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Pädagogik (historisch): Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 8. November 2008, 17:13 Uhr

Lexikon der Anarchie: Sachthemen


Pädagogik (historisch)


Über den Zusammenhang von Anarchismus und Pädagogik

Versteht man Anarchismus als eine Philosophie und soziale Bewegung, der es darum geht, Herrschaft, Gewalt, Unfreiheit und Hierarchien in allen gesellschaftlichen Bereichen abzubauen und aufzulösen, dann impliziert dies auch die Frage nach Bildung und Erziehung – also auch Pädagogik. Es ist festzustellen, dass für den Anarchismus Pädagogik ebenso wie etwa der Polizeiapparat, das Militär oder das Rechtssystem Bestandteil eines staatlichen Herrschafts- und Unrechtssystem darstellt.

Es ist deshalb konsequent, wenn sich der Anarchismus sowie die Anarchisten mit Fragen der Bildung und Erziehung befassen und hier auf eine Tradition zurückblicken können, die mit Beginn des modernen Anarchismus zusammenfällt.

In der Literatur finden wir diesen Zusammenhang zwischen Pädagogik und Anarchismus entweder als „anarchistische Pädagogik“ oder als „libertäre Pädagogik“ definiert, wobei eine klare Unterscheidung nicht vorliegt und beide Bezeichnungen parallel Verwendung finden.

Ähnlich der Vielfalt anarchistischer Theorie- und Praxisansätze ist auch im Bereich der anarchistischen Pädagogik kein einheitliches Verständnis anzutreffen.

Als kleinster gemeinsamer Nenner lässt sich aufzeigen, dass alle Konzepte von einem freiheitlichen Verständnis des Menschen ausgehen und die Überzeugung vom solidarischen Streben alle Theorie- und Praxisfragen bestimmt.

Dieser pädagogische Optimismus von der Bildungs- und Erziehungsfähigkeit des Menschen wird auf drei Kritikebenen operationalisiert: – Als Institutionenkritik fordert der Anarchismus neue Formen der Organisationen von Bildung und Erziehung, d. h. kleine, funktionsgerechte, zeitlich begrenzte, freiwillige und selbstbestimmte Orte des Lernens; – als Ideologiekritik wendet sich der Anarchismus gegen die traditionellen Träger von Bildung und Erziehung, also gegen die (Staats-)Schule, die (Klein-)Familie und gegen das herkömmliche Verständnis von Kindheit. Diese werden als Reproduktionsorte und -räume für Herrschaft, Unterdrückung und Ungleichheit interpretiert; – als Kritik am „Pädagogischen Bezug“ wendet sich der Anarchismus gegen alle autoritären Formen des pädagogischen Umgangs und fordert stattdessen ganzheitliche (integrative), erfahrungsbezogene (rationale), koedukative, selbstbestimmte (freiheitliche) und „beiläufige“ (nicht institutionalisierte) Interaktionen.


Historische Entwicklung

In diesem Sinne finden wir eine Tradition innerhalb der anarchistischen Bewegung, die bei ihren „Klassikern“ wie William Godwin, Max Stirner, Michael Bakunin, Peter Kropotkin, Gustav Landauer oder auch Emma Goldman ebenso zum Ausdruck kommt wie auch bei explizit „pädagogischen Anarchisten“ (z. B. Paul Robin, Sébastien Faure, Francisco Ferrer, Ernst Friedrich, Otto Rühle) oder auch bei Außenseitern des Anarchismus (z. B. bei dem religiösen Sozialist Leonhard Ragaz oder dem Individualanarchist Walther Borgius).

Ab Mitte des 20. Jahrhunderts, nach dem 2. Weltkrieg, sind es dann vor allem Anarchisten aus dem angelsächsischen Raum, die Impulse für eine „neue“ anarchistische Pädagogik bieten. Zu ihnen gehören beispielsweise die Engländer Herbert Read und Colin Ward oder auch die US-Amerikaner Paul Goodman und John Holt.


