologischen Kontrolle mittels Sabotage oder Arbeitsverweigerung rebellieren. Vieles in seiner Analyse der Verflechtungen des digitalen Kapitalismus erscheint schlüssig, doch mutet seine Abgrenzung zur "Verzweiflung" von Horkheimer und Adorno in der Betonung der "Sabotage" und des "Widerstandes" gegen die Macht der Herrschaft etwas antiquiert an. Zuweilen erinnert die Rede von der medialen Subversion an die Diskussionen der 1970er Jahre und das Rekurrieren auf das demokratische Potenzial des Internets – das es zweifelsohne besitzt –- an Hans Magnus Enzensbergers ''Baukasten zu einer Theorie der Medien'' (1970). Auch wenn sich "Hacktivisten" wie die "Electrohippies" oder das "Electronic Disturbance Theater" als Guerilla im Internet etablieren konnten, ist dies nicht der Beweis für den Beginn eines subversiven Kampfes an den Schnittstellen des digitalen Kapitalismus. |
Version vom 2. April 2007, 21:27 Uhr
Lexikon der Anarchie: Sachthemen
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Die Beziehung zwischen Anarchismus und Marxismus ist seit je von Spannungen und Feindseligkeiten gekennzeichnet, beginnend mit dem heftigen Disput zwischen Michail Bakunin und Karl Marx in der Ersten Internationale. Vom "mitgeborenen Feind" bedroht, haben Marxisten jeglicher Provenienz den Anarchismus oft als kleinbürgerlich-utopische, pseudorevolutionäre Doktrin diffamiert, welche die Arbeiterklasse desorientiere und realiter der bürgerlichen Reaktion in die Hand arbeite. In den Augen Friedrich Engels stellte er eine "hanswurstische Karikatur" der proletarischen Bewegung dar, die nur den Regierungen in Europa und Amerika nütze (MEW, Bd. 35), und für Lenin, einen Zweifrontenkrieg gegen den linken Radikalismus und den sozialdemokratischen Opportunismus führend, war der Anarchismus "nicht selten eine Art Strafe für die opportunistischen Sünden der Arbeiterbewegung" (Der "linke Radikalismus"). Wo der Anarchismus die Hegemonie der Marxisten über die internationale Arbeiterbewegung gefährdete, wurde er wie ein gefährlicher Virus isoliert oder ausgemerzt, aber doch verweste er nicht auf der "Müllhalde der Geschichte", sondern tauchte immer wieder in der politischen Arena auf, um den "feindlichen Bruder" stets aufs neue herauszufordern.
Marx' Konzept der sozialen Revolution
Von Beginn an scheint es zwischen Anarchisten und Marxisten der lediglich Differenzen bezüglich der Wahl der Mittel, nicht aber der Ziele gegeben zu haben. "Marx hat", sagte Theodor W. Adorno, "während der Jahre seines Lebens, die er darauf verwandte, den Anarchismus zu kritisieren, nicht einen herrschaftsfreien Zustand hintertreiben wollen, sondern meinte, dass durch bestimmte kurzschlüssige Aktionen das, was ihm vorschwebte, hintertrieben werde" (Soziologische Schriften I). Die Unterschiede waren jedoch weitaus gravierender. Marx zufolge sollte das disziplinierte, zentral geführte Proletariat die Staatsgewalt ergreifen und die Produktionsmittel in Staatseigentum umwandeln. In diesem Transformationsprozess würden die Unterschiede und Gegensätze der Klassen und damit auch der Staatsapparat als repressives Instrument der Klassenherrschaft allmählich aufgehoben. Seien die Klassen abgeschafft, meinte Marx, "so verschwindet die Gewalt des Staates, welche dazu dient, die große produzierende Mehrheit unter dem Joche einer wenig zahlreichen ausbeutenden Minderheit zu halten, und die Regierungsfunktionen verwandeln sich in einfache Verwaltungsfunktionen" (MEW, Bd. 18).
