Wir empfehlen:


Christian Sigrist - Gedenkseite: Unterschied zwischen den Versionen

Aus DadAWeb
Wechseln zu: Navigation, Suche
Zeile 60: Zeile 60:
 
Aus: [http://www.zeitschrift-peripherie.de/ Peripherie. Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt, Nr. 137 (2015)]
 
Aus: [http://www.zeitschrift-peripherie.de/ Peripherie. Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt, Nr. 137 (2015)]
  
 +
<br><br>
 +
==Zum Tod von Prof. Dr. Christian Sigrist – Bis zuletzt gegen Wilhelm II. Von Jörg Rostek==
 +
 +
Christian Sigrist bei einer antimilitaristischen Veranstaltung der Grünen in Marl am 15.02.2012: Thema war die Militarisierung der Hochschulen. Foto: Jörg Rostek
 +
 +
Der Soziologe Christian Sigrist war nicht nur ein kritischer Intellektueller und engagierter Lehrer und Wissenschaftler, wie die Westfälische Wilhelms-Universität heute in einer Pressemitteilung schreibt; er war einer der größten Kritiker der Benennung der Wilhelms-Universität Münster nach Kaiser Wilhelm II. und lehnte diesen Namen bis zuletzt ab. So führte Christian Sigrist im Jahr 1997 in der Debatte um die Umbenennung der Westfälischen Wilhelms- Universität als Mitglied einer entsprechenden Universitätkommission in einer Vorlage („Wilhelm II. Und der Antisemitismus – Vorlage für die Universitätskommission: Namensänderung der WWU?“, hier als pdf) aus, dass durch die Person Wilhelm II. eine antisemitische und rassenideologische Gesinnung “die Machtmittel hatte, die aus dem Rassenwahn hervorgehenden Vernichtungsphantasien wenigstens in den afrikanischen Kolonien zu realisieren“. Rassistische Ideologie und Militärismus hätten sich, so Sigrist, in der wilhelminischen Kolonialpolitik “verhängnisvoll kombiniert.”
 +
 +
Christian Sigrist macht in seiner Schrift Wilhelm II. direkt für den „versuchten Genozid an den Herero und den versuchten Ethnozid an den Nama im deutschen Schutzgebiet Südwestafrika“ verantwortlich. Erst auf Drängen des damaligen Reichskanzlers Bülow, sei Wilhelm II. überredet worden, den „Ausrottungsbefehl“ abzumildern. Laut Schätzungen, schreibt Sigrist, hätten nur ein Drittel der Herero die Vernichtung überlebt.
 +
 +
„Dass der Krieg die Herero als Nation nicht definitiv auslöschen konnte, ändert nichts daran, dass dieses Ziel verfolgt und vom Kaiser selbst gebilligt wurde. Auch das schlechte Beispiel, das andere Kolonialmächte gaben, z.B. die Briten im Burenkrieg, mindert die persönliche Schuld des Kaisers nicht“, so Sigrist und schließt seine Schrift mit dem Satz: „Dass diese Phantasien zur vernichtenden Gewalt wurden in einer den Kaiser mit Schuld beladenden Weise schließt aus, dass die Universität Münster im Bewusstsein dieser Zusammenhänge weiterhin seinen Namen trägt.“
 +
 +
Keine Frage, dass dieser Satz heute noch gilt. Traurige Tatsache: Die Universitätskommission zur Umbenennung der Universität Münster sprach sich mit 6:4 Stimmen für die Umbenennung aus (siehe iley-Artikel). Die Entscheidung darüber ließ der Senat jedoch im Sande verlaufen, “bis das Rektorat die Sache endgültig für erledigt erklärte”.
 +
 +
Jörg Rostek, 26. Februar 2015
 
<br><br>
 
<br><br>
 
=Werke (eine Auswahl)=
 
=Werke (eine Auswahl)=

Version vom 6. März 2015, 18:27 Uhr

Zurück zum DadA-Memorial


Christian Sigrist als Redner bei der Einweihung der Paul-Wulf-Skulptur "Münsters Geschichte von unten" am 5.9.2010 in Münster. Foto: Volker Pade (Freundeskreis Paul Wulf)

Christian Sigrist ist tot

Am 14. Februar 2015 ist in Münster der libertär-marxistische Ethnologe und Soziologe Christian Sigrist gestorben.

