Boétie, Etienne de La: Unterschied zwischen den Versionen
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‘’’ Lexikon der Anarchie: Personen’’’
Inhaltsverzeichnis
Äußere Daten
Etienne de La Boétie, geb.: ca. 1530 in Sarlat, im Südwesten Frankreichs in der Cascogne; gest. 18. August 1563 in Bordeaux.
Hätte der Franzose und Katholik La Boétie nicht seinen Essay über die „Freiwillige Knechtschaft“ geschrieben, die Nachwelt hatte vermutlich kaum Notiz von ihm genommen. So aber wird er heute mit einer Schrift in Verbindung gebracht, die einen Meilenstein für die politische Theorie der Neuzeit bedeutet. Sein „Discours de la servitude volontaire“ (auch „Le Contr’un ou de la servitude volontaire“), „Über die freiwillige Knechtschaft des Menschen“, entstand in seinem kurzen Leben im Alter von ca. 16 Jahren, so jedenfalls nehmen es verschiedene Chronisten an. Genaue Angaben finden sich allerdings nicht. Auch existiert keine authentische handschriftliche Fassung des Textes vom Autor.
Von 1548 bis 1550 studierte er in Orléans Jura und vertiefte sich in das Studium der antiken Literatur und Philosophie. Im Anschluss daran wechselte er nach Bordeaux, wo er auch seinen späteren und etwas jüngeren Freund Michel de Montaigne kennen lernte und dort 1553 zum Parlamentsmitglied berufen wurde. 1554/55 heiratet er Marguerite de Carle, die Schwester des Parlamentspräsidenten. Vermutlich 1558 trifft er erstmals mit M. de Montaigne zusammen, der ebenfalls dem Rat angehört. Zu Beginn der 60er Jahre des 16. Jh. wird Bordeaux im Zuge der Hugenottenkriege bedroht. Im Verlauf einer sich dabei ausbreitenden Pest stirbt La Boétie am 18. August 1563.
Über seinen Charakter und seine Wesensart schreibt W. Hoffmann-Harnisch: „Seine Zeitgenossen rühmen seine Vornehmheit, seinen Charme, die Festigkeit seines Charakters. Er ist streng gegen sich selber und liebenswürdig gegen andere. Er ist Philosoph, lebt und stirbt als Katholik, seine Frömmigkeit ist ohne jeden Aberglauben. Die Zeitgenossen bewundern ihn ebenso als Privatmann wie als Staatsbürger, als Beamten wie als Gelehrten und Schriftsteller. (...) Er übersetzt Aristoteles, Xenophon und Plutarch“ (W. Hoffmann-Harnisch 1961, S. 17; weitere biographische Angaben vgl. H.-J. Heydorn in La Boétie 1968 S. 5-30). Ein solcher Zeitgenosse und gleichzeitig enger Freund ist M. de Montaigne, der in seinen „Essais“ über ihn berichtet: „... er war wirklich ein Mensch von seelischer Hille; sein Inneres war in jedem Sinne schön; er war durchaus echt; seine Anlagen hätten sicher große Erfolge gezeitigt, wenn das Schicksal es gewollt hätte ...“ (M. de Montaigne 1976, S. 260).
Bedeutung u. Stellenwert der Schrift „Freiwillige Knechtschaft“
Hinter diesem kurzen und scheinbar „durchschnittlichen“ Leben eines damaligen Intellektuellen und Landadligen verbirgt sich jedoch ein Denker, der zum Wegbereiter und Theoretiker eines zentralen Gedankens der politischen Philosophie der Neuzeit geworden ist und diese gleichsam mit seiner Schrift von der freiwilligen Knechtschaft literarisch einläutet.
