Dieter Keiner - Gedenkseite: Unterschied zwischen den Versionen
Knobi (Diskussion | Beiträge) (Die Seite wurde neu angelegt: „'''Dr. Dieter Keiner (1940-2009) --- Am 20.3.2010, zum 70. Geburtstag von Dieter Keiner, werden wir in der ESG-Aula (Breul 43, Münster) ab 20 Uhr eine Erinner…“) |
Knobi (Diskussion | Beiträge) |
||
Zeile 110: | Zeile 110: | ||
--- | --- | ||
− | |||
− | |||
− | |||
− | |||
− |
Version vom 5. März 2010, 09:12 Uhr
Dr. Dieter Keiner (1940-2009)
---
Am 20.3.2010, zum 70. Geburtstag von Dieter Keiner, werden wir in der ESG-Aula (Breul 43, Münster) ab 20 Uhr eine Erinnerungsveranstaltung für ihn machen. Alle FreundInnen sind herzlich eingeladen. Infos: 0251/4829057, redaktion@graswurzel.net
---
Nachruf aus: graswurzelrevolution Nr. 347 (Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, 39. Jahrgang, März 2010, www.graswurzel.net):
“the beat goes on“1
Dr. Dieter Keiner (geboren am 20.3.1940 in Ehringshausen – gestorben am 28.12.2009 in Münster)
Persönliche Erinnerungen an einen lieben Freund und politischen Weggefährten
„Nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein.“ Dieses Zitat von Kurt Tucholsky charakterisiert auch eine Lebensmaxime Dieter Keiners.
Aufgewachsen in der Kriegs- und Nachkriegszeit in einem kleinen Dorf Mittelhessens war er nach dem Abitur in der Studentenbewegung tätig und wich immer mehr vom vorgezeichneten Weg der Konformität im konservativ-rückwärts gewandten Adenauerstaat ab.
Er studierte Anglistik, Romanistik, Philosophie und Sozialwissenschaften in Marburg, Münster und am King’s College in London. 1967 machte er sein Erstes, 1970 sein Zweites Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien, 1997 promovierte er zum Dr. phil. mit einer Dissertation über „Erziehungswissenschaft und Bildungspolitik“. Am Münsteraner Institut für Erziehungswissenschaft war er seit 1971 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und seit 1973 als Akademischer Oberrat tätig.
Als undogmatischer Linker engagierte er sich in den sozialen Bewegungen, in der GEW, in der BundesAssistentenKonferenz (BAK) und im Bund Demokratischer Wissenschaftler (BdWi). Wie viele Intellektuelle seiner Generation war er inspiriert durch die Musik u.a. von Bob Dylan, Jimi Hendrix, Joan Baez und Franz Josef Degenhardt. Politisiert wurde er in der 68er-Studentenbewegung, mit der er sich gegen Vietnamkrieg, Notstandsgesetze und den „Muff von 1.000 Jahren“ stemmte. Beim wissenschaftlichen Fachpublikum wurde Dieter bundesweit bekannt, z.B. von 1979 bis 1988 als Herausgeber und Verleger der Vierteljahresschrift Englisch Amerikanische Studien - Zeitschrift für Unterricht, Wissenschaft & Politik, sowie als Autor zu sozial- und erziehungswissenschaftlichen Themen.
In Lehre und Forschung widmete er sich insbesondere den Fragen der Mehrsprachigkeit, der Alphabetisierung, der Bildungspolitik der BRD, der pädagogisch-politischen Konsequenzen der Globalisierung sowie der Internationalisierung der Bildungspolitik und der Geschichte der Neuen Linken.
Aus Anlass des NATO-Angriffskriegs gegen Jugoslawien arbeitete er ab 1999 zusammen mit anderen AntimilitaristInnen verschiedener politischer Strömungen im Münsteraner „Aktionsbündnis gegen den Krieg“, das u.a. zahlreiche Demos und eine bundesweite Kampagne zur Abschaffung der NATO initiierte.
