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Version vom 28. Januar 2021, 10:22 Uhr

Lexikon der Anarchie: Personen


Donatien Alphonse François de Sade (1740-1814)

Donatien Alphonse François de Sade (Marquis de Sade), geb. am 2. Juni 1740 in Paris, gest.: 2. Dezember 1814 in Paris. Er ist ein umstrittener Autor fiktionaler Literatur, politischer Pamphlete und diverser patriotischer Theaterstücke sowie Akteur in der französischen Revolution.

Äußere Daten

Donatien Alphonse François de Sade – besser bekannt als Marquis de Sade - wurde in ein alt-eingesessenes, französisches Altersgeschlecht hineingeboren. Er wächst z.T. bei seinem Onkel, dem Abbé de Sade auf, bei dem er mit aufklärerischen Gedankengut von Voltaire, Jean-Jacques Rousseau und den Enzyklopädisten in Kontakt kommt. Jenes Denken verinnerlicht er früh und radikalisiert es in seinen späteren Werken. Es folgt eine vierjährige Schulausbildung am Jesuitenkolleg, die sicherlich auch prägend für seinen Antitheismus war, und eine für Adlige obligatorische Zeit beim Militär, die ihn auch nach Deutschland führt. Gegen seinen Willen wurde er von den Eltern mit Renée-Pelagie, Tochter einer Familie des Geldadels, verheiratet. Bereits 1763 erfolgte die erste Inhaftierung Sades aufgrund von Blasphemie. Eine Prostituierte sagt aus, daß er sie aufgefordert habe gotteslästerische Flüche von sich zu geben und auf ein Kruzifix zu urinieren. Weitere Skandale, die sich um seine sexuellen Ausschweifungen drehen, folgten diesem in den kommenden Jahren (1768, 1773, 1775) und begründen die Mystifizierung des Marquis de Sade als „sexuelles Monster“. Insgesamt verbrachte er über 30 Jahre in Gefängnissen und Nervenheilanstalten – die meiste Zeit davon ohne gerichtliche Verurteilung. Des Weiteren wurde er zweimal zum Tode verurteilt.

Sade-Denkmal in LaCoste

Im Zuge der französischen Revolution wurde er zeitweilig aus dem Gefängnis befreit und brachte sich als Sekretär und Richter in der Sektion der Piquets, jener Sektion, der auch Robespierre angehörte, aktiv ein. Er war u.a. für den Ausbau des Gesundheitswesens in Frankreich verantwortlich und an der Umbenennung diverser Straßen beteiligt. Allerdings weigerte er sich in der Funktion als Richter Todesurteile zu verhängen, was ihn suspekt für die herrschenden Machthaber machte und zu seiner zweiten Verurteilung zum Tode führte, dessen Ausführung er durch einen glücklichen Zufall entkam. Während der französischen Revolution schwankte er in seiner politischen Haltung und geriet somit zwischen die Fronten. Seine Auseinandersetzung mit der französischen Revolution findet sich in seinem zweibändigen Briefroman „Aline und Valcour“ (1793 / 1795) und in dem Exkurs „Franzosen, eine Anstrengung mehr, wenn ihr Republikaner sein wollt“, der in die „Philosophie im Boudoir“ (1795) integriert ist. In diesen Texten äußert er sich im erstgenannten Text in literarischer Inszenierung, im zweiten Text in Form eines politischen Aufrufs über die Möglichkeiten einer Fortführung der französischen Revolution hin zu einer absoluten Befreiung des Individuums umriss. Er entwarf damit bereits die Theorie einer "permanenten Revolution".

Im Jahr 1801 wurde er ein letztes Mal inhaftiert und bis zu seinem Tod am 2. 12. 1814 in der Nervenheilanstalt Charenton inhaftiert, in der er weiterhin mit den Insassen – sogenannten Geisteskranken und einer Reihe von politisch unliebsamen Personen – Theaterstücke aufführte, die sich in der französischen Oberschicht großer Beliebtheit erfreuten.

Die schon zu Lebzeiten begonnene Mystifizierung seiner Person setzte sich auch nach seinem Tod fort. Von seinem Namen wurde der Begriff des „Sadismus“ abgeleitet und sein Werk fand eine, bis heute ungebrochen breite Rezeption in der Kunst (u.a. im Surrealismus), Literatur (George Bataille, Charles Baudelaire, Pauline Réage), Sexualwissenschaft (Richard Freiherr von Krafft-Ebing, Albert Eulenburg) bis hin zur Philosophie (Simone de Beauvoir, Theodor W. Adorno, Michel Foucault).

Das literarische und Philosophie Werk von Sade

Sades Werk umfaßt eine Reihe von Texten unterschiedlicher Couleur. Es reicht von den libertinen Romanen „Die 120 Tage von Sodom“, „Justine“, „Juliette“ und „Philosophie im Boudoir“ – über eine Reihe patriotischer Theaterstücke, politische Staatsutopien, Kurzgeschichten, tagespolitischen Texten, Erziehungsdialogen, Märchen bis hin zu einer eigenständigen Romantheorie. Der rote Faden, der sich durch dieses Werk zieht, läßt sich mit folgenden Begriffen fassen:

  • integraler Atheismus
  • konsequenter Materialismus
  • unbedingte Betonung der Freiheit des Individuums
  • ins Parodistische übersteigerte Sexualität


Der Sex und die Erotik sind dabei nur ein Vehikel für den philosophischen Diskurs. Die Orgie wird bei Sade zum Symposion.