Christian Sigrist (geb. am 25. März 1935 in St. Blasien) promovierte 1965 mit einer Studie über Segmentäre Gesellschaften in Afrika und unternahm in der Folgezeit Feldforschungen in Afghanistan und Guiné-Bissau. Sigrists Forschung konzentrierte sich auf die Gebiete: Theorie der Übergangsgesellschaften, Befreiungsbewegungen, Agrar-, Rechts-, Entwicklungssoziologie, Anthropologie. Er veröffentlichte darüber hinaus zahlreichen Artikel und Reportagen zu Problemen der Dritten Welt.

Bekannt wurde Sigrist vor allem durch seine Studie "Regulierte Anarchie. Untersuchungen zum Fehlen und zur Entstehung politischer Herrschaft in segmentären Gesellschaften Afrikas", mit der er maßgeblich dazu beigetragen hat, dass die deutschsprachigen Anthropologie und Ethnologie in den 1960er und 1970er Jahren den Anschluss an die libertäre Schule der angloamerikanischen Social Anthropology gefunden hat.

Seit 1971 war Sigrist bis zu seiner Emeretierung im Jahr 2000 als Professor für Soziologie an der Universität in Münster tätig. Ab 1978 war er zudem als agrarsoziologischer Berater des kapverdischen Ministers für ländliche Entwicklung aktiv.

Wer seine Erinnerungen an Christian Sigrist mit uns teilen möchte, kann sie auf der Diskussions-Seite veröffentlichen. Wir übernehmen dann die Texte hier auf die Christian-Sigrist-Gedenkseite.

Falls jemand Probleme mit dem Schreiben auf der Diskussions-Seite haben sollte, der kann uns seinen Text und gerne auch Fotos zur Veröffentlichung auf der Gedenkseite per E-Mail schicken an: redaktion@dadaweb.de.

Jochen Schmück
Redaktion DadAWeb.de



Einladung zur Christian Sigrist-Gedenkveranstaltung

Liebe Freundinnen, Freunde und Weggefährten von Christian Sigrist,

hiermit lade ich Euch ganz herzlich zur Christian Sigrist-Gedenkveranstaltung ein. Die Feier findet am 15. Juni ab 18 Uhr in der Brücke (Wilmergasse, Münster) statt. Es würde mich sehr freuen, wenn Ihr kommt und Eure Erinnerungen an Christian mit uns teilt.

Damit ich einschätzen kann, wieviele Menschen ungefähr kommen, teilt mir bitte mit, ob Ihr teilnehmen wollt. Wenn Ihr einen Redebeitrag halten möchtet, teilt mir das bitte ebenfalls mit, damit ich das bei der Planung der Feier berücksichtigen kann.

Für den musikalischen Teil der Veranstaltung werden Nils Zurawski und Reinald Döbel sorgen, wie schon bei der sehr bewegenden Gedenkfeier für Ute Sigrist 2014.

Bis jetzt sind schon Nachrufe in der "jungen Welt", im "Freitag" und auf "iley" erschienen. Wolf-Dieter Narrs Nachruf auf Christian erscheint voraussichtlich im "Argument". Ich werde für die Graswurzelrevolution Nr. 398 einen Nachruf schreiben.

Es wäre schön, wenn Ihr Eure Nachrufe auf Christian, sowie Fotos und Erinnerungen an Jochen Schmück mailt, damit er die Texte und Bilder mit Quellenangabe [hier] auf der Gedenkseite veröffentlichen kann: [mailto: redaktion@dadaweb.de redaktion@dadaweb.de]

Christian wird am 16. April um 14 Uhr in Heidelberg beerdigt. Die Beerdigung wird auf Wunsch der Familie Sigrist im kleinen Kreis stattfinden.

Wir werden Christian nicht vergessen.

Alles Liebe,
Bernd Drücke
Redaktion Graswurzelrevolution
Münster, 3. März 2015



Christian Sigrist (1935-2015)

Mitte Februar 2015 verstarb Christian Sigrist plötzlich infolge eines häuslichen Unfalls. Wir trauern um einen ungewöhnlichen Menschen, der immer wieder wichtige Impulse zu kritischem Denken gegeben hat, an dem sich sicher auch viele gerieben haben. Vor allem war Christian Sigrist ein Exponent radikaler kritischer Soziologie und Anthropologie. Dies kam vor allem in seiner konsequenten Kritik an Vorstellungen der Unvermeidlichkeit und Universalität der Herrschaft von Menschen über Menschen zum Ausdruck.

