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Frühromantik

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Lexikon der Anarchie: Sachthemen

Forschungsstand

Frühromantik ist eine künstlerische und wissenschaftlich-philosophische Bewegung in den deutschen Staaten zwischen ca. 1795 bis 1805 (Literatur, Malerei, Musik). Die Vertreter und Vertreterinnen reagierten auf die Ereignisse der Französischen Revolution und sie begrüßten die damit einhergehenden politischen und kulturellen Neuerungen. Sie verfochten die Rechte des Individuums gegenüber Institutionen bzw. lehnten Institutionen gänzlich ab (Staat, Justiz, Kirche), sie stellten religiöse und moralische Konventionen infrage, sie setzten sich für neue Geschlechterrollen von Frau und Mann ein und erstrebten künstlerische Autonomie jenseits traditioneller Kunstsysteme und Kanonanforderungen. Sie begnügten sich – verallgemeinert gesagt – nicht mit den Errungenschaften dieser bürgerlichen Revolution in Frankreich, sondern wollten sie vorantreiben. In Gedankenexperimenten strebten sie u.a. über Demokratie, Republik und Repräsentativsystem hinaus. Zwar ist bekannt, dass sie den Idealen der Französischen Revolution, also denen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, verpflichtet gewesen waren und demzufolge werden sie auch heutzutage zumeist in eine unspezifische, zeitgeistkonforme ‚demokratisierende‘ Lesart gebracht. Gleichwohl kann man von anarchoiden oder anarchistischen frühromantischen Tendenzen sprechen, vor allem im Kreis der Frühromantiker in Jena, aber auch bei anderen Vertretern. Sie zeigten sich in literarischen, publizistischen sowie in philosophischen Werken, ebenso in Privatzeugnissen wie Tagebüchern und Briefen. Und nicht zuletzt: Mit dem demonstrativ offenen Haushalt von August Wilhelm und Caroline Schlegel in Jena im Jahr 1799 und mit ihren vielen freizügig verkehrenden Wohn- und Besuchsgästen kam es zu einer libertären Wohngemeinschaft, einer ‚Kommune‘.

Baader und Godwin

Franz von Baader, unterwegs auf einer längeren Praktikumstour durch englische Bergwerke und Fabriken, begann gleich nach Erscheinen von Godwins Schrift An Enquiry concerning Political Justice (1793) mit einer intensiven Lektüre. Sie hat in seinen Tagebüchern nachhaltige Spuren hinterlassen. Godwins Institutionenkritik, die sich vor allem gegen das Justizwesen richtete, aber auch gegen die Schattenseiten von Privateigentum und die bei ihm in ein Ideal von Staatslosigkeit und Eigentumsverallgemeinerung (nicht Gemeineigentum) mündete, fand Baaders Zustimmung: „Anarchie ist eine der Aeusserungen der Heilkräfte der Natur (der menschlichen Gesellschaft). – Eine Fieberbewegung nach der chronischen Erschlaffung der Despotie“. Bei dieser Kontrastfigur blieb es aber nicht. Baader zufolge sei Anarchie nämlich auch der Demokratie überlegen. In einem Land wie Großbritannien, das, als ‚konstitutionelle Monarchie‘, gewisse demokratische Errungenschaften zeigt, erkennt er, orientiert an Godwin, auch Schattenseiten: „Das Wort Subject – Unterthan – von Unterthuen, Unterwerfen – enthält in gewisser Rücksicht die ganze Geschichte und Philosophie aller monarchischen, aristokratischen und demokratischen Regierungen“. Ökonomische Aspekte und die ‚soziale Frage‘, die bei Godwin einen großen Raum einnehmen, interessierten Baader aber nicht vordringlich. Denn allein Moral und Tugend waren für ihn die Gradmesser, nach denen er Staat, Recht und Gesetz bemaß. Und da galt: Der Staat wolle vor angeblichen Übeln schützen, verteidigt aber in Wahrheit die tatsächlichen: Und Baaders Alternative? Benutzt er dafür gar den Begriff ‚Anarchie‘? Auch er steht für die sich Ende des 18. Jahrhunderts ergebende Tendenz, diesen Begriff neu und positiv zu verwenden:

Anarchie kann mit Despotie enden und hat oft mit ihr geendet. In diesem Falle hat die Einführung der Anarchie blos dazu gedient, die Menschen mit einer unübersehbaren Menge von Uebeln zu überschütten. Anarchie kann aber auch nach Umständen zu einer gemässigtern, billigeren Regierungsform führen, als die war, welche die Anarchie veranlasste. Und es scheint selbst nicht unmöglich, dass Anarchie sogar zu der besten Form der menschlichen Gesellschaft uns führen kann, die nur immer der durchdringendste Verstand des Philosophen sich zu denken vermag.