Anarchistische Staatskritik
Die anarchistische Kritik geht freilich über den bloßen Klassencharakter des Staates hinaus: In ihrer Essenz wendet sie sich gegen jegliche Form von Herrschaft und Hierarchie, die nicht allein durch die "Abschaffung" oder das "Absterben“ des Staates überwunden wäre. In Marx' Schema war der voll entwickelte Kapitalismus Vorbedingung für den Sozialismus und die Zentralisation unentbehrlich für den gesellschaftlichen Fortschritt, denn sie zeitige nur solange Herrschaft, da sie Teil der bürgerlichen Entwicklung sei. In einer revolutionären Gesellschaft dagegen würde sie weder zum Anwachsen der Bürokratie führen noch wäre diese zum Erreichen der Zivilisation notwendig. "Die Zertrümmerung der Staatsmaschinerie wird die Zentralisation nicht gefährden", schrieb er 1852. "Die Bürokratie ist nur die niedrige und brutale Form einer Zentralisation, die noch mit ihrem Gegensatze, dem Feudalismus, behaftet ist" (MEW, Bd. 8). Die Möglichkeit, dass noch größere Zentralisation und technologische Entwicklung einen neuen Bürokratismus, der wenig oder nichts mit den feudalistischen Traditionen zu tun hätte, hervorbringen könnten, fand bei Marx keine ernsthafte Betrachtung. Die "provisorische" Übernahme des Staates und der kapitalistischen Produktionsformen, die nicht von ihren hierarchischen Strukturen befreit sind, produziert neue Herrschaft, lässt eine neue Klasse sich konstituieren, deren Macht im Anwuchs zentralisierter Planung und spezialisierter Technik sich gründet, die auf die Funktionen früherer Bürokratien zurückgreift und eine etatistische Ideologie zur Legitimierung der eigenen Existenz benutzt. Die Indienstnahme von Wissenschaft und Technik begünstigt eine politisch-bürokratische Struktur, in der eine überwiegende Mehrheit von einer privilegierten Minderheit beherrscht wird.
Bakunin und der Autoritarismus
Bakunin sah die Gefahr, dass eine von "autoritären Kommunisten" (d. h. Marxisten) geführte Revolution "die durch Dekrete beherrschten Volksmassen von neuem zum Gehorsam, zur Unbeweglichkeit, zum Tod verurteilen würde, das heißt zur Sklaverei und Ausbeutung durch eine neue quasi-revolutionäre Aristokratie" (Gesammelte Werke, Bd. 3). Die von Marx als "vorübergehend" konzipierte Diktatur laufe, so Bakunin, nur auf deren Verewigung hinaus und zementiere das Prinzip der Herrschaft. Da Marx den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus in einer strengen Abfolge historischer Etappen sah, betrachtete er das Proletariat weniger als selbstbewusstes revolutionäres Subjekt, von dessen autonomen Aktionen das Gelingen der sozialen Revolution abhänge, denn als Objekt der "Geschichte". Bedingt durch seine materielle Situation verfüge das Proletariat nicht über ein ausreichendes Bewusstsein, und daher bedürfe es einer revolutionären Avantgarde, die "theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung" voraus habe (MEW, Bd. 4). Zwar gestand er den proletarischen Massen eine gewisse Dosis an "Selbsttätigkeit" zu, doch ist dieser Begriff weit eingegrenzter als jener der "Spontaneität“, der das "historische Recht"der Avantgarde auf die Führung des Proletariats aufs Spiel hätte setzen können. In den Augen Bakunins barg diese autoritäre Konzeption bereits den Keim einer neuen unfreien Gesellschaft in sich. Beharrlich insistierte er darauf, dass Freiheit "nur durch Freiheit" geschaffen werden könne, "durch die freie Organisation der Arbeitermassen von unten nach oben" (Staatlichkeit und Anarchie). Die "rote Bürokratie", die er herannahen sah, realisierte sich im Stalinismus. Doch auch seine Konzeption der sozialen Revolution war nicht frei von Fragwürdigkeiten. Zwar projektierte er die Avantgarde als "revolutionären Generalstab", der sich damit begnügte, als "Vermittler zwischen der revolutionären Idee und den Volksinstinkten" zu dienen, doch redete er auch von einer "Diktatur ohne Schärpe, ohne Titel, ohne offizielles Recht, die desto mächtiger ist, weil sie keinen Anschein der Macht hat" (Gesammelte Werke, Bd. 3).
War der Marxismus das "falsche Bewusstsein einer kulturellen Bourgeoise, die radikalisiert worden ist" (Alvin W. Gouldner, The Future of Intellectuals), so lief der "Bakunismus" stets Gefahr, über die berechtigte Kritik an der "neuen Klasse" von Funktionären und Bürokraten in einen dumpfen Anti-Intellektualismus umzuschlagen, der im "kulturellen Kapital" der Intellektuellen einzig ein Mittel zur Unterdrückung der Massen sah. Wie im Nachhinein Marx die geistige Urheberschaft für den stalinistischen Gulag aufgebürdet wird, so ereilt Bakunin das Verdikt, mit seinem Insistieren auf einer Destruktion alles Bestehenden und einer Abschaffung jeglicher Privilegien den Boden für menschenverachtende Exzesse in der chinesischen Kulturrevolution bereitet zu haben. Der Maoismus war, in dieser Sichtweise, die Adaptierung des Marxismus hin zum "Bakunismus" in seinem anderen historischen Terrain (Alvin W. Gouldner, Against Fragmentation). Diese Interpretation unterschlägt aber, dass Bakunin nicht die Intellektuellen unter Kontrolle bringen und sie einem "radikalen Egalitarismus", einem totalitären System repressiver Gleichheit unterwerfen wollte: Ihm ging es – wie Marx – um die Emanzipation des Subjekts von den herrschenden Verhältnissen.