William Godwin: Wider die Nationalerziehung

Rekonstruiert man diese Traditionslinie bis zu ihren Anfängen, dann stoßen wir zunächst auf den Engländer W. Godwin, der mit seiner 1793 erschienenen Studie „An Inquiry concerning Political Justice and its Influence on General Virtue and Happiness“ zum ersten Klassiker des modernen Anarchismus wurde. In diesem Werk beschäftigt er sich u. a. auch kritisch mit der zur damaligen Zeit eingeführten und als Fortschritt gepriesenen allgemeinen Schulpflicht. W. Godwin wird hier zu einem der ersten Kritiker des liberalen Staatsschulsystems. Ohne dass er als Pädagoge praktisch tätig werden konnte, markiert er mit seiner bildungspolitischen Analyse eine Position, die seitdem (z. B. bei C. Ward 1973; St. Blankertz / P. Goodman 1980) zum festen Bestandteil anarchistischer Bildungs- und Schulkritik geworden ist: Schulzwang und Nationalerziehung verstärken (1.) Vorurteile sowie Irrtümer und hemmen einen emanzipatorischen Fortschritt, widersprechen (2.) der „Natur des Geistes“, indem sie Lernzwang ausüben und Selbständigkeit abbauen und sind (3.) durch die gefährliche Allianz von Schule und Staat geprägt und damit einem permanenten Missbrauch ausgesetzt.


Leo Tolstoi: Freiheit und Erfahrung

Einer der ersten praktischen und erfolgreichen libertären Schulversuche stammt von dem russischen Schriftsteller Graf Leo Tolstoi Mitte des 19. Jahrhunderts auf seinem Bauerngut „Jasnaja Poljana“. L. Tolstoi, den wir als einen der größten russischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts kennen, initiierte von 1859 bis 1862 einen bedeutenden alternativen Schulversuch, der heute noch beispielgebend für alternative Schulprojekte steht (vgl. z. B. G. Dennsion 1971; M. Näf 1988) und zum Prototyp einer Freiheitspädagogik wurde.

Wir finden in seinem Leben zwei Perioden intensiver Beschäftigung mit Fragen der Bildung und Erziehung: Im Zeitraum von etwa 1859 bis 1863 widmete er sich ausschließlich der Pädagogik, unternahm eine bildungspolitische Informationsreise nach Westeuropa, besuchte dabei u. a. in Deutschland und Frankreich Schulen und Pädagogen, gründete eine eigene Schule auf seinem Bauerngut, initiierte eine Alternativschulbewegung in Rußland mit mehreren Schulen und brachte auch eine eigene pädagogische Zeitschrift heraus, die er jedoch bereits nach einem Jahrgang 1863 mit der Auflösung seiner Schule auch wieder einstellte. In einer zweiten Phase von etwa 1869 bis 1876 konzentrierte er sich vor allem auf die pädagogische Publizistik und auf eine bildungspolitische Lobbyarbeit für ein freiheitliches Schulwesen.

Neben einer Schule, die jedoch weniger erfolgreich arbeitete als die Anfang der 1860er Jahre, war es vor allem seine Elementarfibel (vgl. L. Tolstoi 1968, russisch 1875) für die Volksschule, die im Mittelpunkt seines schriftstellerischen Schaffens stand und in den folgenden Jahren eine außergewöhnlich große Verbreitung erlebte.

Zur Grundlegung seines Konzepts und gleichsam paradigmatisch für anarchistische und libertäre Pädagogik schrieb er 1862 in dem Aufsatz „Gedanken über Volksbildung“: „Wir wissen, daß unsere Grundüberzeugung darin besteht, daß die einzige Grundlage der Erziehung die Erfahrung und ihr einziges Kriterium die Freiheit ist“ (hier L. Tolstoi 1985, russisch 1862). L. Tolstoi und mit ihm anarchistische Pädagogen verstehen Bildung als ein ursprüngliches Bedürfnis des Menschen. Andererseits steht für L. Tolstoi fest, dass eine Definition der pädagogischen Absicht, des Bildungs- und Erziehungszieles im philosophischen Sinne unhaltbar und schädlich ist.

In einer dritten Periode distanziert er sich von seiner ehemaligen Unterscheidung von Bildung und Erziehung und vertritt eine quasi normative Weltanschauungspädagogik, die sich am Wertesystem der Bergpredigt orientiert.


==Paul Robin: „Éducation intégrale“


In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts finden wir nun auch zunehmend pädagogische Aussagen bei den zentralen Vertretern des Anarchismus wie etwa bei M. Bakunin („Die vollständige Ausbildung“, 1869, hier deutsch 1923), P. Kropotkin („Technische Erziehung – Vollkommene Erziehung“, 1899, hier deutsch 1976), oder auch bei M. Stirner („Das unwahre Prinzip unserer Erziehung oder Humanismus und Realismus“, 1842, hier 1986).