Das besagt, dass Anarchie für sich einen Wert habe, dass Herrschaftsfreiheit möglich sei, ohne zu Chaos zu führen. Sie ermöglicht – so Baader – ein konfliktfreies Zusammenleben Aller und emanzipiert die Einzelnen. Diese Emanzipation des Einzelnen ist aber weniger eine politische als eine moralische. Politik dient der Moral. Baaders kurzzeitiger Experimentalanarchismus war sittlich-moralisch fundiert. Und seine Ausrichtung baut auf naturrechtliche Prämissen, die bei ihm kurzzeitig in anarchistische umschlagen: Der Mensch ist gut und vernünftig und wenn er es noch nicht gänzlich ist, dann ist er aber vervollkommnungsfähig.

„Über den Staat hinaus“: Das sog. Systemprogramm

Das um 1795 entstandene Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus (ein Text, der erst über einhundert Jahre nach seiner Abfassung entdeckt wurde und dessen geistige Urheberschaft wird nach wie vor umstritten ist: Hegel, Hölderlin oder Schelling) hatte einen hohen Zukunftsanspruch. Es ging um die Stiftung einer neuen religionsähnlichen Mythologie. Sie sollte die voneinander entfremdeten Subjekte der Moderne vereinen. Denn Religion und Staat haben sich als kulturelle Einigungsinstanzen überlebt. Gerade Staat sei ein Medium der Zertrennung. Und die scheinbare Einigung, die er vollbringt, sei nur die eines mechanischen Räderwerks: „jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören“. Man müsse „über den Staat hinaus“. Es gehe darum, „das ganze elende Menschenwerk von Staat, Verfassung, Regierung, Gesetzgebung – bis auf die Haut [zu] entblößen“. Ziel wäre eine Gattungseinheit auf Basis einer neuen Mythologie. Insofern erscheint Anarchie nicht als Selbstzweck. Man kann – und das trifft für fast alle Anarchismen der Romantiker zu – von Sekundäranarchismen sprechen. Freiheit vom Staat, Abschaffung des Staats oder Erlöschen des Staats haben nicht Wert an sich. Denn ‚Staat‘ muss in Theorie und Praxis überwunden werden, weil er anderen und besseren Entwicklungen im Weg steht. In diesem Fall wäre das eine Menschheitseinigung auf Basis von Mythologie.

Schöpferisches Chaos und Gesetzlosigkeit: Das Athenaeum

Friedrich Schlegels wechselnden Positionen als Frühromantiker und Spätromantiker war eine dezidierte Staatsgegnerschaft gemeinsam. Von einem zum Katholizismus konvertierten Hochkonservativen dürfte das kaum zu erwarten sein. Aber auch dem späten Schlegel galt – so in seinen Fragmenten Zur Geschichte und Politik (1824/26) – der Staat als eine zu überwindende Institution: „Der Staat muß endlich ganz verschwinden und völlig in die Kirche aufgehen“. Das war eine kirchlich-konservative Staatskritik, aber sie schrieb, strukturell gesehen, die Staatskritik aus Schlegels anarchistischer Frühphase fort. Sein Versuch über den Republikanismus (1796) hielt politisch-programmatisch fest: „Das Einzelne und das Allgemeine ist überhaupt durch eine unendliche Kluft voneinander geschieden“, folglich beruhe jeder Staat auf „Herrschaft und Abhängigkeit“. Dennoch hielt Schlegel es zu dieser Zeit für möglich, dass das „Gegenteil“ denkbar sei. Im Sinne einer regulativen Idee, eines utopischen Ziels müsse man die empirisch gegebene Realität zu übersteigen versuchen. Erst in den Jenaer Vorlesungen zur Transzendentalphilosophie (1800/01) folgte dann ein unmissverständliches Bekenntnis zu Anarchie. „Allmacht“ des Menschen bedeute nichts als „absolute Freyheit“: „Eine Gesellschaft nach diesem Begriff der Freyheit wird Anarchie seyn – man mag sie nun nennen das Reich Gottes, oder das goldene Zeitalter. Aber das wesentliche wird allemal Anarchie seyn“. Auch hier hält Schlegel ausdrücklich nur eine „Annäherung“ an dieses Ideal und an dieses „höchste Gut“ für möglich. Mit diesen Überlegungen scheint Schlegel auch auf Ausführungen von Novalis Bezug zu nehmen, der 1798/99 in seinem Allgemeinen Brouillon Entwicklungen in der Natur und Gesellschaft miteinander verknüpft hatte:

Die ganze Natur muß auf eine wunderliche Art mit der ganzen Geisterwelt vermischt seyn. Die Zeit der all[gemeinen] Anarchie – der Gesezlosigkeit – Freyheit – der Naturstand der Natur – die Zeit vor der Welt (Staat.) Diese Zeit vor der Welt liefert gleichsam die zerstreuten Züge der Zeit nach der Welt – wie der Naturstand ein sonderbares Bild des ewigen Reichs ist.

Die in den Jahren von 1798 bis 1800 von August Wilhelm und Friedrich Schlegel herausgegebene Zeitschrift Athenaeum bot den Spielraum, solche ästhetischen, aber mitunter auch politischen Anarchismen gedanklich zu durchproben. Fridrich Schlegels Athenaeums-Fragment Nr. 425 hielt unmissverständlich fest: „Die erste Regung der Sittlichkeit ist Opposition gegen die positive Gesetzlichkeit und konventionelle Rechtlichkeit“. Aber Revolution, Opposition und Anarchie galten den Athenaeums-Autoren zumeist als Phänomene der ästhetisch-künstlerischen Sphäre. Sie opponierten auf dem Gebiet der Kunst, wollten Kunst und Philosophie revolutionieren; sie erstrebten eine philosophische Poesie und eine poetische Philosophie. Anarchie interessierte sie vor allem auf künstlerischem Gebiet, vor allem auf dem der Literatur. Insofern lauteten die Schlüsselbegriffe und Schlagworte, die in der Zeitschrift immer wieder thematisiert wurden: Fragment, Formlosigkeit, Unverständlichkeit, Paradox, Ironie. Das alles geschah selbst in subversiv-fragmentarischer Form; zu nicht geringen Teilen bestehen die Hefte selbst aus Sammlungen von Fragmenten.

Schellings Individualrecht

Der frühe Schelling war ein vehementer Fichte-Anhänger. Man kann aber auch von einer bemerkenswerten anarchistischen Phase sprechen, die etwa fünf Jahre lang währte. Sie fand ihren Ausdruck vor allem in Schellings Schriften Vom Ich als Princip der Philosophie (1795) und Neue Deduktion des Naturrechts (1796/97 als Zeitschriftenbeitrag veröffentlicht). In der Zeit danach rückte Schelling von seinem unbedingten Ich- und Freiheitspathos ab; im Zusammenhang mit der Entdeckung der Natur und der objektiven Macht der Natur versuchte er alsbald, Notwendigkeiten anzuerkennen, versuchte auch, den Staat anzuerkennen. Noch einmal zehn Jahre später hatte er sich – radikale Kehre – schließlich zu einem Konservativen gewandelt. Dabei zeigten sich aber ebenfalls noch deutliche Spuren einer einstigen Staatskritik, aber in einem gänzlich anderen Rahmen. Kirche statt Staat, das war das Credo des späten Schelling. Anfangs war er anfangs fasziniert von Fichte. Dieser hatte eine Ich-Philosophie entwickelt, die demokratisch-republikanische Tendenzen einschloss: die Praxis der Revolution übersetzt in die revolutionäre Praxis der Philosophie. Diese politischen Tendenzen hatte Fichte mit dem freimaurerischen Ideal einer allgemeinen Menschenverbrüderung verknüpft. Aus dieser Perspektive ging er über den Staat hinaus, wollte ihn als Institution hinter sich lassen, und diese Position vertrat er 1794 in Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten öffentlich:

Sie sehen, M. H., wie wichtig es ist, die Gesellschaft überhaupt, nicht mit der besondern empirisch bedingten Art von Gesellschaft, die man den Staat nennt, zu verwechseln. Das Leben im Staate gehört nicht unter die absoluten Zwecke des Menschen, was auch ein sehr großer Mann darüber sage; sondern es ist ein nur unter gewissen Bedingungen statt findendes Mittel zur Gründung einer vollkommenen Gesellschaft. Der Staat geht, eben so wie alle menschliche Institute, die bloße Mittel sind, auf seine eigene Vernichtung aus: es ist der Zweck aller Regierung, die Regierung überflüßig zu machen.