Lenins Ultrazentralismus
War der Marxismus ursprünglich eine anti-etatistische Theorie (so vage sie sein mochte), geriet er in der leninistischen Version in eine unauflösbare Verbindung mit der Idee der Staatsaktivität. Lenin trieb die Sorge um, von plötzlich auftretenden, nicht kanalisierten Kräften der Arbeitermassen fortgeschwemmt zu werden, eben jener Massen, die lediglich ein trade-unionistisches Bewusstsein besäßen und nicht in der Lage seien, über die ökonomische Beziehungssphäre zwischen Arbeitern und Unternehmern hinauszudenken. Spontaneität war für ihn Ausdruck der bürgerlichen Ideologie, der sozialistisches Bewusstsein unterdrücke. Daher bestehe die unbedingte Notwendigkeit, Spontaneität in jeder Form zu bekämpfen. Eine revolutionäre Avantgardepartei mit Berufskadern und quasi-militärischen Befehlsstrukturen sollte von außen politisches Klassenbewusstsein in die Massen hineintragen, diese durch Organisation von oben erziehen und dirigieren. Lenin war ein "Techniker" der Revolution, dem die Methoden, Instrumente und Organisationsmittel allemal wichtiger waren als die Emanzipation von Herrschaft und Hierarchie. Mit der Übernahme des Staatsapparates sicherten sich die Bolschewiki das notwendige Herrschaftsinstrumentarium, und mittels des vom kapitalistischen Profitstreben gereinigten tayloristischen Systems sollten die Disziplin der Werktätigen, ihre Kenntnisse und Fertigkeiten gehoben und die Arbeitsintensität gesteigert werden. Da vor der menschlichen Emanzipation die Voraussetzungen für den Sozialismus geschaffen werden mussten, wurde die aktive Beteiligung der Massen in eine mystische Zukunft hinausgeschoben. Im leninistischen Modell entbehrten die vagen demokratischen, libertären Ausführungen von Staat und Revolution (1917) einer jeglichen strukturellen Basis, so dass sie zu keiner Zeit ernsthaft in Lenins revolutionäre Strategie zu integrieren waren. Der bürokratische Zentralismus unterwarf die Arbeiterinnen einer neuen Herrschaftsschicht und eliminierte jegliche Form des autonomen Handelns.
Jede Abweichung von der herrschenden Doktrin, äußerte sie sich in der direkten Aktion oder dem Streben nach Selbstverwaltung, wurde unterdrückt, klagte sie doch den simultanen Ablauf von wirtschaftlichem Aufbau und menschlicher Emanzipation ein und stellte die Avantgarde in Frage. Da der Anarchismus als "umgestülpter bürgerlicher Individualismus" die "vereinigende und organisierende Kraft der Staatsmacht" negiere (Anarchismus und Sozialismus), musste er - wenn er sich bedrohlich manifestierte - ausgelöscht werden. Im leninistischen Staatsbetrieb duldete das Management keine Auflehnung, sondern forderte Unterwerfung und Disziplin ein, um das Plansoll zu erreichen. Die ungeschmälerte Freiheit lag dabei außerhalb der Vorgaben.