Hier in Frankreich, Mitte des 16. Jh., beginnt der „Vorfrühling“ der politischen Freiheitstheorie der Neuzeit. Die Freiheit wird zum anthropologischen Paradigma für das politische und private Leben erhoben und zum Ziel menschlichen Strebens: Freiheit als Weg zum Ziel findet in La Boéties Schrift erstmals für die Neuzeit als politische Forderung ihren revolutionären Niederschlag mit nachhaltiger Wirkung bis in die unmittelbare Gegenwart. Wenn La Boétie in seinem Essay den Lesern zuruft „Seid entschlossen, keine Knechte mehr zu sein, und ihr seid frei“ (hier: E. de La Boétie 1991, S. 21) dann drückt er Mitte des 16. Jh. das Bewusstsein einer libertären und demokratischen, sprich: anarchistischen Auffassung von Vergesellschaftung aus. Die politische und private Freiheit ist abhängig vom Willen nach Widerstand und Emanzipation. Auch wenn für La Boétie Freiheit ein natürlicher Zustand des Menschen ist, ist dieser nur dort erreichbar, wo der Mensch dafür kämpft. Die Ursache für Herrschaft und Tyrannei liegt in der freiwilligen Knechtschaft: „Der erste Grund, warum Menschen freiwillig Knechte sind, ist der, daß sie als Knechte geboren werden und so aufwachsen. Aus diesem folgt ein zweiter: daß nämlich die Menschen unter den Tyrannen leicht feige und weibisch werden. Mit der Freiheit geht wie mit einem Mal die Tapferkeit verloren“ (hier: E. de La Boétie 1991, S. 33/34).
La Boéties Schrift bekommt heute den Charakter einer sozialpsychologischen Abhandlung über Freiheit und Herrschaft, die die Frage stellt, wie es zum gesellschaftlichen und politischen Zustand der Herrschaft und Tyrannei von Einem über Alle kommt? Woher erhält dieser Eine die Macht und Kraft der Herrschaft über das Volk? La Boétie antwortet: Durch das Volk selbst, durch die Unterdrückten selbst. Sie sind es, die dem Herrscher, dem Tyrannen, die Macht der Herrschaft freiwillig (ab)geben. Die Gründe für diese freiwillige Unterwerfung sind vielfältig: Die Freiheitsliebenden sind nur wenige, sie sind isoliert und ohne gemeinsame Kommunikation; die Menschen sind von der Knechtschaft verweichlicht und trage und durch die Religion wird weltliche Macht legitimiert und „geheiligt“. Schließlich hat die Knechtschaft aber auch „gute Seiten“ in dem Sinne, „daß die Tyrannei fast ebenso vielen Menschen Gewinn bringt, als die Freiheit erfreulich ist“ (G. Landauer 1907, S. 87). Angesicht dieser scheinbar hoffnungslosen Lage für ein politisches, gesellschaftliches und privates Leben in Freiheit, stellt sich die Frage, was dagegen zu tun ist – worin liegt die Hoffnung auf Freiheit? Für La Boétie heißt die Antwort darauf: Verweigerung. Freiheit ist damit kein Problem der Außenwelt, sondern in erster Linie ein Mangel im Inneren des Menschen. Freiheit ist ein Problem des Bewusstseins, eine Frage des Willens. Verweigerung heißt bei La Boétie Widerstand leisten. Widerstand gegen die innere, mentale Knechtschaft des Geistes und des Verstandes. Man wird bei La Boétie an Immanuel Kants Definition von Aufklärung erinnert: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (I. Kant 1783). Es geht La Boétie auch um die Befreiung aus einer selbstverschuldeten Knechtschaft. Anders wie Kant denkt er jedoch pragmatischer, politischer. La Boétie fordert praktische Verantwortung und Selbstbestimmung des Menschen. Er fordert eine autonome Persönlichkeit. Nur mit dem Bewusstsein von seiner Souveränität kann der Mensch Widerstand leisten und die Kraft zur Verweigerung aufbringen.