Schelling erwies sich anfangs als begeisterter Anhänger Fichtes. Seine Schrift Vom Ich als Princip der Philosophie schrieb Fichtes Ich-Verklärung enthusiastisch fort („Ich bin, weil Ich bin! das ergreift jeden plötzlich“). Dieses ‚Ich‘ war mehrgestaltig. Es war als sog. absolutes Ich vorrangig ein Gattungs-Ich, das Ich einer Gattung, die sich von allen Schranken frei macht und die „Schrecken der objektiven Welt“ hinter sich lässt. ‚Ich‘ war hier gewissermaßen Synonym für Mensch. Es zeigen sich aber bereits auch Züge eines individuellen ‚empirischen‘ Ichs. Gänzlich auf dieses individuelle und anarchische ‚Ich‘ fokussierte sich Schellings Schrift Neue Deduktion des Naturrechts (1796/97). Es handelt sich hier nicht mehr, wie beim Systemprogramm um einen Sekundäranarchismus. Vielmehr handelt es sich um Primäranarchismus. Denn hier werden Staat, Recht und Politik nicht verworfen, um sie anderen und werthaft angeblich höherstehenden kulturellen Instanzen wie beispielsweise Kunst oder Mythologie weichen zu lassen. Freiheit für das Individuum ist das A und O der Schrift. Freiheit, nicht durch Staat und Recht, sondern von Staat und Recht. Der jugendliche Schelling streift die in seiner Vorgängerabhandlung noch vorhandenen Momente von Ich-Kritik ab. Er inthronisiert das Ich, das unumschränkte, alle Grenzen ignorierende oder niederreißende empirische Individuum. Dieser Ich-Enthusiasmus – „Die ganze Welt ist mein moralisches Eigenthum“ – ist ohne die mit der Französischen Revolution verbundenen Umbrüche nicht zu verstehen. Diese Revolution war ein Indiz, ein Zeichen. Veränderungen und Umwälzungen wären grundsätzlich möglich. Bedingung wäre, das auf Rousseau fußende naturrechtliche Konstrukt eines ‚Allgemeinwillens‘ (ein Schlagwort auch der Französischen Revolution) hinter sich zu lassen. So kommt es bei Schelling zu einer neuen Ausarbeitung des Naturrechts, wie schon der Titel es anzeigt. Und dieses neue Naturrecht hat ein grundsätzlich neues Zentrum: ausschließlich und uneingeschränkt das individuelle, empirische Ich. Man hat aber kein publizistisches Manifest, keine populäre Kampfschrift vor sich. Schelling folgt der Form nach den engen Regeln des Systems Philosophie, d.h. der Universitätsphilosophie. Aber dennoch ist diese Schrift durch und durch subversiv angelegt. Gleich eingangs wird von Schelling sein kategorischer Imperativ formuliert: „Strebe daher, um ein Wesen an sich zu werden, absolut-frei zu seyn, strebe, jede heteronomische Macht deiner Autonomie zu unterwerfen, strebe, durch Freiheit deine Freiheit zur absoluten, unbeschränkbaren Macht zu erweitern“. Das heißt, man müsse Gesellschaft und Recht strikt vom Individuum her denken und nur vom Individuum her. Das Gemeinwohl? Eine bloße Abstraktion, eine Fiktion. Wer könne schon an das Allgemeinwohl denken, der nicht einmal in der Lage ist, an sein eigenes Wohl, an seine eigenen Interessen zu denken? Von daher gilt (und das ist das Fazit von Schellings Schrift): „ich darf alles, wodurch ich die Individualität meines Willens behaupte, ich habe ein Recht zu jeder Handlung, wodurch ich die Selbstheit meines Willens rette“. Die in solchen und anderen Thesen liegende Sprengkraft stellt Schelling am Ende der Schrift noch einmal ausdrücklich heraus: „Alles, selbst der allgemeine Wille, beugt sich vor der Freiheit des Individuums, wenn sie zu ihrer eignen Rettung wirksam ist. Der allgemeine Wille existirt nicht mehr, sobald es Rettung der Freiheit gilt“. Damit revolutionierte Schelling das Naturrecht, auf das er sich im Titel seiner Schrift noch berief. Dieses aufklärerische Naturrecht ging von der ursprünglichen Freiheit und Gleichheit aller Menschen aus. Der junge Schelling, ein theoretischer Anarchist par excellence, strich das zweite Axiom, das der Gleichheit, aus. Zuerst kommt die Freiheit – und auch danach kommt nur und ausschließlich Freiheit. Schelling war zu dieser Zeit einschränkungslos Individualanarchist. Später durchlief auch er Wandlungen und Kehren und er ließ diese anarchistischen Ideale hinter sich. Er stand damit exemplarisch für die Wandlung von Frühromantikern zu christlich geprägten und politisch konservativen Spätromantikern. Über diesen Wandlungen sollte die frühromantische, zum Teil anarchistisch geprägte Phase nicht vergessen werden.

