Fritz Scherer - Gedenkseite
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Kompromisslos anarchistisch
Fritz Scherer (1903 - 1988), Anarchist — Ein Leben unter der schwarzen Fahne 85 Jahre lang / Ein Nachruf von Hans Halter
In Berlin ist ein alter Mann gestorben, in seinem 86sten Lebensjahr. „Nach kurzer Krankheit", wie es in der Traueranzeige der Familie heißt, „ohne leiden zu müssen und nach einem ausgefüllten Leben." Der Mann heißt Fritz Scherer, er war Anarchist, sein ganzes Leben lang. Über ihn lässt sich — in Abwandlung eines französischen Satzes — wahrheitsgemäß sagen: Fritz Scherer gehörte keiner Schule, Kirche, Institution oder Akademie an, und schon gar nicht irgendeinem Regime, außer dem der Freiheit. Sein ganzes Leben lang — und das will etwas heißen.
Fritz Scherer war Buchbinder und ein Mann der Berliner Feuerwehr. In den Annalen des Anarchismus fehlt sein Name. Er hat kein Buch geschrieben, er hat die anarchistischen Bücher durch das tausendjährige Reich gerettet. Er hat kein Lehrgebäude errichtet, sondern im Thüringer Wald die „Bakunin"-Hütte, für Burschen auf der Walz.
Fritz Scherer hat Prügel bezogen von den Gendarmen des Deutschen Kaisers. Er ist mehrfach von der Gestapo verhaftet worden. Dem gewaltsamen Zugriff der DDR-Volkspolizei entzog er sich in letzter Minute. An seinen Überzeugungen ist er nie irre geworden. „Wir wollen", zitierte er den russischen Alt-Anarchisten Peter Kropotkin, „keinen Kompromiß mit den Umständen schließen."Er hat es nicht getan. Schon als Kind kannte der kleine Fritz den großen Wilhelm Liebknecht, hörte der Rosa Luxemburg zu. Als die Soldaten des Kaisers 1919 an der Garnisonskirche Fahndungsplakate gegen die beiden Revolutionäre klebten, hat er sie frech und schnell, abgerissen. „Und dann nischt wie weg...!"
In den Zwanziger Jahren war Fritz Scherer Mitglied der Anarchistischen Vereinigung Berlin, die der Dichter und Anarchist Erich Mühsam inspirierte. Jeden Donnerstag Abend versammelte man sich im Lokal Köhler, im Arbeiterviertel Berlin-Neukölln. Dort waren die großen Geister zu Gast — aber es sprachen auch zungenfertige Karrieristen, so ein gewisser Herbert Wehner über „Zurück zu Bakunin". Wehner wurde kurz darauf Kommunist und Stalinist, später „Zuchtmeister" der SPD, Träger des Großen Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband. Fritz Scherer, der einfache Mann aus Berlin, blieb lebenslang in Neukölln. Für die anarchosyndikalistische „Freie Arbeiter-Union Deutschlands" (FAUD) hat er Beiträge kassiert. Damals, in den Zwanziger Jahren, gab es allein in Berlin einige zehntausend Anarchistinnen. Die Wochenzeitschrift 'Der Syndikalist' hatte eine 100.000er Auflage, Fritz Scherer hilft, sie zu vertreiben.
Wer zur schwarzen Fahne hält, zieht am Wochenende gemeinsam hinaus ins Grüne, im Urlaub in die Berge. In der Bakuninhütte macht Fritz Scherer den „Hüttenwart", denn einer muss es machen" Man liest viel, wandert, hält sich gesund. Alkohol ist nicht angesagt. Bis zu seinem Tode war Fritz Scherer Mitglied des Österreichischen Alpenvereins, der deutsche Verein war ihm zu nationalistisch.
