Federación Anarquista Ibérica (FAI) / Iberischer Anarchistischer Bund: Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 22. Februar 2021, 18:42 Uhr
Lexikon der Anarchie: Organisationen
Inhaltsverzeichnis
Geschichte
Die FAI wurde 1927 in Valencia gegründet. Ihre Gründung hängt eng mit der Geschichte der Gewerkschaft CNT zusammen, die von Anfang an (1910) einen Kompromiss zwischen kollektivistischem Anarchismus und aufständischem Anarchokommunismus darstellte. Um der Desorganisation der anarchistisch beeinflussten spanischen Arbeiterschaft ein Ende zu setzen, hatte eine Gruppe militanter Anarchisten in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts beschlossen, eine Föderation von Organisationen der Arbeiterklasse zu gründen, deren Ziel sowohl die Verbesserung ihrer objektiven Klassenlage als auch zugleich die Heranbildung des notwendigen Bewusstseins zur Durchführung systemsprengender revolutionärer Aktionen war. Die revolutionären Syndikalisten folgten der anarchistischen Tradition insofern, als sie der spontanen Bewegung der Masse vertrauten und in jeder „autoritären“ Organisation ein Hindernis für die Entwicklung eines revolutionären Bewusstseins sahen. Nachdem 1923 General Primo de Rivera die Macht an sich gerissen und eine Diktatur errichtet hatte, löste sich die CNT formal auf, um einer Zwangsauflösung zuvorzukommen. Trotz der Auflösung war im Untergrund ein anarchosyndikalistisches Verbindungskomitee bestehen geblieben. Seit dem Kongress anarchistischer Gruppen in Lyon (Juni 1925) bestand außerdem der exilierte „Bund anarchistischer Gruppen spanischer Sprache in Frankreich“. 1925 hatte auch die Reorganisation anarchosyndikalistischer Gruppen im Landesinneren begonnen, die zur baldigen Einsetzung eines provisorischen „Nationalkomitees“ führte, an dessen Spitze Miguel Jiménez und José Llop traten. Diese Organisationen schlossen sich mit dem klaren Ziel zusammen, dem Anarchismus in der Arbeiterbewegung zur Durchsetzung zu verhelfen. 1927 schließlich wurde die FAI als Zusammenschluss der „Uniao Anarquista Portuguesa“ (UAP / Portugiesische Anarchistische Union), des „Nationalbundes anarchistischer Gruppen Spaniens“ und des „Bundes anarchistischer Gruppen spanischer Sprache in Frankreich“ gegründet. Die FAI beschloss, an jedem Aufstand gegen die Diktatur Primo de Riveras teilzunehmen. Da sich innerhalb der im Untergrund weiter operierenden CNT in den folgenden Jahren die „reformistische“ Strömung innerhalb des Gewerkschaftsbundes durchzusetzen begann, die zum Sturz des Diktators eine Zusammenarbeit mit republikanischen Parteien befürwortete, wurde 1927 auf einem illegalen Kongress in Valencia die FAI als Geheimorganisation gegründet, die ihre Aufgabe darin sah, über die Reinerhaltung der Lehre Michael Bakunins zu wachen und zu verhindern, dass sich die Arbeiter dem Reformismus und der Kooperation mit politischen Parteien oder dem sowjetischen Kommunismus und der Lehre von der Diktatur des Proletariats zuwendeten. In ihrem Selbstverständnis führte die FAI – weit mehr als die CNT – die antipolitische Tradition des bakunistischen Flügels der Ersten Internationale fort. Sie setzte sich aus jungen, leidenschaftlichen Revolutionären zusammen, die innerhalb der anarchosyndikalistischen Bewegung – vor allem nach 1931 – großen Einfluss gewannen.
Das Verhältnis zwischen CNT und FAI gehört zu den Grundproblemen der Gewerkschaftsbewegung während der Zweiten Republik (1931 - 1939). Die ältere Forschung hat in der FAI die Kraft gesehen, die der syndikalistischen Massenbewegung - oft gegen deren eigenen Willen - die Richtung wies und somit ein Pendant zum Abhängigkeitsverhältnis der sozialistischen Gewerkschaft UGT von der Sozialistischen Partei darstellte. Auch kommunistische Darstellungen haben diesen Aspekt der Oktroyierung des anarchistischen Willens betont. Dabei ist jedoch zu gering veranschlagt worden, dass die CNT aufgrund ihrer historischen Genese keine reformistische Gewerkschaftsorganisation darstellte, sondern seit ihrer Konstituierung dem revolutionären Syndikalismus verpflichtet war. Die heutige Forschung vertritt mehrheitlich die Meinung, die FAI habe weder die CNT beherrscht noch versucht, der Gewerkschaftsorganisation ihren Willen aufzuzwingen.