Rosa Luxemburg und Antonio Gramsci
Die von Lenin als "Disziplin" drapierte Beherrschung der Mehrheit durch eine privilegierte Minorität, die Auffassung, es reiche aus, wenn der Dirigentenstab der Bourgeoisie von einem revolutionär sich wähnenden Zentralkomitee entrissen werde, stieß schon früh auf die Kritik Rosa Luxemburgs, die als erste marxistische Theoretikerin den Begriff der Spontaneität ins Spiel brachte. Nicht sei es das Ziel, die Arbeiterinnen zum Kadavergehorsam zu erziehen, sondern vielmehr sollte sich die Partei auf die Rolle eines Sprechers und Transformators der Massenenergie beschränken, lediglich als "Dolmetscher des Massenwillens" agieren. Die gescheiterte russische Revolution von 1905 kommentierend, entwarf sie das Konzept des "Massenstreiks", der sich im Wesentlichen nicht vom anarchosyndikalistischen Generalstreik unterschied. Dass sie diese Taktik zur Aufnahme ins sozialdemokratische Arsenal empfahl, bedeutete ihrer Ansicht nach nicht eine "Ehrenrettung des Anarchismus", sondern dessen "geschichtliche Liquidierung". Die Revolution habe gezeigt, dass der Anarchismus "zum Aushängeschild für gemeine Diebe und Plünderer" geworden und nur "wie ein Rudel Haifische hinter dem Schlachtschiff der Revolution" hergeschwommen sei (Schriften zur Theorie der Spontaneität). Trotz dieser Denunziation war Luxemburg mit ihrem Beharren auf der Aktivität der Massen nicht weit entfernt von anarchistischen Modellen, von einem Sozialismus, der von ArbeiterInnenräten von unten nach oben angetrieben würde. "Rosa Luxemburg ist", meinte Daniel Guérin, "eines der verbindenden Elemente zwischen dem Anarchismus und dem authentischen Marxismus" (L'anarchisme).
In den Augen Antonio Gramscis ignorierten "Spontaneisten" und Anarchisten vollkommen die Hegemonie der Bourgeoisie, wenn sie sich voller Optimismus auf direkte Aktionen der Massen verließen, ohne aufkommende Oppositionsbewegungen so zu formen, dass sie eine tatsächliche Herausforderung des bestehenden Systems darstellten. Von der unbedingten Notwendigkeit von Staat, Partei und Autorität überzeugt, vertrat er die Auffassung, dass die anarchistischen Arbeiterinnen nicht Staat und Eigentum an sich bekämpften. sondern nur deren kapitalistischen Auswuchs. Der die Macht ergreifende "Arbeiterstaat" würde auch ihnen Freiheit und die Verwirklichung proletarischer Ideale eröffnen, als zentralisierte Macht sie vor Reaktion und Konterrevolution schützen. Im revolutionären Kampf agiere die Partei beispielgebend und wirke auf die Massen anspornend ein. Allein auf die Spontaneität sich zu verlassen und nicht systematisch am kreativen revolutionären Werk zu arbeiten, sei bloße Illusion von Ideologen und unbewusste Konterrevolution im voraus. Gramsci strebte eine Synthese von organisierter Planung und spontanen Elementen an. Zur revolutionären Umgestaltung seien sowohl die aktiven Massen als auch intellektuelle "Führer“ notwendig, die eher ideologische oder pädagogische denn instrumentelle Funktionen ausüben sollten. In gewisser Weise ähnelt dies der bakunistischen Vorstellung von den "Geburtshelfern der Revolution", deren latentes autoritäre Gedankengut bei Gramsci sich noch verstärkte. Da die Arbeiterklasse aufgrund der fehlenden ökonomischen Basis keine eigenen organischen Intellektuellen hervorzubringen vermöge, sei einzig die Avantgardepartei des Proletariats dazu fähig, politische Intellektuelle heranzubilden, welche die "revolutionäre Sache" vorantreiben könnten. Wie alle marxistischen Theoretiker sah er in Anarchisten bloße romantische Tollköpfe, die das Proletariat in Verwirrung stürzten und ins Verderben trieben. "Wer Herr der Geschichte ist und ihr den Rhythmus des Fortschritts aufzwingt", erklärt er 1919, "wer das sichere und unaufhaltsame Fortschreiten der kommunistischen Zivilisation bestimmt, das sind nicht die 'Halbstarken', das ist nicht das Lumpenproletariat, das sind nicht die Bohemiens, die Dilettanten, die langhaarigen und frenetischen Romantiker, sondern das sind die großen Massen der klassenbewussten Arbeiter, die stählernen Bataillone des bewussten und disziplinierten Proletariats." Im militaristischen Jargon wurde der "Geist der Verantwortung" beschworen, der "so schneidend und unversöhnlich" wie das "Schwert eines Scharfrichters"sein müsse,und angedroht wurde die grausame Notwendigkeit, Unfolgsamen "Disziplin und Treue mit Waffengewalt" aufzuzwingen, "um das gesellschaftliche Ganze vor dem Zusammenbruch und dem Verderben zu retten" (Der Staat und der Sozialismus).