Hervorzuheben ist hierbei die Pädagogik des Franzosen P. Robin, der in Cempuis (nordöstlich von Paris) von 1880 bis 1894 in einem Waisenhaus wegweisend für die kommenden Jahrzehnte eine Theorie und Praxis anarchistischer Pädagogik begründete. Unter dem Leitbild einer „Éducation intégrale“, einer ganzheitlichen Erziehung, ging es ihm um Elemente einer koedukativen und umfassenden, integrativen Bildungs- und Erziehungsarbeit (H. U. Grunder 1993).


Pariser Komitée von 1898: Freiheit durch Bildung

Er wirkte damit auf eine Initiative namhafter internationaler Anarchisten, die 1898 ein Bildungsprogramm erarbeiteten, welches als erster Versuch zu werten ist, einen gemeinsamen Standpunkt sowie gemeinsame Perspektiven anarchistischer Bildungspolitik für das 20. Jahrhundert zu entwerfen (vgl. H. Zoccoli 1976, S. 335-348).

Das Neue an dieser in Paris zusammenkommenden Gruppe war ihr internationaler Charakter und die Intention, auf der Grundlage der verschiedenen anarchistischen Strömungen, Thesen für eine libertäre Bildungsstrategie herauszufiltern. Hierzu trafen sich u. a. P. Kropotkin, Elisée Reclus, J. Grave und Ch. Malato. Sie entwickelten ein Schulprogramm mit dem Leitgedanken der Befreiung der Schule von Staat, Kirche und Autorität. In ihrer programmatischen Schrift „La Liberté par l’enseignement“ (Freiheit durch Bildung, 1898) nennen sie Grundsätze, mit denen anarchistische Pädagogik in den kommenden Jahren realisiert werden soll. Bildung muss sein: „a) allseitig, indem der Mensch individuell und gesellschaftlich seiner eigenen Vollendung entgegenstrebt... b) rational, indem Erziehung auf Vernunft und auf den Prinzipien der gegenwärtigen Wissenschaft und nicht des Glaubens begründet ist... c) koedukativ, indem die Geschlechter im gemeinsamen öffentlichen und privaten Leben ständig zusammengeführt werden... d) freiheitlich, damit das Kind selbst seine Weltanschauung anhand der Tatsache aufbauen, unbehindert und unbeschwert von allen Hemmnissen der bürgerlichen Erziehung und Dogmatik leben kann...“ (zitiert nach H. Baumann 1982, S. 25 f.).


Francisco Ferrer: Rationale Erziehung

In den folgenden Jahren entwickelten sich im Anschluss an diese Thesen sowohl eine theoretische Auseinandersetzung als auch praktische Versuche zur Realisierung anarchistischer Bildungs- und Schulvorstellungen. Es ging dabei um die Umsetzung einer ganzheitlichen und rationalen Bildung im Sinne der „Éducation intégrale“. Die bekannteste Konkretisierung dieser Idee wurde die „Escuela moderna“ (1901 bis 1909) des Spaniers F. Ferrer in Barcelona, der zum damals wichtigsten Promotor und heute legendärsten Pädagogen der anarchistischen Bewegung wurde und 1909 unter dem Vorwand, an einer blutigen Revolte beteiligt gewesen zu sein, hingerichtet wurde. F. Ferrer strebte keine „innere Reform“ der Schule an. Ihm ging es um eine grundsätzliche Änderung des Schulsystems, vor allem des spanischen, das damals unter der Aufsicht der Kirche stand und sich in einem erbärmlichen Zustand befand.

Bereits zu Lebzeiten konnte er eine Alternativschulbewegung initiieren, die anarchistischen Prinzipien verpflichtet war und als „Rationale Schulbewegung“ in die Geschichte der Pädagogik einzuordnen ist. Nach seinem gewaltsamen Tod, der ihn zum anarchistischen Märtyrer sowie weltweit bekannt machte, entwickelte sich eine internationale „Ferrer-Bewegung“, die u. a. in den USA eine breite Resonanz hatte (vgl. P. Avrich 1980) und auch in Deutschland von G. Landauer und dem „Sozialistischen Bund“ (SB), (S. Wolf 1991; U. Linse 1991) sowie in Österreich von Pierre Ramus (P. Ramus 1921) propagiert wurde. Bis Ende der 1930er Jahre prägten die Ideen F. Ferrers maßgeblich und weltweit die anarchistische Bildungs- und Schulpolitik.