Wirkungsgeschichte und Rezeption
Bei der aktuellen Rezeption dieser Streitschrift, die ca. 40 Seiten umfasst, wird vor allem auf den für diese Zeit des 16. Jh. revolutionären Naturrechtsbegriff hingewiesen. H. Günther, Herausgeber und Übersetzer einer Neufassung von La Boéties Schrift, spricht hier von einer ,,kopernikanischen Wende im politischen Denken“ der Neuzeit (H. Günther, in: La Boétie 1980, S. 15). Dieser Text wurde im Laufe der Geschichte zu einem revolutionären Manifest unterschiedlichster Gruppen und Menschen. Als Teilabdruck wurde die „Knechtschaft“ nach zunächst einigen handschriftlich kursierenden Exemplaren erstmals nach La Boéties Tod, jedoch anonym, als Flugschrift der Hugenotten publiziert (ca. 1572-1574). Als frühester vollständiger Druck erscheint der Text in Bd. 3 der „Memoires de l’État de France sous Charles IX“ 1577. Eine erste deutsche Teilübersetzung soll 1593 in Straßburg erschienen sein. Einem größeren Publikum wird die Schrift jedoch erst durch seinen Nachlaßverwalter, M. de Montaigne, bekannt, als er sich nach langem Zögern entschließen kann, La Boéties Text mit in seine „Essais“ aufzunehmen. Zur wichtigsten und zugänglichsten historischen Quelle wird in diesem Sinne seitdem M. de Montaigne und die Ausgabe seiner Essais, hg. von Pierre Coste (in einer deutschen Übersetzung von J. D. Tietz in drei Bänden erstmals Leipzig 1753/54, Neuausgabe Zürich 1992) angesehen. Die Rezeption des Textes erfolgt in den folgenden Jh. immer wieder, vor allem in Zeiten revolutionärer Veränderungen (zur ausführlichen Rezeption vgl. die Angaben von H. Günther in: La Boétie 1980). Zu Beginn des 20. Jh. ist es Gustav Landauer, der für den deutschen Sprachraum La Boéties Schrift „wiederentdeckt“ und erstmals 1907 in seiner Schrift „Revolution“ erwähnt und in der Zeitschrift „Der Sozialist“ 1910/11 in sechs Folgen eine Neuübersetzung publiziert (eine Neuausgabe dieser Übersetzung erscheint in Münster 1991). 1925 wird La Boétie von Max Nettlau im ersten Band seiner „Geschichte der Anarchie“ (M. Nettlau 1925, S. 34-40) im Kontext der Vorläufer und Vordenker des modernen Anarchismus diskutiert und 1924 erscheint eine deutsche Neuübersetzung im Malik-Verlag (Berlin), hg. und übersetzt von F. Boenheim. Nach 1945 wird die erste deutsche Nachkriegsausgabe wiederum in einer Neuübersetzung publiziert (hg. u. übersetzt von W. Hoffmann-Harnisch 1961). Übersetzt von W. Koneffke und herausgegeben sowie kommentiert von H.-J. Heydorn erscheint 1968 bei der „Europäischen Verlagsanstalt“ (EVA) eine bemerkenswerte wissenschaftlich edierte Ausgabe, die die La Boétie-Forschung für Deutschland wieder aufnimmt und fortführt. Die vorzüglichste wissenschaftliche Neuausgabe mit einem umfangreichen Apparat sowie einer ausführlichen Rezeptionsgeschichte mit zahlreichen Quellentexten, erscheint – ebenfalls bei der EVA – auf Anregung von H. Rittner (der an anderer Stelle auch eine Neuausgabe der „Gegenseitigen Hilfe“ von Peter Kropotkin 1975 besorgte) in der Übersetzung und in Herausgabe von H. Günther unter Mitwirkung von N. Bulst (Frankfurt/M. 1980, erweiterte Neuauflage Hamburg 1992). Von dieser Ausgabe taucht in der ersten Hälfte der 1980er Jahre ein „Raudruck“ auf, der 56 Seiten der insgesamt 235 Seiten umfasst („Bibliothek Sammlung unter der Hand Bd. 1“, ca. 1983). Die bislang letzte deutsche Separat-Ausgabe mit der Übersetzung von G. Landauer (1910/11) wird mit kurzen editorischen und biographischen Notizen von U. Klemm 1991 veröffentlicht. Schließlich erscheint der Text nochmals im Rahmen der Neuausgabe von M. de Montaignes „Essais“ in der Originalübersetzung von 1753/54 durch J. D. Tietz anlässlich des Montaigne-Jahres 1992.