Leo Trotzki und die antistalinistische Opposition
Wie ihre bürgerlichen Opponenten glaubten Marxisten an die Wissenschaft, Fortschritt und Erfolg und machten die wissenschaftliche und industrielle Rationalität zu ihrer eigenen. Stalin, der markanterweise 1906 mit einer dumpfen Tirade gegen den Anarchismus erstmals in Erscheinung getreten war, verdankte seine Popularität bei vielen westlichen Linken und liberalen fellow-travellers in den dreißiger Jahren dem Image des Erfolgsmenschen, der allen Widrigkeiten zum Trotz eine neue, bessere Welt schaffen wollte. In einer Zeit, da Depression, Faschismus und Krieg die menschliche Existenz bedrohten, erschien er als "flexibler" und "pragmatischer" Praktiker, der die "konkrete Utopie" vom "Sozialismus in einem Land" zu realisieren trachtete. Andere Alternativen wie Rätekommunismus oder Anarchismus galten den meisten Linken als realitätsferne Modelle, die den Anforderungen der Praxis nicht standhalten konnten. Sozialismus und Marxismus wurden mit dem "Fortschritt" in der Sowjetunion gleichgesetzt. Selbst Leo Trotzki, von den Stalinisten ins Exil getrieben, rückte davon nicht ab. Als einige seiner Anhänger die UdSSR als "bürokratischen Kollektivismus", als bloßen Unterdrückungsapparat einer neuen Herrschaftsklasse geißelten, insistierte er, dass die sowjetische Bürokratie (die er den rückständigen Verhältnissen anlastete) lediglich ein "episodischer Rückfall" sei. Vom zweiten Weltkrieg erhoffte er sich eine neuerliche sozialistische Revolution, die mit der Bürokratie aufräumte und eine Resurrektion der "sowjetischen Demokratie" auf einer weitaus höheren ökonomischen und kulturellen Ebene als 1918 bewirkte. Sollte diese Revolution ausbleiben, befürchtete er den Untergang der Zivilisation. Der bürokratische Rückfall wäre dann der organischen Unfähigkeit des Proletariats zuzuschreiben, zur herrschenden Klasse zu werden. Das sowjetische System wäre somit der Prototyp eines neuen Ausbeuterregimes im internationalen Maßstab. Wenn das Weltproletariat als unfähig sich erweise, die Mission zu erfüllen, die ihm die Geschichte anvertraut habe, bleibe nur einzugestehen, dass das auf den inneren Widersprüchen beruhende sozialistische Programm als bloße Utopie sich entlarvt habe, und der Zusammenbruch aller Hoffnungen auf eine sozialistische Revolution wäre die Folge, denn noch günstigere Bedingungen als nun seien nicht zu erwarten (L'U.R.S.S. dans la guerre).
Tatsächlich blieb die Revolution aus, und mit seiner Prophezeiung stieß L. Trotzki seine Anhänger in eine tiefe demoralisierende Krise. Wie viele Intellektuelle seit Marx hielt er Ausschau nach einem historischen Agenten, der die ersehnte Transformation herbeiführte. Aufgebürdet wurde diese Aufgabe einem mythologisierten Kollektiv namens "Proletariat", dessen revolutionäre Kraft zunächst einmal Projektion von Intellektuellen war, die auf diese Weise die eigene Ohnmächtigkeit kompensierten, indem sie anderen vorschrieben, wann und wo welche Aktion zu unternehmen sei, um eine bessere Welt herbeizuführen. Auch wenn marxistische Oppositionsgruppen mit Vehemenz den Stalinismus attackierten, blieben sie doch im Autoritarismus verstrickt, beanspruchten die gleiche autoritäre Machtposition, die sie ihren Rivalen vorwarfen. "Die revolutionäre Bewegung spiegelt den Zustand, den sie angreift, negativ wider" (Max Horkheimer, Autoritärer Staat). Dies traf nicht allein auf sektiererische Zirkel zu, die immer wieder die alten Dogmen bis zur Besinnungslosigkeit repetierten und gegen die realen Verhältnisse sich abschotteten, sondern auch auf jene Gruppen wie die Situationisten, die in den 1950er und 1960er Jahren die alten Verkrustungen von Marxismus und Anarchismus aufzubrechen hofften. Ihnen schwebte eine sofortige Realisierung des Reichs der Freiheit vor, in dem alle Formen von Verdinglichung und Entfremdung in ihrer Totalität abgeschafft und durch Formen unbeschränkter Subjektivität ersetzt wären. Trotz aller Kritik an Marx, Bakunin, Lenin, Trotzki und Georg Lukács hielten sie an der "historischen Mission" des Proletariats fest, das als "Klasse des Bewusstseins" in ihren Schriften fungierte: Ihm wurde die Aufgabe überantwortet, die Trennung von Subjekt und Objekt, Praxis und Theorie, Politik und Verwaltung in der "spektakulären Warengesellschaft" zu überwinden. Das Proletariat sei, postulierte Guy Debord als theoretisches Mundstück der Situationisten, "das in dieser Gesellschaft wirkende Negative" (Die Gesellschaft des Spektakels). Zwar postulierten sie eine neue revolutionäre Praxis im "alltäglichen Leben" ohne Autorität, Parteikader oder bürokratische Apparate, doch ahmten sie in einer grotesken Parodie leninistische Praktiken nach: Die selbst ernannte revolutionäre Avantgarde, die vorgeblich im Namen des "Proletariats" agierte, schuf sich eine exklusive internationale Mikro-Organisation mit einem Zentralrat, einem Chefideologen und einem Zentralorgan und schwang sich zu Führern der angeblich bewusstlosen Massen auf. Wie Marx in seinen Kämpfen um die Machtposition in der revolutionären Bewegung Widersacher von Wilhelm Weitling bis Bakunin dadurch auszustechen suchte, indem er ihre intellektuelle Fähigkeiten in Misskredit brachte und ihre vorgebliche Ignoranz öffentlich bloßzustellen trachtete, so warf Debord all sein intellektuelles Kapital in die Waagschale, um zu demonstrieren, dass er allein über die "richtige" und "wahre" Theorie verfügte, und per Exklusionspolitik entledigte er sich jener Konkurrenten, die seine Autorität und seien Führungsanspruch hätten unterminieren können.