Entwicklungen seit 1945 und Bildungspolitische Relevanz

Der Bruch, der Mitte des 20. Jahrhunderts den Anarchismus erschütterte – bedingt durch seine Niederlage im Spanischen Bürgerkrieg, den 2. Weltkrieg und den europäischen Faschismus – wirkte sich ebenso lähmend auf seine pädagogischen Intentionen aus. Es kam zum Stillstand. Erste Impulse zur Neuformulierung und Weiterentwicklung kamen ab den 1940er Jahre vor allem aus dem angelsächsischen Raum – im Gegensatz zur Zeit vor 1939, wo Europa und vor allem Frankreich und Spanien zum Fokus innovativer libertärer Pädagogik wurde – und sind zunächst stark mit dem Engländer H. Read verbunden, der mit seinem Werk „Erziehung durch Kunst“ (englisch 1943, deutsch 1962) völlig neue Impulse nicht nur für die libertäre Pädagogik setzte.

Fragen wir nun nach konkreten Impulsen, die der Anarchismus der Pädagogik heute bieten kann, dann sind dies vor allem zwei Aspekte, die sich sowohl aus dem klassischen als auch dem neuen Anarchismus nach 1945 ergeben: (1) Einmal ist dies die Forderung nach einer Freien Alternativschulbewegung bzw. nach Entschulung, die sich sowohl aus der Kritik am staatlichen Schulsystem als auch an reformpädagogischen Alternativen entwickelt. Hervorzuheben ist hier P. Goodmans Ansatz der „beiläufigen Erziehung“ (P. Goodman 1969; 1978) sowie George Dennisons praktischer Versuch von 1964/1965 mit seiner „First Street School“, in New York (G. Dennison 1971). Das, was in den 1960er Jahren von P. Goodman theoretisch formuliert und von G. Dennison in die Praxis umgesetzt wurde, gab entscheidende Anregungen für die daran anschließende weltweite neue Alternativschulbewegung, die auch Anfang der 1970er Jahre die BRD erreichte und mit der „Freien Schule Frankfurt“ ihren Anfang nahm. (2) Eine zweite Zielrichtung libertärer Kritik an aktuellen pädagogischen Verfasstheiten und Zuständen wird von J. Holt mit seiner Kinderrechtsbewegung (J. Holt englisch 1974, deutsch 1978) und Schulverweigerungsbewegung „Growing without Schooling“ (J. Holt englisch 1978, deutsch 1981) angedeutet: Es geht hierbei nicht nur um die Veränderung der Schule; es geht um deren Abschaffung. Es geht um die Abschaffung institutionalisierten Lernens und Lehrens und um die Neudefinition von Bildung und Erziehung. Angestrebt ist die Entmystifizierung von Pädagogik, Kindheit und Familie. In der BRD findet sich dieser Ansatz erstmals ab Ende der 1970er Jahre mit der Antipädagogik wieder, wie er damals von Ekkehard von Braunmühl (1975) und von Hubertus von Schoenebeck (1982) formuliert wurde.

Es geht hierbei nicht um eine pädagogische Kritik an der Pädagogik. Ziel ist eine kompromisslose Institutionenkritik an Familie und Schule sowie eine Ideologiekritik an pädagogischen Interaktionen.


Abgrenzungen

(1) Gegenüber der bürgerlichen Reformpädagogik setzt sich die anarchistische (Reform)Pädagogik durch ihren politischen Bezug ab sowie durch ihr Eingebundensein in die gesellschaftspolitische Ziele des Anarchismus. Andererseits finden wir in den entsprechenden Methodik- und Didaktik-Modellen sowie im Verständnis des „Pädagogischen Bezugs“ zwischen bürgerlicher und anarchistischer Pädagogik an vielen Stellen Parallelen, die sich beispielsweise an den Verbindungen von Anarchisten der Weimarer Republik zu Montessori-Vereinen zeigen lassen.