Seit vor einigen Jahren ein zusammenfassender Bericht über die konstituierende FAI-Sitzung in Valencia gefunden wurde (die Gründungsdokumente sind verlorengegangen), lässt sich sagen, dass die FAI von Anfang an eine enge Zusammenarbeit mit der CNT, aber keine Beherrschung der Gewerkschaft anstrebte. Einige anarchistische Autoren behaupten sogar, die FAI sei von der CNT beherrscht gewesen. Ihre angebliche Wächterrolle über die Prinzipien des „reinen“ Anarchismus habe sich auf die antipolitische Einstellung und auf revolutionären Aktivismus beschränkt. Das nicht immer problemlose Verhältnis beider Organisationen wurde durch den 1928 beschlossenen trabazón (Verband) bestimmt, der die Zusammenarbeit zwischen CNT und FAI regeln sollte und nach Beginn des Spanischen Bürgerkrieges in der stets gemeinsamen Verwendung der Initialen „CNT-FAI“ manifest wurde. Die offizielle Verbindung zwischen CNT und FAI wurde durch die Verteidigungs- und Pro-Gefangenen-Komitees hergestellt. Während erstere Streiks und Aufstände organisierten, kümmerten sich letztere um das Schicksal gefangener Genossen und deren Familien. Die treibende Kraft bei der Koordination von CNT- und FAI-Aktivitäten war zweifellos die FAI. Die praktischen Auswirkungen des trabazón auf das komplexe CNT-FAI-Verhältnis eröffneten der FAI die Möglichkeit zum Eintritt in alle CNT-Komitees.
Der massive FAI-Einbruch in CNT-Gremien darf jedoch nicht allein unter der Perspektive der doktrinären Majorisierung der anarcho-syndikalistischen Gewerkschaft gesehen werden; im Bewusstsein des gemeinsamen revolutionären Endziels fühlten sich die FAI-Mitglieder eher als CNT-Gewerkschafter denn als Anarchisten, die in einer reformistischen Organisation über die Reinheit der Lehre zu wachen hätten.
Die verschiedenen Tendenzen innerhalb des Anarchosyndikalismus führten zu Beginn der Zweiten Republik zur Spaltung der CNT, deren „gemäßigter“ Flügel sich gegen die angeblich drohende Vorherrschaft der minoritären FAI in der Gewerkschaftsbewegung auflehnte und die Unabhängigkeit des Syndikalismus und seinen Anspruch, sich selbst zu genügen, bestärkte. Eine Anzahl von Einzelsyndikaten, die einen gewissen Grad an Mitarbeit in der gegebenen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung vertrat, verließ unter der Führung von Angel Pestaña die Dachorganisation CNT und gründete die „Oppositionssyndikate“, die erst am Vorabend des Bürgerkrieges in die Dachorganisation CNT zurückkehrten.
Nach dem Bürgerkrieg wurde die FAI, ebenso wie die CNT, in Spanien zerschlagen; ihre Mitglieder mussten untertauchen oder fliehen, viele verbrachten das Exil in Frankreich (Toulouse, Paris). Nach 1975 versuchte die FAI, auf den Neugründungsprozeß der CNT Einfluss zu nehmen und die Gewerkschaft abermals auf maximalistische Positionen zu verpflichten. In dieser Auseinandersetzung geriet sie, zusammen mit der „historischen“ CNT, in eine Minderheitsposition. Heute spielt sie im soziopolitischen Leben Spaniens praktisch keine Rolle mehr.
Organisation
Anarchistischen Angaben zufolge hatte die FAI vor dem Bürgerkrieg 30.000, Ende 1937 bereits über 150.000 Mitglieder. Die vom Krieg allen Organisationen des republikanischen Spaniens aufgenötigte Zentralisierung machte auch vor den anarchistischen Organisationen nicht halt. Der Massenzulauf, den die FAI registrierte, ihre De-facto-Partizipation an den Regierungsgeschäften und die daraus resultierenden ideologischen Unsicherheiten und Widersprüche zu ihrer antipolitischen Doktrin machten eine Überprüfung des doktrinären und organisatorischen Erbes erforderlich.