Kritik des Marxismus
Das Dilemma bestand darin, dass sich selbst diese "Outlaw-Marxisten" (Alvin W. Gouldner) als Führungskräfte verstanden, die Theorien erarbeiteten und Direktiven ausgaben, denen andere zu folgen hatten. Damit reproduzierten die "revolutionären Linksintellektuellen" aber lediglich die "Laster der bürgerlichen Gesellschaft", wie Simone Weil 1934 kritisierte. "Unsere gesamte Zivilisation beruht auf der Spezialisierung, was die Knechtung der Ausführenden durch die Führenden bewirkt. Und auf einer solchen Basis kann man die Unterdrückung nur organisieren, aber nicht vermindem" (Unterdrückung und Freiheit). Pessimistisch, nach dem Triumph des Nazismus in Deutschland, erklärte sie, dass von den Menschen keine Hilfe zu erhoffen sei, und gerade das Proletariat erwies sich nicht als "Totengräber" des Kapitalismus. In dieser Gesellschaft setzten sich Rackets durch, exklusive, Macht ausübende und totale Unterwerfung einfordernde Cliquen, schrieb Max Horkheimer im amerikanischen Exil. Diese Herrschaftsform prägte auch die kommunistischen Parteien und die Gewerkschaften. "Das Racket-Muster, wie es für das Verhalten der Herrschenden gegenüber den Beherrschten typisch war, ist jetzt repräsentativ für alle menschlichen Beziehungen, selbst für die innerhalb der Arbeiterschaft. Der Unterschied zwischen dem Racket im Kapital und dem in der Arbeit liegt in der Tatsache, dass beim kapitalistischen Racket die gesamte Klasse profitiert, während das Racket der Arbeit als Monopol nur für ihre Führer und für die Arbeiteraristokratie fungiert. Die arbeitenden Massen sind die Objekte beider Formen; sie müssen das Ganze nur bezahlen" (Zur Soziologie der Klassenverhältnisse). Der Mythos von den "stählernen Bataillonen des bewussten und disziplinierten Proletariats" erwies sich aber gegenüber dieser Kritik als resistent.