Zutiefst geprägt durch die Erfahrung der Diskriminierung und existenziellen Gefährdung unter dem NS-Regime, verband Christian Sigrist seit seinen Studienjahren in Freiburg i.Br. die Leidenschaft für sozialwissenschaftliche Forschung und Theoriebildung mit einem politischen Engagement, das manche aus seinem Umkreis gelegentlich auch überforderte. Vor dem Hintergrund der Begegnung mit der social anthropology am Institut für Soziologie und Ethnologie in Heidelberg entstand seine Dissertation, zugleich sein opus magnum: Regulierte Anarchie. Den auf Émile Durkheim zurückgehenden theoretischen Ansatz verband Christian Sigrist mit der komparativen Analyse vorliegender Studien über akephale Gesellschaften, zumal in Afrika, die sich angesichts des Fehlens oder gar der bewussten Vermeidung einer Zentralinstanz als herrschaftsfrei erwiesen. Wie Sigrist später präzisierte, schloss dies deutliche Machtgefälle vor allem aufgrund der Geschlechterverhältnisse, aber auch entlang von Altersstufen, freilich nicht aus. Zunächst führte ihn die Frage nach der andauernden Realität solcher Verhältnisse nach Afghanistan und auf die Geheimnisse des paschtunischen Rechts- und Ehrenkodex, des Pashtunwali. Diese Forschung begründete eine lebenslange Faszination und ein persönliches Engagement.

Der Aufbruch der Student*innen-Bewegung versprach dann völlig neue Chancen der politischen und gesellschaftlichen Veränderung auch in der Bundesrepublik Deutschland. Auf das Scheitern des Versuchs, die ambivalenten Ansätze in Heidelberg in ein institutionalisiertes kritisches Wissenschaftsprogramm zu überführen, folgten die Berufung nach Münster im Jahr 1971 und intensive Auseinandersetzungen um Formen und Perspektiven einer linken Soziologie. Die praktische Kritik an Herrschaftsinstitutionen, die Unterstützung des Protests gegen einen faschistischen Professor in Bochum, die Teilnahme an der Kampagne gegen die Isolationshaft politischer Häftlinge und endlich das Insistieren, dass der Tod eines Prozessbeobachters in Duisburg während eines Polizeieinsatzes aufgeklärt werden müsse, führten zu Straf- und Disziplinarverfahren, die während seiner kreativsten Jahre Lebensfreude und Energie raubten. Dennoch nutzte er die Chancen, die der Sieg nationaler Befreiungsbewegungen vor allem in Guiné-Bissau und Kapverde ab 1974 zu bieten schien, um sich aktiv an den erhofften gesellschaftlichen Veränderungen zu beteiligen, vor allem an der Agrarreform in Kapverde. Nach dem Ende der sowjetischen Besetzung forschte Christian Sigrist wieder in Afghanistan. Daneben setzte er sich intensiv und kritisch mit der zeitgenössischen soziologischen Theorie auseinander, die dies verdiente, so namentlich jener Niklas Luhmanns. Bis in die letzte Zeit erhob er öffentlich Protest an den vielen Stellen, wo ihm dies notwendig erschien.

Vor allem aber war Christian Sigrist für viele Studierende ein manchmal sperriger, aber ungemein anregender und anstoßender Lehrer, wenn sie sich einmal auf ihn eingelassen hatten. Das gilt nicht nur für diejenigen, die heute an deutschen und internationalen Hochschulen lehren und forschen, sondern – vielleicht wichtiger – für die viel Zahlreicheren, die im Schuldienst kritische Impulse weitertragen. Auch diese Zeitschrift hätte es vermutlich nie gegeben, hätte Christian Sigrist nicht entscheidend dabei mitgearbeitet, eine umfassende, Gesellschaftsgrenzen überschreitende Sozialforschung und Gesellschaftstheorie voranzutreiben. Ganz praktisch sorgte er dafür, dass am Institut für Soziologie in Münster Freiräume bestanden, die gerade für die Anfangsphase der PERIPHERIE entscheidend wichtig waren. Als Beiratsmitglied war er dem Projekt lange Jahre bis zuletzt verbunden. Viele der früheren und heutigen Mitglieder unseres Redaktionskreises waren seine Schüler, haben zeitweise eng mit ihm kooperiert und sehen sich bis heute seinem Programm verpflichtet, für das er stand. Dass dessen institutionelle Verankerung nicht in der einmal erhofften Form und in dem einmal möglich erscheinenden Ausmaß gelungen ist, gehört zur Problematik seiner Generation. Diese Perspektive immer neu zu denken und voranzutreiben, bleibt sein Vermächtnis.

Wir verlieren mit Christian Sigrist einen stets kritischen Wegbegleiter und langjährigen Unterstützer und Freund.