Nachdem im Februar 1999 das GWR-Redaktionsbüro in Münster eingerichtet wurde, verfolgte und begleitete er die Entwicklung der GWR kontinuierlich. Einmal nahm er an einem Treffen des GWR-HerausgeberInnenkreises und 2002 am 30 Jahre Graswurzelrevolution-Kongress teil. Für die Ende April 1999 mit einer Auflage von 40.000 herausgekommene, zweite GWR-Aktionszeitung gegen den Jugoslawienkrieg analysierte er „Die neue Auschwitz-Lüge in der Kriegspropaganda der Bundesregierung“.2
Münster war eine der Städte, in denen nahezu wöchentlich gegen den Krieg demonstriert wurde. Dieter Keiner gehörte häufig zu den Rednern. Seine Reden waren prägnant, ruhig, mit sonorer Stimme vorgetragen und dabei oft ausschweifend. Ja, aus Sicht so mancher vielleicht manchmal sehr, sehr lang. Dieter war eine moralische Instanz, ein kritisches Gewissen. Er war Teil einer radikalen linken Gegenbewegung, die Widerstand leistet u.a. gegen Militarisierung und Sozialkahlschlag.
Seine lokalpolitischen Kolumnen in dem umsonst und in hoher Auflage verbreiteten Anzeigenblättchen „na dann...“ sorgten dafür, dass seine Gesellschaftskritik auch jenseits von Uni-Seminaren und Demos wahrgenommen wurde. Nach ein paar Jahren beendeten die „na dann“-Herausgeber die Arbeit mit ihm. Seine Kolumnen, die einzig niveauvollen Beiträge in diesem Werbeblättchen, seien „zu negativ“.
Daraufhin produzierte er seine „In welcher Stadt leben wir eigentlich?“-Kolumnen als regelmäßige Radiosendung im Bürgerfunk.
Persönliche Erinnerungen
1986 verließ ich mein verschlafenes Heimatstädtchen Unna und zog nach Münster, um dort mein Studium der Soziologie, Politik und Erziehungswissenschaften aufzunehmen. Bald darauf lernte ich Dieter Keiner kennen. Als Student pilgerte ich in seine Seminare.
Dieter war ein warmherziger Mensch mit schwarzem Hut, Schnäuzer und oft im schwarzen Mantel. Sein angenehmer Händedruck und seine ruhige Stimme verströmten das Gefühl von Vertrauen und großer menschlicher Nähe. Dieters Lehrveranstaltungen hatten einen außergewöhnlichen Charakter. Hier fand im besten Sinne Politisierung statt, hier wurde aufgeklärt über Macht- und Herrschaftsverhältnisse, hier wurden Fragen erörtert, die anderswo tabu waren und es oft bis heute sind.
Keiner mischte sich ein
Dieter Keiner war einer der wenigen Dozenten, die das Risiko eingingen, ihre Finger in die Wunden offensichtlicher sozialer und politischer Widersprüche zu legen. Er stellte unbequeme Fragen, wo viele aus Staatsräson, aus Angst um die eigene Karriere, aus Opportunismus lieber den Mund hielten.
Er war kein Duckmäuser, kein Langweiler, kein angepasster Karrierist, sondern ein kritischer Wissenschaftler im besten Sinne. Dabei hat er Herausforderungen an eine alternative Theorieentwicklung und Perspektiven einer herrschafts- und kapitalismuskritischen Wissenschaft aufgezeigt, die als Sandkörner im Räderwerk der von Noam Chomsky beschriebenen „Konsens-Fabrik“ wirken könnten.
Ich erinnere mich gut an zwei Seminare, die er 1989/90 zum Themenkomplex „RAF und Staat“ angeboten hatte. Damals nahmen nur 15 bis 20 Leute teil. Dies hing sicher damit zusammen, dass 1989 die Terroristenhysterie noch keineswegs Geschichte war. Die meisten Menschen hatten in dieser Zeit nicht den Mut, sich mit der Problematik auch staatskritisch auseinander zu setzen, weil sie befürchteten, als „Sympathisanten“ stigmatisiert zu werden. So nahmen vor allem AktivistInnen aus der libertären Szene an Dieters Seminaren teil. Bis auf eine Ausnahme: Ein Student outete sich als Ex-Bundeswehrsoldat, der sich politisch als konservativ einschätzte.
Nach den beiden Semestern bedankte er sich bei Dieter. Er habe noch kein Seminar erlebt, das ihn so sehr zum Um- und Nachdenken gebracht habe, wie dieses.