Seine philosophischen Grundlagen sind vor allem die Denker der Aufklärung (Jean-Jacques Rousseau, Voltaire, Julien Offray de Mettrie, Baron d'Holbach) sowie der griechischen und römischen Antike. Er diskutiert sie immer wieder in längeren Exkursen und manche seiner Protagonist*innen tauchen als Repräsentant*innen jener auf. Dies gilt besonders für Jean-Jacques Rousseau, zu dem er ein sehr ambivalentes Verhältnis hat und dessen Adept Sophie/Justine ist.


Sehr prägnante Inhaltsangaben seiner Werke bieten die Biographien von Geoffrey Gorer und Gilbert Lely, die auch die politische Ebene Sade thematisieren.

Stellenwert innerhalb des libertären Spektrums

Titelblatt einer Beilage der Zeitschrift L'Unique

Die Einordnung des Marquis de Sade in ein libertäres Spektrum ist sicherlich vor dem Hintergrund seiner Biographie und einzelner Aspekte seiner Philosophie sehr problematisch. Er benutzt in seinem Werk - vor allem während der Revolutionsepoche - zwar wiederholt den Begriff "Anarchie", aber dies passiert im damals üblichen, nicht spezifizierten Sinne. Eine direkte Rezeption zu Beginn und Mitte des 19. Jahrhundert ist allerdings bei Charles Fourier, der sich bei seinen Überlegungen zur freien Lieben auf Sade berief, und bei Pierre-Joseph Proudhon finden. Letzterer erwähnt ihn - ohne direkt seinen Namen zu erwähnen - in seinen Tagebüchern. Es gibt eine Reihe von vergleichenden Studien, die Übereinstimmungen zwischen seinem Denken und dem von William Godwin, Pierre-Joseph Proudhon (Drach, Habert), Michael A. Bakunin (Carter) und Max Stirner (vgl.: u.a.: Schuhmann 2007) nachgewiesen haben. Die Übereinstimmungen beruhen u.a. auf einer Kritik der Verteilung des Privateigentums und der daraus resultierenden Ungerechtigkeit, einer Betonung des Individuums bei gleichzeitiger Anerkennung des Ideals der Gleichheit sowie der Gewichtung des Konzepts der Revolte.

Ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert wird in der Wissenschaft vor allem eine Verbindung zwischen Sade und Max Stirner gezogen - bis hin zu der Überlegung, dass Stirner mutmaßlich Sade gelesen habe. Beispielhaft hierfür stehen u.a. der Sexualwissenschaftler Eugen Dühren (= Iwan Bloch) und Albert Eulenburg. Diese Verbindungslinie wurde auch später bei Roel van Duyn, dem Spiritus rector der Provo-Bewegung, wieder aufgegriffen. Selbst bei Peter Weiss findet sich im Theaterstück "Marat/Sade" eine sehr stark von Stirner beeinflußte Darstellung von Sade.

Im amerikanischen Diskurs wurde Sade von Murray Bookchin im Rahmen von der "Ökologie der Freiheit" ein Stück weit rehabilitiert - ohne die generelle Kritik an ihm über Bord zu werfen. Er tituliert ihn als einen missverstandenen Utopisten.

Unabhängig davon gab es eine breite Rezeption Sade im französischsprachigen Individualanarchismus. Federführend war hierfür die von E. Armand herausgebende Zeitschrift L'Unique, in de reine Reihe von Beiträgen über Sade sowie eine eigene Beilage für ihn erschienen. Der Bezugspunkt war vorrangig der Aspekt der freien Sexualität. Ebenso findet sich eine breite Rezeption im z.T. libertäre-geprägten Kreis des französischen Surrealismus eine Rezeption seines Werkes, was sich an Namen wie André Breton, Luis Buñuel und dem frühen Léo Malet zeigt. Ebenso wird im existenzialistischen Spektrum Sade diskutiert. Albert Camus widmete ihm in "Der Mensch in der Revolte" ein eigenes Kapitel. Aus einer libertären Sicht betrachtet auch der Philosoph Michel Onfray das Werk Sades im Rahmen seiner "Contra-Histoire de la Philosophie".

Im französischen Sprachraum finden sich auch heute noch seine Werke in libertären Buchhandlungen und Bibliotheken. Vereinzelt werden seine Texte auch in libertären Verlagen nachgedruckt.

Im deutschsprachigen Raum konnte bislang nur bei dem Individualanarchisten Ch. Waldecke (= Ewald Tscheck), Horst Stowasser und Maurice Schuhmann eine direkte Bezugnahme auf Sade nachgewiesen werden.