Rezeption

Die einstigen subversiven frühromantischen Anfänge wurden bis Mitte des 20. Jahrhunderts rezeptionsgeschichtlich überlagert von einem Gesamtkonzept von Romantik, das die Spezifik der Frühromantik überging und Romantik – verallgemeinernd gesagt – vorrangig und unter wechselnden Vorzeichen mehr oder weniger nationalistisch interpretierte. Das änderte sich in Ost- und Westdeutschland ab ca. 1970, ohne dass dabei die anarchistischen Akzente der Frühromantik zur Geltung kamen. Ungeachtet dieser Rezeptionsdominante hatten sich Historiker und Theoretiker des Anarchismus ab ca. 1900 aber auch auf frühromantische Vorlagen berufen – und zwar Autoren und Akteure, die einer lediglich proletarisch orientierten Historiographie des Anarchismus entgegenarbeiteten und insgesamt der alleinigen Bindung des Anarchismus an das Proletariat zunehmend skeptisch begegneten (Landauer, Nettlau, Rocker). In diese Rezeptionslinie gehört Herbert Marcuse, der sich seit seiner Dissertation Der deutsche Künstlerroman (1922) auch mit der Frühromantik auseinandersetze und in dessen kapitalismuskritischem, zivilisationskritischem und anarchistischem Spätwerk sich viele Spuren frühromantischer Arbeits- und Kapitalismuskritik zeigen. Relativ weitreichend und über akademische Kreise hinaus wurde in den Debatten über moderne kapitalistische Arbeitszwänge in den letzten Jahrzehnten ein frühromantischer Text rezipiert, der die Kunst des Müßiggangs und der Befreiung bzw. Selbstbefreiung von zweckrationaler Arbeit bzw. Lohnarbeit feiert (gleichwohl und alternativ dazu aber selbstbestimmte Tätigkeit auf künstlerischem Gebiet unbedingt bejaht): Friedrich Schlegels Idylle über den Müßiggang aus seiner Textcollage Lucinde (1799). Das reicht – um hier nur ein Beispiel zu nennen – bis hin zu den Manifesten der „Glücklichen Arbeitslosen“ aus der Zeit von 1996-2002, als deren Hauptinitiator der in vielen künstlerisch-anarchistischen Szenen aktive Lebenskünstler Guillaume Paoli anzusehen ist. Die vor einigen Jahren (2012) erschienene Buchpublikation der Slawistin Sigrun Bielfeldt arbeitete eine weitere Facette anarchistischer Romantik-Rezeption heraus (allerdings nicht der Frühromantik). Sie versucht – was in der Bakunin-Forschung bislang eher zurückhaltend aufgenommen worden ist – Bakunin als ‚Linksschellingianer‘ zu verorten. Spätestens mit Bakunins Übersiedlung nach Deutschland 1840, mit der Lektüre junghegelianischer Schriften und mit der vagen Erkenntnis, dass Hegels idealistische Philosophie sich nicht praxis- und zukunftszugewandt ‚verwirklichen‘ lassen könne, rückte die sog. positivistische Spätphilosophie Schelling in seinen Blick. Wie die Autorin anhand von Nachlassmaterialien, Briefen usw. belegt, machte Bakunin sich an systematische Schelling-Studien, und diese verstärken sich im Herbst 1841, unmittelbar bevor Schelling seine Berliner Vorlesungen begann (Bakunin besuchte sie bekanntlich, und er soll auch zu denen gehört haben, die Schelling nach Abschluss dieser Vorlesung begeistert einen Fackelzug darbrachten). Fasziniert habe ihn um diese Zeit der Zug des späten Schelling zum Einzelnen (statt Hegels Kult des Allgemeinen) sowie Schellings – von christlich-religiösen Positionen aus – vorgetragene dezidierte Staatskritik und sein proklamierter Bezug auf das Individuum, auf die Empirie und auf die Wirklichkeit. Die Basis dieser Schelling-Verehrung und dieser Hegel-Distanz Bakunins wäre ein Staatsdenken gewesen, das eben nicht dem Staat, sondern der Religion vergesellschaftende Zukunftspotentiale zumaß. Als Beleg für diese These wird vor allem Bakunins früher, 1842 anonym erschienener umfangreicher Aufsatz Die Reaction in Deutschland angeführt, der in der Tat viele Deutungsmöglichkeiten eröffnet.