Aus: Peripherie. Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt, Nr. 137 (2015)



Zum Tod von Prof. Dr. Christian Sigrist – Bis zuletzt gegen Wilhelm II. Von Jörg Rostek

Christian Sigrist bei einer antimilitaristischen Veranstaltung der Grünen in Marl am 15.02.2012: Thema war die Militarisierung der Hochschulen. Foto: Jörg Rostek

Der Soziologe Christian Sigrist war nicht nur ein kritischer Intellektueller und engagierter Lehrer und Wissenschaftler, wie die Westfälische Wilhelms-Universität heute in einer Pressemitteilung schreibt; er war einer der größten Kritiker der Benennung der Wilhelms-Universität Münster nach Kaiser Wilhelm II. und lehnte diesen Namen bis zuletzt ab. So führte Christian Sigrist im Jahr 1997 in der Debatte um die Umbenennung der Westfälischen Wilhelms- Universität als Mitglied einer entsprechenden Universitätkommission in einer Vorlage („Wilhelm II. Und der Antisemitismus – Vorlage für die Universitätskommission: Namensänderung der WWU?“, hier als pdf) aus, dass durch die Person Wilhelm II. eine antisemitische und rassenideologische Gesinnung “die Machtmittel hatte, die aus dem Rassenwahn hervorgehenden Vernichtungsphantasien wenigstens in den afrikanischen Kolonien zu realisieren“. Rassistische Ideologie und Militärismus hätten sich, so Sigrist, in der wilhelminischen Kolonialpolitik “verhängnisvoll kombiniert.”

Christian Sigrist macht in seiner Schrift Wilhelm II. direkt für den „versuchten Genozid an den Herero und den versuchten Ethnozid an den Nama im deutschen Schutzgebiet Südwestafrika“ verantwortlich. Erst auf Drängen des damaligen Reichskanzlers Bülow, sei Wilhelm II. überredet worden, den „Ausrottungsbefehl“ abzumildern. Laut Schätzungen, schreibt Sigrist, hätten nur ein Drittel der Herero die Vernichtung überlebt.

„Dass der Krieg die Herero als Nation nicht definitiv auslöschen konnte, ändert nichts daran, dass dieses Ziel verfolgt und vom Kaiser selbst gebilligt wurde. Auch das schlechte Beispiel, das andere Kolonialmächte gaben, z.B. die Briten im Burenkrieg, mindert die persönliche Schuld des Kaisers nicht“, so Sigrist und schließt seine Schrift mit dem Satz: „Dass diese Phantasien zur vernichtenden Gewalt wurden in einer den Kaiser mit Schuld beladenden Weise schließt aus, dass die Universität Münster im Bewusstsein dieser Zusammenhänge weiterhin seinen Namen trägt.“

Keine Frage, dass dieser Satz heute noch gilt. Traurige Tatsache: Die Universitätskommission zur Umbenennung der Universität Münster sprach sich mit 6:4 Stimmen für die Umbenennung aus (siehe iley-Artikel). Die Entscheidung darüber ließ der Senat jedoch im Sande verlaufen, “bis das Rektorat die Sache endgültig für erledigt erklärte”.

Jörg Rostek, 26. Februar 2015

Werke (eine Auswahl)

  • Macht und Herrschaft (Hg.) (2004)
  • Ethnologische Texte zum Alten Testament, Teil 2.: Die Entstehung des Königtums.
  • Regulierte Anarchie. Untersuchungen zum Fehlen und zur Entstehung politischer Herrschaft in segmentären Gesellschaften Afrikas (1967).
  • Das Rußlandbild des Marquis de Custine. Von der Civilisationskritik zur Russlandfeindlichkeit (1990).
  • Wissenschaft, Widerstand und Autorität (1981)
  • Wissenschaftsfreiheit heute. Zensur und Kriminalisierung? am Beispiel des Soziologen Prof. Christian Sigrist. (1980)
  • Indien. Bauernkämpfe: die Geschichte einer verhinderten Entwicklung, von 1756 bis heute
  • Probleme des demokratischen Neuaufbaus in Guinea-Bissao und auf den Kapverdischen Inseln (1977)

Im Verlag Syndikat hat er zusammen mit Fritz Kramer herausgegeben:

  • Gesellschaften ohne Staat. Bd. 1: Gleichheit und Gegenseitigkeit; Bd. 2: Genealogie und Solidarität (beide 1978)

Zu Sigrists 65. Geburtstag erschienen Ende März 2000 die Festschriften

  • "Soziologie im Minenfeld" als sechster Band der wissenschaftlichen Buchreihe "Kulturelle Identität und politische Selbstbestimmung in der Weltgesellschaft".
  • "Subjekte und Systeme. Soziologische und anthropologische Annäherungen" .


Weblinks




Zurück zum DadA-Memorial