Anknüpfungspunkte für den Anarchismus im Werke de Sade sind u.a.:

  • der Atheismus / Antitheismus und die Religionskritik (in diversen Texten)
  • die Befreiung der Frau und der Sexualität (in: "Juliette")
  • seine Kritik des Adels und partiell auch des Staates (in: "Die 120 Tage von Sodom" und "Philosophie im Boudoir")
  • die Betonung der Individualität und der Rechte des Individuums (in: "Juliette")
  • seine Diskussion von frühsozialistischen Utopien (in: "Aline et Valcour")
  • seine Kritik des Eigentums (in: "Justine")

Gleichzeitig wird er aber auch wegen seiner Darstellung von Frauen als misogyn tituliert.

Werke und Biographien:

  • de Sade, Marquis: Œuvres Complètes du Marquis de Sade, herausgegeben von Annie Le Brun und Jean-Jacques Pauvert, 16 Bände, Paris 1986-1991.
  • de Sade, Marquis: Ausgewählte Werke, Merlin Verlag Gifkendorf 1993ff.
  • Bloch, Iwan (= Eugen Dühren): Der Marquis de Sade und seine Zeit. Ein Beitrag zur Kultur-und Sittengeschichte des 18. Jahrhunderts, Karl Schustek Hanau / M. 1970.
  • Gorer, Geoffrey: Marquis de Sade. Schicksal und Gedanke, Limes Verlag Wiesbaden 1959.
  • Lely, Gilbert: Leben und Werk des Marquis de Sade, Albatros Verlag Düsseldorf 2001.
  • Pauvert, Jean-Jacques: Der göttliche Marquis, List München 1991.

Literatur:

  • Ansart, Guillaume: Réflexion utopique et pratique romanesque au siècle des lumières. Prévost, Rousseau, Sade, Minar Paris / Caen 1999.
  • Armand, E.: Libertinage et prostitution, Orleans / Paris 1931.
  • Bookchin, Murray: Ökologie der Freiheit, Beltz Verlag Weinheim / Basel 1985.
  • Ders.: Verlangen und Bedürfnis, in: Ders.: Die Formen der Freiheit, Büchse der Pandora Wetzlar 1977, S. 100-111.
  • Buñuel, Luis: Mein letzter Seufzer. Erinnerungen, Athenäum Königstein / T. 1983.
  • Camus, Albert: Der Mensch in der Revolte, Rowohlt Verlag Reinbek bei Hamburg 1997.
  • Carter, Angela: Sexualität ist Macht: Die Frau bei de Sade, Rowohlt Verlag Reinbek bei Hamburg 1981.
  • Drach, Albert: In Sachen de Sade. Nach dessen urschriftlichen Texten und denen seiner Kontaktpersonen, Claasen Verlag Düsseldorf 1974.
  • Duyn, Roel van: De Sade und Max Stirner, in: Der Einzige, 6. Jg., Nr. 4, Leipzig 2004, S. 10-15.
  • Eulenburg, Albert: Sadismus und Masochismus, Wiesbaden 1902.
  • Fourier, Charles: Le nouveau monde amoureux, Stock Paris 1999.
  • Habert, Gabriel: Le marquis de Sade, auteur politique, in: Revue internationale d'histoire politique et constitutionnelle (NF)), N. 27/28, Juillet-Décembre 1957, S. 147-213 (insu.: 189f).
  • Hassan, Hab: The Dismemberment of Orpheus. Toward a postmodern literture, Oxford University Press New York / Oxford 1971.
  • Lever, Maurice: Portrait d'un thé politique, in: Marquis de Sade. Ecrits politiques, hgg. von Maurice Lever, Omina Paris 2009, S. 7-28.
  • Malet, Léo: 120, Rue de la Gare, Elster Verlag Bühl-Moos 1989.
  • Der.: Die Sonne scheint nicht für uns, Edition Nautilus Hamburg 2016.
  • Onfray, Michel: Les ultras des Lumière, Grasset Paris 2007.
  • Proudhon, Pierre-Joseph: Carnets, Rivière Paris 1960.
  • Schuhmann, Maurice: Die Lust und die Freiheit. Marquis de Sade und Max Stirner – Ihr Freiheitsbegriff im Vergleich, Karin Kramer Verlag Berlin 2007.
  • Ders.: Radikale Individualität, Transcript Verlag Bielefeld 2011.
  • Ders.: Tamoé - Anarchie in der Südsee, in: Espero (NF) 1 / 2020, Espero (NF) 1/2020
  • Stowasser, Horst: Freiheit pur. Die Idee der Anarchie. Geschichte und Zukunft. Eichborn Verlag Frankfurt am Main 1995.
  • Waldeck, St. Ch. (= Ewald Tscheck): Marquis de Sade, in: Der freie Arbeiter. Wissen und wollen. Publikation der Föderation der Anarchisten, 26. Jg., Nr. 8, 25. Februar 1933, S. 2.
  • Waibl, Elmar: Die Kritik des Kontraktualismus in Marquis de Sade rotomanischen Anarchismus, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie, Band XV/1983, S 241-258.
  • Weiss, Peter: Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charleston unter Anleitung des Herrn de Sade (Marat/Sade), Suhrkamp Verlag Frankfurt / M.1995.


Autor: Maurice Schuhmann Zuletzt geändert: 28. Januar 2021

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