Auf dem Valencia-Plenum der FAI (Juli 1937) wurde die bisherige lockere Strukturierung nach „Gruppen Gleichgesinnter“ (grupos de afinidad) zugunsten eines neuen Aufbaus verworfen. Fortan sollte die FAI nach „territorialen Gruppierungen“ organisiert sein. In kleineren Orten sollten Lokal-, in größeren Städten Distrikt- oder Stadtteil-„Gruppierungen“ mit theoretisch unbegrenzter Mitgliederzahl die Basis des neuen Organisationssystems bilden. Das Valencia-Plenum bedeutete das Ende des „klassischen“ spanischen Anarchismus. Die Delegierten übten heftige Selbstkritik und waren sofort bereit, das über 50 Jahre alte Organisationsprinzip der „Gruppen Gleichgesinnter“ zugunsten des neuen territorialen Prinzips aufzugeben. Die „Gruppen Gleichgesinnter“ seien in den Zeiten der Illegalität geeignete Organisationsformen gewesen, würden aber den augenblicklichen Bedürfnissen nicht gerecht.
1937 versuchte die FAI somit, sich organisatorisch auf die veränderten Bedingungen ihrer nunmehr legalen Existenz als Massenorganisation einzustellen. Hatte die Autorität der anarchistischen Führer bislang vor allem auf einer Art Charisma bestanden, so sollte die Organisationszentrale fortan durch einen gestrafft-zentralisierten, jederzeit überschau- und kontrollierbaren Apparat ihre Autorität durchsetzen können. Die neue FAI-Struktur wies eine Reihe hierarchischer Merkmale auf: Jedes Mitglied musste sich den Beschlüssen der regelmäßig tagenden Versammlungen unterwerfen; alle FAI-Mitglieder, die in der Organisation einen Posten bekleideten, waren den Komitees gegenüber, die ihnen übergeordnet waren, „verantwortlich“; das „peninsulare Komitee“ sollte fortan nicht mehr, wie bisher, von der Lokalföderation anarchistischer Gruppen der Ortschaft, in der das Komitee seinen Sitz hatte, sondern durch Delegierung der einzelnen FAI- Regionalföderationen gebildet werden.
Im April 193 8 erfolgte die Zusammenfassung der drei „libertären“ Organisationen (CNT, FAI und die Jugendorganisation Juventudes Libertarias) zu einer einzigen, der „Freiheitlichen Spanischen Bewegung“ (Movimiento Libertario Español, MLE). Die organisatorische Neustrukturierung, die den Oligarchisierungsprozess durch eine Reihe organisatorischer Änderungen innerhalb der FAI förderte, war verspäteter Ausdruck eines Politisierungsprozesses, der bereits in den ersten Bürgerkriegswochen eingesetzt hatte und im Juli 1937 zur Preisgabe wesentlicher Grundpositionen des klassischen Anarchismus führte.
Auf dem Nationalplenum der Regionalföderationen der libertären Bewegung in Barcelona (Oktober 1938) wurde von Horacio Martínez Prieto der Vorschlag unterbreitet, die FAI solle sich als „freiheitliche sozialistische Partei“ konstituieren oder auflösen. Dieser Vorschlag wurde allerdings nicht akzeptiert. Wenn auch weiterhin die CNT als die „politische“ Vertretung der Syndikalisten auftrat, ließ die verabschiedete Resolution trotzdem der FAI die Möglichkeit offen, die politische Repräsentanz der „Freiheitlichen Spanischen Bewegung“ zu übernehmen; dies aber bedeutete das Ende der FAI als „spezifische“ anarchistische Organisation.
Programm
Das Programm der FAI wurde wesentlich durch die Auseinandersetzung mit der Gewerkschaft CNT bestimmt. Für nahezu alle anarchistischen Theoretiker blieb die Gespaltenheit der Theorie mit ihrer zwischen Zielvorstellung und Realisierung klaffenden Lücke bezeichnend. Gegen die anarchistische Ablehnung der notwendigen Organisation und die Überbetonung der Spontaneität bildete sich innerhalb der Gewerkschaftsbewegung ein starker gemäßigter Flügel heraus, der 1931 - 1936 gegen die putschistische Praxis-Besessenheit der Anarchisten um die Zeitschrift La Revista Bianca mit ihrem Glauben an die unmittelbare Realisierbarkeit ihres Endziels ankämpfte. In der hart geführten Diskussion wurde das Problem der Herbei- und Durchführung der Sozialen Revolution nach der Ausrufung der Zweiten Republik und dem Bruch innerhalb der CNT von unmittelbar „praktischer“ Relevanz. Die gemäßigten CNT-Mitglieder (treintistas) unterschieden sich von der FAI primär in Bezug auf Strategie und Taktik der Sozialen Revolution. Die treintistas warfen der FAI die Überbetonung voluntaristischer Elemente, maximalistische Erwartungen, Blanquismus und bolschewistische Methoden vor. Führende FAI-Mitglieder sahen demgegenüber mit der Republik die Gefahr gekommen, die anarchistische Bewegung könne „in den Sozialdemokratismus fallen“, und betonten daher die nur vom Willen revolutionärer Gruppen abhängige Realisierbarkeit des sozialen Umsturzes. Dieser „vereinfachenden, klassischen und etwas träumerischen Vorstellung der Revolution“ (treintista-Manifest) setzten die gemäßigten CNT-Kreise wiederum ihre „echte, einzige“ Vorstellung entgegen, die sie in der Verbindung von Ordnung und Methode einerseits, individueller Initiative andererseits für „vorausblickend und zusammenhängend“ hielten. In der Verschwörungstaktik der FAI-Anarchisten drückte sich sozialgeschichtlich der unterentwickelte Stand der kapitalistischen Industriegesellschaft in Spanien aus, während das Konzept der treintistas vom gewerkschaftlichen Tageskampf mit dem Industriekapitalismus der wirtschaftlichen Ballungszentren geprägt war.