Primärliteratur:

  • Baader, Franz Xaver v.: Tagebücher aus den Jahren 1786-1793. Hg. von Emil August von Schaden. Leipzig 1850 [Reprint 1987].
  • Entwurf (Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus). In: Hölderlin. Werke und Briefe. Hg. von Friedrich Beißner/Jochen Schmidt. Bd. 2. Frankfurt/M. 1969, S. 647-649.
  • Fichte, Johann Gottlieb: Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten. In: J. G. Fichte-Gesamtausgabe. Hg. von Reinhard Lauth/Hans Jacob. Bd. I.3. Stuttgart-Bad Cannstatt 1966, S. 25-68.
  • Novalis: Allgemeines Brouillon. In: Novalis. Schriften. Hg. von Paul Kluckhohn/Richard Samuel. 3. Aufl. Bd. 3. Stuttgart, Berlin, Köln 1983, S. 242-478.
  • Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph v.: Vom Ich als Princip der Philosophie. In: Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämmtliche Werke. Stuttgart, Augsburg 1856ff., Bd. I.1, S. 149-244.
  • Schelling: Neue Deduktion des Naturrechts. In: Schellings sämmtliche Werke, Bd. I.1, S. 245-280.
  • Schlegel, Friedrich: Athenäums-Fragmente. In: KSFA 2, S. 165-255.
  • Schlegel: Versuch über den Begriff des Republikanismus. In: KSFA 7, S. 11-25,
  • Schlegel: Vorlesungen zur Transzendentalphilosophie. In: KFSA 12, S. 1-105.
  • Schlegel: Zur Geschichte und Politik (1824/26). In: KFSA 22, S. 179-224.

Sekundärliteratur:

  • Barbey, Rainer: Anarchistische Denkfiguren bei Friedrich Schlegel, in: Anarchismus in Vor- und Nachmärz, hrsg. v. Detlev Kopp/Sandra Markewitz. Bielefeld 2017, S. 131-152 (Jahrbuch Forum Vormärz Forschung 22).
  • Bielfeldt, Sigrun: ‚Der schwere Schritt in die Wirklichkeit‘. Schelling und Bakunin. München, Berlin, Washington D.C. 2012.
  • Briese, Olaf: Experimentalanarchismus. Facetten politischen Denkens in der Frühromantik, in: Wirkendes Wort. Deutsche Sprache und Literatur in Lehre und Forschung, 67 (2017), S. 363-380.
  • Elysard, Jules [d.i. Michail Bakunin]: Die Reaction in Deutschland, in: Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst, Nr. 247-251, 17.-21. Oktober 1842, S. 985-1002.
  • Frank, Manfred: Anti-bourgeoise Anarchie und Revolutions-Kritik. Von der zwiespältigen Haltung der Frühromantik zur Französischen Revolution. In: Henning Krauß (Hg.): Folgen der Französischen Revolution. Frankfurt/M. 1989, S. 221-244.
  • Mathy, Dietrich: Poesie und Chaos. Zur anarchistischen Komponente der frühromantischen Ästhetik. München, Frankfurt/M. 1984.
  • Mehr Zuckerbrot, weniger Peitsche. Aufrufe, Manifeste und Faulheitspapiere der Glücklichen Arbeitslosen. 2. Aufl. Berlin 2002.
  • Neumann, Peter: Jena 1800. Die Republik der freien Geister. München 2018.
  • Peter, Klaus: Franz Baader und William Godwin. Zum Einfluß des englischen Sozialismus in der deutschen Romantik. In: Athenäum 3 (1993), S. 151-172.
  • Sandkühler, Hans-Jörg: Freiheit und Wirklichkeit. Zur Dialektik von Politik und Philosophie bei Schelling. Frankfurt/M. 1968.
  • Thun, Johann: „Im freien Bunde zusammen“: Zur Staatskritik und Anarchie bei Friedrich Hölderlin und einigen seiner Rezipienten. In: Ne znam. Zeitschrift für Anarchismusforschung 1 (2015), H. 2, S. 56-70.
  • Tilliette, Xavier: Schelling. Biographie. Stuttgart 2004.


Olaf Briese Zuletzt bearbeitet: 2021

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