(2) Hinsichtlich marxistischer und kommunistischer Bildungs- und Erziehungsmodelle finden wir dagegen auf einer anderen Ebene eine Abgrenzung: Die Bildungspolitik und -praxis war hier in den meisten Fällen einer ausgesprochenen Parteidisziplin unterworfen, d. h. sie orientierte sich hinsichtlich bildungspolitischen Zielen an erster Stelle an den politischen Nah- und Fernzielen der Partei und entsprach einer Art „Hilfsdisziplin“. Entsprechend sahen auch die Bildungs- und Erziehungsziele aus, die einen klassenbewussten, parteitreuen und – im Falle sozialistisch-kommunistischer Staaten – staatstreuen „Klassenkämpfer“ als Leitidee hatten. Auch die kommunistischen, marxistischen und sozialdemokratischen Jugendorganisationen waren in starkem Maße von den Vorgaben der „Mutterpartei“ abhängig. Eine Autonomie und Eigenständigkeit bestand nur selten. Die libertäre Pädagogik kannte dagegen nur im begrenzten Umfang (z. B. bei anarcho-syndikalistischen Bildungsinitiativen) die Abhängigkeit von anarchistischen „Mutterorganisationen“ (die im Sinne einer Partei auch nicht vorhanden waren). Auch war der Typus „Klassenkämpfer“ in den wenigsten Fällen das primäre Erziehungsziel. Deutlich macht dies Walther Borgius wenn er davon spricht, dass der Anarchismus „nicht die Organisation der Massen“ zum Ziel hat, „sondern die Aufklärung der Individuen“ (1904, S. 57).

(3) Was die antiautoritäre Pädagogik sozialistischer und liberaler Prägung Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre betrifft, so kann die Abgrenzung nicht immer deutlich vorgenommen werden. Wir finden bei der sozialistischen Variante sowohl Überschneidungen und Scharniere zur libertär-anarchistischen Pädagogik wie etwa bei der damals wiederentdeckten Pädagogik des Rätekommunisten Otto Rühle. Andererseits wurden für die antiautoritäre Pädagogik auch „alte“ Theoretiker der linken Sozialdemokratie wie Otto Kanitz oder der KPD-Funktionär Edwin Hörnle wieder aufgegriffen, die die Bildung der Proletarierkinder „klassengebunden“ verstanden sowie Klassenkampfbewusstsein und Parteidisziplin als Erziehungs- und Bildungsziele hatten. Bei der „liberalen“ antiautoritären Pädagogik sei exemplarisch auf Alexander Sutherland Neill hingewiesen, der einerseits keine Bindung zum Anarchismus hatte und auch seine Pädagogik zunächst als unpolitisch begriff, sie jedoch in den letzten Jahren seines Wirkens zunehmend radikalisierte und politisierte und heute von Anarchisten als Impulsgeber für eine freiheitliche Pädagogik gesehen wird (D. Stephens 1988; J. Spring englisch 1975, deutsch 1982).

(4) Von besonderem Interesse wurde in den letzten Jahren das Verhältnis von Anarchismus und Antipädagogik. Es geht dabei um die Frage, ob ein anarchistisches Verständnis von Bildung und Erziehung immer in eine antipädagogische (d. h. erziehungsfreie) Haltung münden muss und damit traditionelle und historische anarchistische Ansätze in der Pädagogik heute aus dieser Sicht abzulehnen sind (zusammenfassend zur libertär-antipädagogischen Position vgl. G. Kern / G. Grüneklee (Hg.), 1993). Die Kontroverse „anarchistische Pädagogik contra Antipädagogik“ ist in diesem Sinne die Frage nach dem „richtigen“ Bewusstsein, d. h. nach dem „richtigen“ freiheitlichen und gewaltfreien Verhältnis Kindern gegenüber aus der Sicht des Anarchismus.

Es ist festzuhalten, dass die klassischen Modelle und Ansätze anarchistischer Pädagogik nur selten antipädagogische Grundtendenzen hatten (als Ausnahme vgl. W. Borgius, 1930) und die Idee des erziehungsfreien Umgangs von Erwachsenen mit Kindern erst seit den 1960er Jahren an Bedeutung gewinnt.