In den folgenden Jahren haben Dieter und ich viele intensive Gespräche geführt und es entwickelte sich eine tiefe Freundschaft. Ich habe am Institut für Soziologie eine Dissertation über „Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland“ geschrieben und mich in diesem Zusammenhang intensiv auch mit „grauer Literatur“, mit der RAF sowie der Entwicklung sozialer Bewegungen beschäftigt. So war es folgerichtig, dass Dieter und ich 1997 gemeinsam das Seminar „Twenty Years After: Deutscher Herbst 1977“ geleitet und vorab einen 380 DIN A4-Seiten umfassenden Reader zum Thema erstellt haben.
Zu unserer Überraschung kamen zur ersten Sitzung 200 StudentInnen, die aufgrund von Platzmangel nicht alle in den Seminarraum passten. In den folgenden Monaten pendelte sich die TeilnehmerInnenzahl auf etwa 120 ein. 1997 war es das einzige Seminar zum Thema, an einer Uni mit 50.000 Studierenden, und zu einer Zeit, in der im Fernsehen mit Hilfe von reißerischen „Doku-Spielfilmen“ von Heinrich Breloer an die Schleyerentführung 1977 „erinnert“ wurde.
Als die StudentInnen 1997/98 in den Bildungs-Streik gingen, wurden die meisten Lehrveranstaltungen bestreikt. Unser Seminar wurde davon ausgenommen. Die Streikenden waren sich einig, dass es weitergehen soll, denn wann und wo sonst hätten sie live zum Beispiel mit Klaus Viehmann (Ex-Bewegung 2. Juni) über Themen wie „Triple Oppression. Alternative Theorieentwicklung im Kontext von RAF und Deutschem Herbst“ diskutieren können?
In einem der Radiointerviews, die Klaus Blödow 1997 für den Bürgerfunk im Studio des Medienforums mit Dieter und mir gemacht hat, erläuterte Dieter seine Beweggründe: „Ich beschäftige mich seit Jahren mit der Geschichte der RAF, aus unterschiedlichen Gründen. Ein Interesse, das mich als Erziehungswissenschaftler treibt, ist zum Beispiel die Frage, wie sich Menschen in der Bundesrepublik seit den 50er Jahren entwickelt haben und wie es verständlich gemacht werden kann, dass Menschen zu Terroristen geworden sind und welche gesellschaftlichen Hintergründe das hat.
Welches Zusammenspiel von RAF und Staat hat es gegeben, das bestimmte biographische Entwicklungen in eine Richtung getrieben hat? Das ist für mich ein wichtiger Gesichtspunkt.
Ein weiterer, der dazu geführt hat, jetzt dieses Seminar zu machen, ist, dass der ‚Deutsche Herbst’ als Thema in der breiten Öffentlichkeit, in den Medien präsent ist, aber offenbar in der Wissenschaft kaum eine Rolle spielt.
Wir versuchen in diesem Seminar deutlich zu machen, dass die Geschichte der Bundesrepublik für die Generation, die wir jetzt ansprechen, einen anderen Verlauf genommen und damit auch in gewisser Weise andere Lebensbedingungen mitgebracht hätte, wenn es die RAF und den ‚Deutschen Herbst’ nicht gegeben hätte. Von daher ist es wichtig, von der Wissenschaft aus nach Ursachen und gesellschaftlichen Bedingungen zu fragen und aus dieser öffentlichen Schwarzweißmalerei heraus zu kommen. Das heißt, für uns ist in diesem Seminar wichtig, nicht nur über die RAF, nicht nur über die APO, nicht nur über die Studentenbewegung ‘68, sondern immer auch über das Handeln des Staates zu reden, über die Rolle der Medien, insbesondere der Springerpresse in der Eskalation und in ihrer Verantwortung für die Eskalation, die in den 70er Jahren stattgefunden hat.“
2001 und 2002 organisierten Dieter, Peter Schönhöffer und ich an der Uni die Ringvorlesung „Kapitalismus und Weltgesellschaft heute – Analyse, Kritik, Perspektive“. Sie wurde mit bis zu 200 TeilnehmerInnen pro Veranstaltung und ReferentInnen wie Jörg Huffschmidt, Ulrich Brand, H.J. Krysmanski, Pedro Morazán, Heike Walk, Friederike Habermann, Michael Schiffmann und Alex Demirovic zu einem Highlight, das Menschen auch außerhalb der Uni erreichte.