Auch in der Neuen Linken triumphierte schließlich eine groteske "Proletophilie", welche die Gründung zahlloser leninistischer Polit-Sekten beförderte. All der alte Mist komme wieder, kommentierte Murray Bookchin (Post-Scarcity Anarchism) diese Entwicklung der pseudo-historischen Retro-Inszenierungen in den späten 1960ern. Für ihn war die Fabrik nicht der einzig entscheidende Ort der Auseinandersetzung; vielmehr müssten alle menschlichen Lebensbereiche in den Kampf um revolutionäre Veränderungen eingeschlossen werden. Es sei ein Irrtum der marxistischen Theorie, lediglich die ökonomische Ausbeutung zu bekämpfen, während andere Herrschaftsformen weiterbeständen oder gar ausgedehnt würden. Bookchin hielt die Vorstellung von Marxisten und Anarchosyndikalisten, ein System der Herrschaft und Hierarchie könne durch Selbstverwaltung überwunden werden, für simplistisch, denn diese taste nicht alle übrigen Formen der Unterdrückung in der bürgerlichen Gesellschaft an. "Soziale Verzerrungen und Regressionen können nicht länger in erster Linie durch Eigentumsverhältnisse erklärt noch allein durch sozio-ökonomische Maßnahmen, wie etwa Verstaatlichung, Kollektivierung oder ,Arbeitsplatzdemokratie', berichtigt werden. Denn was all diese angebotenen Lösungen der vergifteten Natur der modernen Gesellschaft explodieren lässt, ist das angeschwollene Legat von Befehls- und Gehorsamsbeziehungen – mit einem Wort: Hierarchie als grundlegenderes Substrat aller Klassenbeziehungen" (Were We Wrong?). In den Augen Bookchins boten weder Marxismus noch Anarchosyndikalismus Gewähr für eine radikale Umgestaltung des Bestehenden. Allein ein ökologisch und kommunitär orientierter Anarchismus könne die ungeschmälerte Freiheit realisieren und sei Garant dafür, dass ein revolutionäres Projekt nicht allmählich in Formen der Theorie und Praxis abgleite, die inhärent anfällig für opportunistische Kompromisse seien. Zielpunkt seiner oft harschen und polemischen Kritik sind vor allem neo-marxistische Akademiker, denen er vorwirft, sie hätten sich aus der Gesellschaft in universitäre Zirkel zurückgezogen und lieferten keinen Beitrag zur emanzipatorischen Praxis. Anstatt zu helfen, die Welt zu verändern, interpretierten sie sie lediglich, was sie in krassen Gegensatz zu Marx stelle (Beyond Neo-Marxism). In ihrer Jugend als "Neue Linke" aufgebrochen, um die Institutionen des Staates zu "demokratisieren" und zu "politisieren", zu verändern und neu zu gestalten, wurden diese Veteranen des "langen Marsches" von diesen Institutionen ge- und verformt. Auf den akademischen Territorien der Herrschaft hat der Marxismus mit seinen verschiedenen Ausprägungen ein Refugium gefunden und ist selbst Teil des "akademischen Rackets" (Max Horkheimer) geworden, während seine Beiträge zu den (mittlerweile auch mit einer historischen Patina überzogenen) "neuen sozialen Bewegungen" in den 1970er und 1980er Jahren marginal blieben.
Nach dem Untergang
Mit der Liquidation der realsozialistischen Staatsunternehmen und dem scheinbaren Triumph des kapitalistischen Sozialdarwinismus sahen sich auch akademische Marxisten vor die Sinn-und Existenzfrage gestellt, und allerorts bildeten sich linksintellektuelle Krisenstäbe, um nach der Implosion der marxistisch-leninistischen Altbauten die Chancen eines Neubeginns für das "sozialistische Projekt" auszuloten. Zweifelsohne habe es der Marxismus nötig, kritisiert und erneuert zu werden, konzediert der Pariser Sozialforscher Michael Löwy, vor allem deshalb, weil sein Bruch mit dem produktivistischen Muster des Industriekapitalismus und den Grundlagen der modernen bürgerlichen Zivilisation nicht radikal genug gewesen sei. Zwecks Revitalisierung des Marxismus wollte Löwy Ökologie, Pazifismus, Feminismus und Befreiungstheologie einverleiben, als wären diese ohne Schwierigkeiten im marxistischen Theoriegebäude unterzubringen. Auch dem Herausgeber der traditionellen New Left Review, Robin Blackburn, schwebte nach dem Untergang eine "vollkommene Erneuerung und Reorientierung" des marxistischen "Projekts" vor, um eine "wahrhaft demokratische Kultur und politische Ordnung" zu schaffen, wobei die Integration ökologischer und kommunistischer Ansätze helfen sollten (Robin Blackburn, Fin de Siècle). All dies aber führte nicht zu einer Rekonziliation von Marxismus und Anarchismus. Die Anerkennung dessen, was früher als Ausgeburt eines kleinbürgerlichen Romantizismus diffamiert wurde, läuft letztlich auf dreiste Briganterie hinaus: Um das eigene Überleben zu sichern, will man all dessen habhaft, was Hoffnung aufs Weiterleben verspricht, ohne der Mühe sich zu unterziehen, den Marxismus wirklich neu zu denken.