Stellenwert La Boéties innerhalb der anarchistischen Ideengeschichte
Für den modernen Anarchismus seit etwa 200 Jahren enthält der Text eine wegweisende ideengeschichtliche Bedeutung mit seinen Kerngedanken von der freiwilligen Knechtschaft, dem Aufruf und dem Recht zum Widerstand gegen Herrschaft und Tyrannei und mit seinem anthropologischen Paradigma von der Freiheit des Menschen als einem Naturrecht. Vor allem im 20. Jh., nach der „Wiederentdeckung“ durch Landauer (1907 u. La Boétie 1910/11), wird La Boétie und sein Text wieder ausführlicher diskutiert und in den Kontext und die Ideengeschichte des gewaltfreien Anarchismus gestellt. Auch finden wir in Leo Tolstois Lesebuch „Für alle Tage“ (Bd. I, Dresden 1906, S. 524-534) eine Teilübersetzung durch L. Tolstoi, der mit seiner eigenen Philosophie von der Gewaltfreiheit die Gedanken La Boéties aufgreift und mit urchristlichen Argumenten weiterführt. Interessanterweise wird nach 1945 La Boétie im deutschen anarchistischen Diskurs zwar immer wieder erwähnt und aus als „Urvater“ einer Theorie von der gewaltfreien Verweigerung und des zivilen Ungehorsams erwähnt, jedoch nur selten bzw. gar nicht kritisch diskutiert. So gesehen findet eine Auseinandersetzung derzeit nicht statt, obgleich La Boétie immer wieder als Pate erwähnt bzw. zitiert wird.
Ulrich Klemm
Literatur und Quellen: Quellen
- E. de La Boétie: Von der Freiwilligen Knechtschaft, übers. v. G. Landauer, in: „Der Sozialist“ (Berlin) in 6 Folgen 1910/11
- E. de La Boétie: Abhandlung über die Freiwillige Knechtschaft, in: W. Hoffmann-Harnisch: In Dir Selber suche den Sklaven, Bonn 1961
- E. de La Boétie: Über freiwillige Knechtschaft, übers. u. eingel. v. F. Boenheim, Berlin 1924, Repr. Königstein/ München 1981
- E. de La Boétie: Über die freiwillige Knechtschaft des Menschen, hg. u. eingel. v. H.-J. Heydorn, Frankfurt/M. und Wien 1968
- E. de La Boétie: Von der freiwilligen Knechtschaft. Unter Mitwirkung v. N. Bulst übers. u. hg v. H. Günther, Frankfurt/M. 1989, Neuausgabe Hamburg 1992
- E. de La Boétie: Von der Freiwilligen Knechtschaft (Bibliothek Sammlung unter der Hand, Bd. I), o. O., o. J. (Berlin ca. 1983)
- E. de La Boétie: Knechtschaft, Neuausgabe d. Übers. v. G. Landauer, Münster 1991
- M. de Montaigne: Essais nebst des Verfassers Leben nach der Ausgabe v. P. Coste ins Dt. übers. v. J. D. Tietz, 3 Bde., Zürich 1992, erstm. Leipzig 1753/54
- L. Tolstoi: Für alle Tage, Bd. I, Dresden 1906, S. 524-534.
Sekundärliteratur
- H. Günther: Freiheit, Herrschaft und Geschichte, Frankfurt/M. 1979
- U. Klemm: „Seid entschlossen, keine Knechte zu sein, und ihr seid frei“. E. de La Boétie und seine Philosophie der Freiheit, in: Die Freie Gesellschaft, Nr. 10/1984, S. 24-28
- G. Landauer: Die Revolution, Frankfurt/M. 1907, Neuausgabe Berlin 1974 u. 1977
- M. de Montaigne: Die Essais, Stuttgart 1976
- M. Nettlau: Geschichte der Anarchie, Bd. I: Der Vorfrühling der Anarchie, Berlin 1925. Neuausgabe Glashütten 1972, Vaduz 1984, verbesserte Ausgabe Münster 1993