Die Revolutionsvorstellung und die revolutionäre Praxis der CNT in den Jahren der Republik mussten wesentlich davon abhängen, welche der beiden Konzeptionen sich schließlich durchsetzte. Die treintistas wurden im weiteren Verlauf der sich immer mehr zuspitzenden Diskussion aus der CNT ausgeschlossen; wenn dies auch keineswegs einen Sieg des „reinen“ Anarchismus über den „reformistischen“ Flügel der syndikalistischen Bewegung bedeutete, scheint der FAI-Einfluss trotzdem eher zu- als abgenommen zu haben, wofür nicht zuletzt die große Anzahl der in den folgenden Jahren durchgeführten revolutionären Erhebungen spricht, die allesamt – aufgrund mangelnder Vorbereitung und fehlender Koordinierung – kläglich scheiterten und die CNT hohe Einbußen kosteten. Das „konföderale Konzept über den freiheitlichen Kommunismus“, das auf dem Zaragoza-Kongress 1936 verabschiedet wurde, trägt deutlich die Handschrift der FAI. Die konkrete Lösung des Anarchieproblems wurde dem praktischen Experiment auf dem Boden der Anarchie überlassen; auf dem Kongress wurde eine illusionäre Gegenwelt als Bund freier und autonomer Industrie- und Agrarassoziationen aufgebaut, ohne dass sich die Delegierten um die Realisierungschancen dieser auf der Basis des Syndikats und der autonomen Kommune ruhenden Gesellschaft ohne Staat, Privateigentum, Autoritätsprinzip und Klassen bemüht hätten. Im Vergleich zu früheren Überlegungen betonten sie allerdings besonders die subjektiven Voraussetzungen für einen erfolgreichen Massenaufstand. Die Revolutionsdefinition des Kongresses vernachlässigte weitgehend die voluntaristischen Elemente und hob stattdessen die lange evolutionistische, bewusstseinsausbildende Phase hervor, die den Revolutionsausbruch nicht mehr vom individuellen Willen einiger Extremisten abhängig sein ließ.
Die in Zaragoza verabschiedete Resolution über den freiheitlichen Kommunismus stellte den vollständigen, angesichts der Entwicklung im Bürgerkrieg allerdings kurzen Sieg der FAI- Anarchisten in ihrem Ringen mit den Syndikalisten dar. Ziel der anarchistischen Revolution war der freiheitliche Kommunismus; nach erfolgreich durchgeführter Revolution würden die freien Organisationen der Produzenten die direkte Verwaltung der Produktion und des Konsums übernehmen.