Zusammenfassung und Kritik

– Wir müssen zunächst festhalten, dass anarchistische Pädagogik, d. h. Fragen der Bildung und Erziehung, eine lange Tradition haben und eng mit der Bewegung verbunden sind. – Bei Fragen der Bildung und Erziehung bleibt der Anarchismus selten nur theoretisch: Wir finden hier eine Fülle von unterschiedlichen Praxisansätzen, die sich vor allem auf den Schulbereich konzentrieren. – Pädagogik wird für den Anarchismus ein wichtiges Feld, in dem libertäre Utopien erprobt und bereits heute realisiert werden können. – In der etablierten Pädagogikgeschichte sowie in der Erziehungswissenschaft wird diese Tradition jedoch weitgehend verleugnet bzw. erfährt keine Beachtung. – Die Praxismodelle überlebten nur selten ein Arbeitsjahrzehnt und waren in ihrem Schicksal eng mit der anarchistischen Bewegung verbunden. – Mit ihren theoretischen Impulsen wirkt die anarchistische Pädagogik jedoch oftmals unbemerkt auf neue Formen von Bildung und Erziehung und findet Eingang in aktuelle bildungspraktische und -politische Auseinandersetzungen (z. B. die Impulse von P. Goodman auf die Alternativschulbewegung ab den 1960er Jahren). – Ausgangspunkt anarchistischer Pädagogik wird die politische Anthropologie des Anarchismus, d. h. die Sicht des Menschen als ein nach Selbstbestimmung und Freiheit strebendes Wesen. – Zum zentralen Element anarchistischer Pädagogik wird die Frage nach herrschaftsfreien und selbstbestimmten Interaktionen von Erwachsenen und Kindern. Im Vordergrund steht ein Konzept der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung. – Die Verwirklichung dieser Ansprüche erweist sich jedoch ebenso schwer wie die des Anarchismus insgesamt: Gesellschaftliche Verhältnisse und menschliche Verfasstheiten lassen selten ideale Bedingungen für die Realisierung anarchistischer Utopien entstehen. – Der Erfolg und die Kontinuität anarchistischer Bildungsprojekte war und ist in vielen Fällen persönlichkeitsabhängig. Wie in der sonstigen Pädagogikgeschichte auch, verbinden sich Innovationen und Modelle vor allem mit einzelnen Menschen und Erfolg und Misserfolg werden personalisiert. – Die Abgrenzung zu anderen Richtungen der Pädagogik ist nicht immer deutlich. Die Frage nach der Eigenständigkeit anarchistischer Pädagogik lässt sich nur bedingt eindeutig beantworten. Oftmals flossen und fließen aus vorhandenen Pädagogikmodellen freiheitliche Elemente und Aspekte mit ein und werden im Kontext anarchistischer Theorie und Politik neu ver- und gewertet.


Ulrich Klemm


Literatur und Quellen: Primärliteratur

  • M. Bakunin: Die vollständige Ausbildung. In: M. Bakunin: Gesammelte Werke, Bd. 2, Berlin 1923, S. 105-122 (erstmals 1869)
  • S. Blankertz / /P. Goodman: Staatlichkeitswahn, Wetzlar 1980
  • W. Borgius: Die Schule – Ein Frevel an der Jugend, Berlin 1930, 2. Aufl. Freiburg/B. 1981
  • E. v. Braunmühl: Antipädagogik, Weinheim 1975
  • F. Ferrer: Die moderne Schule, Berlin u. Wien 1923 (erstmals spanisch 1912, deutsche Neuauflage 1970 u. 1975)
  • G. Dennison: Lernen und Freiheit, Frankfurt/M. 1971 (englisch 1969)
  • G. Kern / G. Grüneklee (Hg.): Lernen in Freiheit. Anti-pädagogische Thesen und Pamphlete, Münster 1993
  • U. Klemm (Hg.): Bildung ohne Herrschaft. Texte zur Geschichte der anarchistischen Pädagogik, Frankfurt/M. 1990
  • P. Kropotkin: Technische Erziehung – Vollständige Erziehung. In: P. Kropotkin: Landwirtschaft, Industrie und Handwerk, Berlin 1976, S. 213-234
  • P. Goodman: Freiheit und Lernen. In: Neue Sammlung, 9. Jahrgang, Heft 5, 1969, S. 419-427 (englisch 1968)
  • P. Goodman: Erziehung – Zwangsjacke oder Freiheit, 2. Aufl. Meppen 1978
  • J. Holt: Zum Teufel mit der Kindheit, Wetzlar 1978 (englisch 1974)
  • J. Holt: Ohne Schule groß werden. In: B. Suin de Bouetemard (Hg.): Alternatives Vorlesungsverzeichnis Freier Nachbarschaftsuniversitäten, Lindenfels 1981, S. 242-247 (englisch 1978)
  • H. Read: Erziehung durch Kunst, München / Zürich 1962 (englisch 1943)
  • H. v. Schoenebeck: Unterstützen statt erziehen, München 1982
  • M. Stirner: Das unwahre Prinzip unserer Erziehung oder Humanismus und Realismus. In: M. Stirner: Parerga, Kritiken, Repliken, Nürnberg 1986, S. 75-97 (erstmals 1842)
  • L. Tolstoi: Das Neue Alphabet & Russische Lesebücher, Berlin 1968
  • L. N. Toistoj: Die Schule von Jasnaja Poljana, Wetzlar 1980
  • L. Tolstoi: Über Volksbildung, Berlin 1985
  • C. Ward: Anarchy in action, London 1973
  • H. Zoccoli: Die Anarchie und die Anarchisten, Berlin 1976 (erstmals deutsch 1909)