Sei es im Zusammenhang mit den Veranstaltungsreihen des Infoladens Bankrott oder der Initiative Freie Kinderschule Münster e.V., unsere Wege überschnitten sich immer wieder und Dieter war gerne bereit, zu Krieg, Militarisierung, Alternative Pädagogik, PISA, Neue Armut und vielen anderen Themen zu referieren.
Ein solidarischer Freund und Genosse
Für mich war Dieter kein Pauker, sondern ein wirklicher Lehrer, eine Ausnahmeerscheinung. Ein Mensch mit Ecken, Kanten, Rückgrat und Zivilcourage. Einer, der sich einmischt, sich nicht in den Elfenbeinturm zurückzieht, sondern laut Nein! sagt, wenn die Würde des Menschen angetastet wird.
Auf seine Solidarität konnte ich zählen, auch in einer Situation, als ich in Münster öffentlich wegen eines Konflikts mit dem grünen Bundestagsabgeordneten Winfried Nachtwei unter Beschuss stand.3
Kurz vor seiner Pensionierung erkrankte Dieter an Krebs. Er hat ihn besiegt, auch dank seiner Partnerin Ulla Bracht, mit der er lebte und wissenschaftlich zusammen arbeitete.
Zu seinem 66. Geburtstag konnten wir 2006 zusammen mit vielen FreundInnen Dieters Pensionierung, das Erscheinen der von Ulla Bracht im Peter Lang Verlag herausgegebenen Festschrift „Leben, Texte, Kontexte“ und den Sieg über den Krebs feiern.
Zwei Jahre später erkrankte Dieter an ALS (Amyotrophe Lateralsklerose), einer seltenen degenerativen Erkrankung des motorischen Nervensystems, deren Ursache unbekannt ist. Bei dieser unheilbaren und tödlichen Krankheit kommt es zu einer fortschreitenden und irreversiblen Schädigung der Nervenzellen, die für die Muskelbewegungen verantwortlich sind. Ein Jahr lang hat sich Ulla liebevoll und rund um die Uhr um Dieter gekümmert und versucht die Symptome dieser grausamen Krankheit zu lindern.
Am 28. Dezember 2009 ist Dieter im Alter von 69 Jahren gestorben.
„Der Tod verbirgt kein Geheimnis. Er öffnet keine Tür. Er ist das Ende eines Menschen. Was von ihm überlebt, ist das, was er anderen Menschen gegeben hat, was in ihrer Erinnerung bleibt“, schrieb der auch von Dieter hochgeschätzte Norbert Elias.
Dieter, geliebter Freund und Genosse, Du wirst uns immer in Erinnerung bleiben.
Auch in Deinem Sinne wollen wir weiter kämpfen gegen Krieg und Militarisierung, für eine solidarische Gesellschaft, für eine menschengerechte, freiheitlich-sozialistische Welt.
Bernd Drücke, Februar 2010
Anmerkungen: 1 Ein Zitat aus Dieter Keiners Widmung, die er mir in sein Buch „Erziehungswissenschaft und Bildungspolitik“ (Peter Lang Verlag, Frankfurt/M. 1998) geschrieben hat.
2 Dieter Keiner in der Graswurzelrevolution: Die neue Auschwitz-Lüge in der Kriegspropaganda der Bundesregierung, in: GWR 239, Mai 1999, S. 11; Wie sich ein aktiver Befürworter des NATO-Krieges seine Schleichpfade trampelt und die Fallen, die er sich selber bastelt, anderen anlastet, in: GWR 255, Januar 2001, S. 18 ; Me und Bobby D – oder: Der ‚runde’ Geburtstag auf der Never Ending Tour, in: GWR 260, Sommer 2001, S. 5; Von der Wiege bis zur Bahre - das Kind wird Mensch und früh zur Ware, Anmerkungen zur PISA-Studie im Anschluß an den GWR-Beitrag von Ulrich Klemm, in: GWR 267, März 2002, S. 7
3 Siehe dazu: Bernd Drücke (Hg.), ja! Anarchismus, Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert, Karin Kramer Verlag, Berlin 2006, S. 176 ff.
---