Charakterisierung
Das Dilemma der Anarchisten, vor allem im Spanischen Bürgerkrieg, ist unverkennbar: Solange sie ihre föderalistisch-dezentralistischen Prinzipien aufrechterhielten und ihre radikaldemokratische Theorie auf die eigene Praxis anwandten, erlagen sie der Gefahr, die Rolle des modernen Staates und der politischen Macht überhaupt zu verkennen und damit zugleich praktisch politisch zu versagen. Sobald sie jedoch eine zentralisierende Straffung des Apparates – und das musste zwangsläufig zu einem Verlust an unmittelbar interner Demokratie führen – zu realisieren trachteten, setzten sie sich nicht nur zu ihrer Theorie und Ideologie in Widerspruch, sondern verloren gleichzeitig das Vertrauen ihrer Mitglieder. Im Hinblick sowohl auf die anarchistische Intervention in der Regierung als auch auf die darin zum Ausdruck kommende Akzeptierung des Staates trat ein ähnliches Dilemma zutage: Entweder partizipierten die Anarchisten - mit dem Ziel, ihre revolutionären Errungenschaften zu sichern – an der Regierungsverantwortung und trugen durch ihre Intervention (entgegen ihrer Absicht) dazu bei, jene „feindlichen“ Institutionen, deren Auflösung und Überwindung sie intendierten (Herrschaft und Autorität, Staat und Regierung), zu restituieren, oder sie blieben ihren antipolitischen Prinzipien treu und verzichteten damit von vornherein auf die Möglichkeit, die allgemein-politische Entwicklung in ihrem Sinne zu beeinflussen. In der konkreten Situation des Spanischen Bürgerkrieges hätte diese letztere Alternative die kampflose Kapitulation vor dem innenpolitischen Gegner bedeutet und die Gefahr impliziert, machtpolitisch erdrückt zu werden. Die dritte Möglichkeit – eine ausschließlich anarchistische Machtübernahme – kam für die überwiegende Mehrheit der Anarchisten aus moralischen und machtpolitischen Erwägungen nicht in Frage, da sie einerseits die eigene Diktatur ebenso ablehnten wie die jeder anderen Organisation, andererseits nicht stark genug waren, um im gesamten republikanischen Territorium die Macht zu übernehmen. Im sozialpolitischen Kontext des Spanischen Bürgerkrieges, in dem der Staat immer mehr in den sozialen und ökonomischen Bereich eingriff, vernachlässigten die Anarchisten in den machtpolitisch weichenstellenden Monaten den staatlichen Bereich, was nicht nur zu ihrer baldigen Ausbootung aus allen Schaltstellen der republikanischen Politik, sondern außerdem zur rapiden Restauration des Staatsapparates und letztlich zum Niedergang der Revolution führte. Sie versäumten es, den spontanen Massenaufbruch vom Juli 1936 in Organisationsformen hinüberzuführen, die die Erhaltung der revolutionären Errungenschaften gesichert und ein Weiterführen der Revolution ermöglicht hätten. Stattdessen leisteten die Anarchisten durch ihren Regierungseintritt und die Zusammenarbeit mit politischen Parteien der Entwicklung zum starken Staat Vorschub. Dass dieser Entwicklung relativ wenige Hindernisse in den Weg gelegt wurden, ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die breite Masse der revolutionären Anhängerschaft allmählich den im Namen der Staatsräson und unter Berücksichtigung der außenpolitischen Lage zusehends auch von der FAI vorgebrachten Argumenten der Mäßigung und Zurückhaltung erlag. In dem Maße, in dem die Spontaneität der Massen kanalisiert und kontrolliert wurde, nahm die Revolution von ihren ursprünglichen Zielen und theoretischen Entwürfen Abstand; sie engte ihren eigenen Aktionsraum ein und erweiterte damit das Wirkungsfeld des schließlich in nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche vordringenden Staates.
Autor: Walther L. Bernecker Zuletzt inhaltlich geändert / ergänzt: 1995
Endredaktion am: 22.02.2021
Quellen und Literatur
- W. L. Bemecker: Anarchismus und Bürgerkrieg. Zur Geschichte der Sozialen Revolution in Spanien 1936- 1939, Hamburg 1978;
- Ders.: „Reiner“ oder „syndikalistischer“ Anarchismus? Zum Spannungsverhältnis libertärer Organisationen in Spanien, in: Bochumer Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit, Nr. 8, 1987, S. 13 - 32;
- Sr. J. Brademas: Anarcosindicalismo y revolución en España (1930 – 1937), Barcelona 1974;
- Elorza: La utopía anarquista bajo la Segunda República, Madrid 1973; Estatutos Generales de la FAI, Valencia 1927;
- J. García Oliver: El eco de los pasos, Barcelona 1978;
- J. Gómez Casas: Historia de la FAI, Madrid 1977;
- M. Lorenzo: Los anarquistas españoles y el poder 1868 - 1969, Paris 1969;
- J. Peirats: Los anarquistas en la crisis política española, Buenos Aires 1964;
- J. Peiró: Problemas del sindicalismo y del anarquismo, Toulouse 1945;
- Suplemento de Cuadernos de Ruedo Ibérico: El Movimiento Libertario Español, Paris 1974.
Quelle: Dieser Artikel erschien erstmals in: Lexikon der Anarchie: Encyclopaedia of Anarchy. Lexique de l'anarchie. - Hrsg. von Hans Jürgen Degen. - Bösdorf: Verlag Schwarzer Nachtschatten, 1993-1996 (5 Lieferungen). - Loseblattsammlung in 2 Ringbuchordnern (alph. sortiert, jeder Beitrag mit separater Paginierung). Für die vorliegende Ausgabe wurde er überarbeitet.
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