Die Digitalisierung nahezu aller Lebensbereiche und die Globalisierung des ökonomischen Systems seit den 1980er Jahren erzwangen schließlich auch ein Weiterdenken jenseits der gestanzten Muster der Vergangenheit, das zumindest Ansätze für eine Kritik der veränderten herrschenden Verhältnisse bot. So knüpft beispielsweise Nick Dyer-Witheford in seinem Buch Cyber-Marx mit seiner Vorstellung eines "autonomistischen Marxismus" an die italienischen Theoretiker Antonio Negri und Mario Tronti an. In seinen Augen hat die globale Restrukturierung des Kapitalismus keineswegs die alten Widersprüche zwischen Arbeit und Kapital aufgehoben, sondern vielmehr auf eine neue Ebene gebracht. Im Kreislauf von automatisierten Fabriken, interaktiven Medien, virtuellen Seminaren, gentechnologischen Laboratorien und globalen Netzwerken kaum durchschaubarer Konzernstrukturen hat sich zweierlei gebildet: gigantische Monopole, welche die Herrschaft über ganze Staatengebilde ausüben, als auch subversive Guerilla-Einheiten, die entweder isoliert oder postmodern über das World Wide Web virtuell organisiert gegen die Übermacht der technologischen Kontrolle mittels Sabotage oder Arbeitsverweigerung rebellieren. Vieles in seiner Analyse der Verflechtungen des digitalen Kapitalismus erscheint schlüssig, doch mutet seine Abgrenzung zur "Verzweiflung" von Horkheimer und Adorno in der Betonung der "Sabotage" und des "Widerstandes" gegen die Macht der Herrschaft etwas antiquiert an. Zuweilen erinnert die Rede von der medialen Subversion an die Diskussionen der 1970er Jahre und das Rekurrieren auf das demokratische Potenzial des Internets – das es zweifelsohne besitzt –- an Hans Magnus Enzensbergers Baukasten zu einer Theorie der Medien (1970). Auch wenn sich "Hacktivisten" wie die "Electrohippies" oder das "Electronic Disturbance Theater" als Guerilla im Internet etablieren konnten, ist dies nicht der Beweis für den Beginn eines subversiven Kampfes an den Schnittstellen des digitalen Kapitalismus.
Dialektik der Niederlage
Wie Russell Jacoby treffend anmerkt, sind Erfolg und Niederlage dialektische Kategorien: Der zeitweilige Erfolg des sowjetischen Marxismus trug oft zur Niederlage anderer Marxismen oder linksoppositioneller Strömungen bei. Sowohl Erfolg als auch Niederlage sagen nichts über die Qualität oder Wahrheit des jeweiligen Ideenkonstrukts aus. Die Niederlagen des Anarchismus stellen kein Urteil über den Wert seiner Theorien und Werte dar. Ebenso wenig ist der Marxismus durch seine Verstrickung in die politische oder akademische Herrschaft desavouiert oder der Kapitalismus auf Grund seines momentanen Triumphes durch die Geschichte legitimiert. Es gehört zu den tragischen Ironien der Geschichte, dass der von Bakunin heftig attackierte „Staatssozialismus“ in der Phase seines herrschaftlichen Triumphes die linke Opposition zum Schweigen brachte, und nach seinem Ende seine linken Kritiker mit in den Abgrund riss. Der westliche Marxismus lebt in den akademischen Reservaten letztlich nur als postmodernes Gespenst einer kulturell depravierten Bourgeoisie fort. Auf der anderen Seite hat es der Anarchismus versäumt, eine stimmige, radikale Kritik der bestehenden Verhältnisse zu artikulieren. Selbst ein ehemals innovativer Kritiker wie Bookchin verrannte sich im Laufe der Zeit in einen dogmatischen Rigorismus, der nichts außer den eigenen Erkenntnissen gelten lassen konnte. Wenn Marxismus und Anarchismus entweder zur Apologetik der herrschenden Beliebigkeit oder zur militant gestylten Racket-Ideologie, die zur Heranbildung blinder Gefolgschaften statt kritischer Individuen beiträgt, mutieren, ist ihr einst radikales Ingenium abgestorben. Zu besinnen wäre sich, mit Marx gesprochen, auf die "rücksichtslose Kritik alles Bestehenden, rücksichtslos sowohl in dem Sinne, dass die Kritik sich nicht vor ihren Resultaten fürchtet und ebensowenig vor dem Konflikte mit den vorhandenen Mächten" (MEW, Bd. 1). So geht es weder um die Verteidigung des Marxismus noch um jene des Anarchismus, sondern um die Verwirklichung der Utopie einer besseren Gesellschaft.
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Autor: Jörg Auberg
Quelle: Dieser Artikel erschien erstmals in: Lexikon der Anarchie: Encyclopaedia of Anarchy. Lexique de l'anarchie. - Hrsg. von Hans Jürgen Degen. - Bösdorf: Verlag Schwarzer Nachtschatten, 1993-1996 (5 Lieferungen). - Loseblattsammlung in 2 Ringbuchordnern (alph. sortiert, jeder Beitrag mit separater Paginierung). Für die vorliegende Ausgabe wurde er überarbeitet.
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