Sekundärliteratur

W. Archer / D. Poole / P. Ramus: Francisco Ferrer, Anzhausen 1982

P. Avrich: The Modern School Movement. Anarchism and Education in the United States, Princeton 1980
  • H. Baumann: Libertäre Erziehung von 1919-1933. Dissertation Universität Oldenburg 1982
  • H. Baumann: Anarchie und Erziehung. In: R Baumann / F. Bulhof / G. Mergner (Hg.): Anarchismus in Kunst und Politik, Oldenburg 1984, S. 99-106
  • H. Baumann / U. Klemm / T. Rosenthal (Hg.): Werkstattbericht Pädagogik, Bd. 1: Geschichte und Perspektiven anarchistischer Pädagogik, Grafenau 1985
  • H. Baumann / U. Klemm (Hg.): Werkstattbericht Pädagogik, Bd. 2: Anarchismus und Schule, Grafenau 1988
  • W. Borgius: Die Ideenwelt des Anarchismus, Leipzig 1904, Neu herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von U. Klemm Hilterfingen 2002
  • S. Blankertz: Erziehung, anarchistische. In: R-D. Haller / H. Mayer (Hg.): Enzyklopädie Erziehungswissenschaft, Bd. 3, Stuttgart 1986, S. 416-418
  • S. Blankertz: Der Kritische Pragmatismus Paul Goodmans, Köln 1988 (erstmals Wetz1ar 1983)
  • S. Blankertz: Legitimität und Praxis, Wetz1ar 1989
  • H. U. Grunder: Theorie und Praxis anarchistischer Erziehung, Grafenau 1986, 2. überarbeitete Auflage Grosshöchstetten u. Bern 1993
  • H. U. Grunder: Anarchistische Erziehung und das Ende der Utopie. In: Zeitschrift für Pädagogik, 38. Jahrgang, Heft 4, 1992, S. 547-574
  • U. Klemm (Hg.): Anarchismus & Bildung. Schriften zur libertären Pädagogik, Ulm 1986-1990 (4 Hefte)
  • U. Klemm: Anarchistische Pädagogik, Siegen-Eiserfeld 1984
  • U. Klemm (Hg.): Anarchismus und Pädagogik. Studien zur Rekonstruktion einer vergessenen Tradition, Frankfurt/M. 1991
  • U. Klemm: Francisco Ferrer. Ein libertärer Schulreformer im Kontext der Bildungsgeschichte. Hilterfingen 2004
  • U. Linse: Die anarchistische pädagogische Bewegung der Weimarer Zeit auf der Suche nach der „freien Schule“. In: U. Klemm (Hg.): Anarchismus und Pädagogik, Frankfurt/M. 1991, S. 138-152
  • M. Näf: Alternative Schulformen in der Schweiz, Zürich 1988
  • P. Ramus: Francisco Ferrer – ein Märtyrer der freien Jugenderziehung und modernen Kulturschule, Wien-Klosterburg 1921 (erstmals 1910)
  • J. Spring: Erziehung als Befreiung, Anzhausen 1982 (englisch 1975)
  • D. Stephens: Summerhill. In: TRAFIK Nr. 29, Anarchismus & Bildung, Heft 3, Mülheim / Ulm 1988, S. 29-39
  • S. Wolf: „Revolution heißt ein neuer Geist“. Gustav Landauers libertäre Pädagogik. In: U. Klemm (Hg.): Anarchismus und Pädagogik, Frankfurt/M. 1991, S. 99-114
  • Zeitschrift für Entwicklungspädagogik – ZEP (Schwerpunkt: Libertäre Pädagogik), 10. Jahrgang, Nr. 2,1987


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