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Version vom 28. August 2007, 22:48 Uhr
Lexikon der Anarchie: Personen
Sébastian Faure (geb.: 1858; gest.: 1942). Libertärer Schriftsteller und Pädagoge.
Inhaltsverzeichnis
Äußere Daten
Faure wird in eine reiche katholische Familie hineingeboren. Nachdem er während kurzer Zeit in einer Jesuitenschule unterrichtet worden ist, kehrt er dem seiner Meinung nach zu strengen Regiment den Rücken und widmet sich der Politik. Er will „mit den Unterdrückten gegen alle Unterdrücker kämpfen.“ (T. Tomasi 1973, S. 224). Anfänglich unterstützt er die Arbeiterbewegung, ab 1888 setzt er sich für den Sieg des Anarchismus ein, wie er selber sagt. Faure ist Autor von zahlreichen, in vielen Zeitschriften verstreuten Artikeln, gilt bald als guter Redner und setzt sich für Dreyfuß ein. Mit Luise Michel zusammen gründet er 1895 die Zeitschrift „Libertaire“. Wegen seiner publizistischen Arbeit sieht sich Faure von den Behörden verfolgt. 1921 wird er auf fragwürdige Weise, wegen angeblicher Fehltritte gegenüber Minderjährigen, eingekerkert. Trotzdem bleibt Faure seiner politischen Position treu – bis zum Protest gegen den allmählich wachsenden „stumpfsinnigen Körperkult“ (zit. nach T. Tomasi 1973, S. 224), von dem er annimmt, er führe demnächst in einen Krieg. Zum mindesten eine seiner Schriften belegt seine libertäre Position außerordentlich klar (S. Faure o.J.). Dort setzt er sich mit den Vorwürfen an die Anarchisten auseinander, erklärt, was die Libertären erreichen wollen, und berichtet von ihrem „idéal révolutionnaire“ (S. Faure o.J., S. 3). Im Zug seines Beitrages skizziert er sein anarchistisches Programm und wehrt sich gleichzeitig, mit einem autobiographischen Argument gegen mögliche Einwände: „Nein, wir sind weder Utopisten noch Träumer oder Verrückte, und der Beweis dafür ist, daß uns überall die Regierungen verfolgen und ins Gefängnis werfen. Dies tun sie, um unsere Worte der Wahrheit zu unterdrücken“ (ebda., S. 5).
Politischer Werdegang
In seinem Roman „Mon communisme“ beschreibt Faure 1921 ein libertäres Staatsgebilde in einem zukünftigen anarchistischen Frankreich aus der Sicht von (fiktiv) zurückkehrenden Verbannten, In diesem Buch räumt Faure seinen Erziehungsideen beträchtlichen Platz ein. Was libertäre Erziehung sein muß, hatte er zwischen 1904 und 1917 in „La Ruche“ („Der Bienenkorb“), seinem „rationalistischen Waisenhaus“, exemplarisch gezeigt. „Mon communisme“ zugleich von La Ruche (in Rambouillet, in der Nähe von Paris) angeregt, wirft ein Licht auf diesen, von Paul Robin und Francisco Ferrer beeinflußten Schulversuch. Wie eng Faure Politik mit Pädagogik verbunden hat, zeigt dieses unter seinen Werken wohl am besten: Nicht nur treffen Rückkehrer in „Mon communisme“ ihr Land vollkommen verwandelt an – es gibt weder staatliche noch kirchliche Autorität – auch die Kinder werden anders erzogen als früher: Schon die Kleinkinder verbringen den Tag in einer ihnen zusagenden Umgebung, im Grünen, betreut von Spezialisten. Aus dem Kindergarten treten die Kleinen in die Schule über, die gemischte Klassen führt. Die Kinder lernen dort laut Faure wenig, aber was sie lernen, das lernen sie gründlich. Unnütze Examen und disziplinierende Normen – auch Noten – gibt es nicht. Daß der utopische Roman Faures nicht ganz so utopisch sein kann, belegt die Ähnlichkeit des Zukunftsstaates mit „La Ruche“. Im „Propos d’Educateur“ hatte Faure seine Gedanken zur Erziehung schon früher präzisiert. Schon 1915 war es ihm darum gegangen, den Kindern „das lernen zu lehren“.
Stellenwert Faures innerhalb des libertären Spektrums
Faures rege Vortragstätigkeit, seine Schule in Rambouillet und seine umfassende „Encyclopédie anarchiste“ (4 Bde.) machen Faure zu einem wichtigen Vertreter des französischen Anarchismus. In seinen Publikationen betreibt er direkte Propaganda für die libertäre Sache und den „Bienenkorb“ sieht er als Vorkämpfer für eine neue Gesellschaft, obschon die Kinder dort nicht zu „kleinen Anarchisten“ erzogen werden sollen, wie er selber sagt. Faure legt damit v.a. ein auf P. Robins Ideen und seiner Praxis in Cempuis gründendes libertär-reformpädagogisches Konzept vor, das der bürgerlichen Reformpädagogik – ebenso wie jenes P. Robins – um Jahre voraus ist. Faure bemüht sich, libertär-sozialistische Ideen mit einer libertär-pädagogischen Praxis möglichst eng zu verknüpfen. Was vermittelnd dazwischenstehen sollte, die Begründung einer anarchistischen Pädagogik, stellt er mehrmals dar: Sowohl in eher staatspolitisch ausgerichteten Werken als auch in eher pädagogisch orientierten trägt er so zur Konkretion anarchistischer Pädagogik bei.
Literatur und Quellen:
Die wichtigsten Werke
- La douleur universelle, Paris 1985
- La Ruche. Paris 1911
- L’individualisme et la réforme de l’enseignemet, Paris 1911
- Bulletin de la Ruche, Hg., Rambouillet 10.3.1914 - 25.7.1914
- Propos d’Educateur, Paris 1915
- Mon communisme, Paris 1921
- Les anarchistes, Paris o.J.
- Encyclopédie anarchiste, Paris 1916-1935
Deutsche Übersetzungen:
- Die Verbrechen Gottes, Hull (England) 1904
- Die Anarchisten, Berlin 1925
Quellen:
- A. Antignac: Une appréciation, Paris 1921
- Federation Anarchiste: S. Faure et la Ruche, Marseille 1968
- Flax: Faure, Sébastian, Paris 1908
- E. Goldman: La Ruche, in: Mother Earth, New York 1907
- H. U. Grunder: Anarchistische Erziehung. Geschichte-Modelle–Beispiele, Baltmannsweiler 2007
- J. Humbert: S. Faure, Paris 1949
- A. Lapeyre: La vie d’un homme, Toulouse 1946
- A. Lorulot: S. Faure, Heiblay 1938
- G. de Lazace-Duthiers: L’encyclopédie anarchiste de S. Faure, Paris 1934
- J. Steens: Faure, Sébastian, Paris 1903
- T. Tomasi: Ideologie libertarie e formazione umana, Firenze 1973
- M. Zevaco: Portraits de S. Faure, Paris 1898
- A. Zevaes: Faure, S., Paris 1942
Autor: Hans Ulrich Grunder
Quelle: Dieser Artikel erschien erstmals in: Lexikon der Anarchie: Encyclopaedia of Anarchy. Lexique de l'anarchie. - Hrsg. von Hans Jürgen Degen. - Bösdorf: Verlag Schwarzer Nachtschatten, 1993-1996 (5 Lieferungen). - Loseblattsammlung in 2 Ringbuchordnern (alph. sortiert, jeder Beitrag mit separater Paginierung). Für die vorliegende Ausgabe wurde er überarbeitet.
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