1933 räumen die Nazis mit den Anarchisten auf. Fritz Scherer wohnte damals mit dem bekannten Agitator Dr. Berthold Kahn (Cahn) in einer Wohnung im Scheunenviertel, hinter dem Alexanderplatz. Die Politische Polizei ist gleich nebenan. Nach der Verhaftung findet man die staatsfeindlichen Flugblätter; der Jude Berthold Kahn kommt aus dem KZ nicht zurück." Scherer, der „Arier", wird entlassen und geht zur Feuerwehr. Das ist ein sicherer Hafen — genauer: Es könnte einer sein. Aber Scherer ruht nicht. 1937 wird er wieder verhaftet. Weil er klein ist von Gestalt, berlinisch in den Umgangsformen und außerdem bei der Feuerwehr, lässt man ihn laufen. War ihm das eine Lehre? Nein. 1938 verteilt er an seine Kollegen ein Gedicht — „Massenmord droht", „des Krieges Treiber lauern", sie „umnebeln die Gehirne mit Trompeten und Hurra..."Er hat Recht behalten. Im Umschlag eines Bakunin-Buches überdauert das Gedicht die Gestapo, den Führer und den Krieg. Fritz Scherer hilft den alten Genossen, so gut er kann. Er kann es, wie nach den dunklen Jahren berichtet wird, fabelhaft. Ganz ohne Aufsehen, ohne Brimborium. Gustav Lübeck kann er nicht retten. Dieser Arbeiter, einst Organisator der Anarchistischen Abende und 1897 pro-forma-Ehemann der Dr. iuris publici Rosa Luxemburg (so kam sie zur preußischen Staatsangehörigkeit) verhungert Ende 1945 in seiner zerbombten Wohnung.
Fritz Scherer hat seine Frau und die Töchter ins Berliner Umland geschickt. Ist er auf Besuch, steckt er anarchistische Flugblätter in die Briefkästen. Auf deren Verbreitung steht, im Namen der eben gegründeten Deutschen Demokratischen Republik, Zuchthaus, wenn nicht Schlimmeres. In letzter Minute kann Fritz Scherer, gewarnt von einem Ex-Anarchisten, fliehen. Wieder in Neukölln lebend, wird Fritz Scherer nochmals Kassierer für die FAUD. Es Sind nicht mehr viele, die Beiträge zahlen — die alten Anhänger Bakunins sind emigriert oder tot, junge wachsen kaum nach und wenn, dann zahlen sie keinen Beitrag.
Fritz Scherer wohnte jahrzehntelang in der Neuköllner Karlsgartenstraße, Seitenflügel, dritter Stock. Seine anarchistischen Bücher hat er allesamt rot-schwarz eingebunden. Im Schlafzimmer stapeln sich Geschenke für alte, versprengte Nachkommen der Anarchie, die in der DDR leben. Den Achtundsechzigern leiht er die vergessenen, verbrannten, verschollenen Bücher. Mancher Drucker hat davon profitiert, Fritz Scherer hofft, auch mancher Leser. So kommen Bakunin, Kropotkin, Mühsam und Rocker wieder unter das Volk. Bei Fritz Scherer übernachten die alten anarchistischen Spanienkämpfer. Wenn er jemanden besonders mag, verschenkt er auch schon einmal eine seiner Spazierstock-Metallplaketten, Aufschrift „Bakunin-Hütte, Meiningen/Thüringen".
Auf „revolutionären Stadtrundfahrten" erinnert er sich an Orte und Namen, die keiner mehr nennt. Er nimmt am „Libertären Forum" der jungen Anarchisten in Berlin teil. Bis zuletzt geistig wach und körperlich rege, liebevoll versorgt von den Töchtern, die keine Anarchistinnen sind, hält er die Anarchie — „Sie ist Gesetz und Freiheit ohne Gewalt, Herrschaftslosigkeit, Selbstbestimmung" — für das Schönste auf der Welt. Er hat nie an einer parlamentarischen Wahl teilgenommen („das tut ein Anarchist nicht") und keine Kirche je von innen betreten. Er hat aufrecht gelebt und ist aufrecht gestorben. Fritz Scherer, Anarchist.
Aus: taz, 29. Juni 1988
Der alte Fritz von Neukölln und die Junganarchos
Was mich in meiner Erinnerung und im Abstand eines Vierteljahrhunderts an Fritz Scherer am meisten beeindruckte, war die scheinbar ungebrochene Verbindung aus politischer Haltung und Alltagsleben. Fritz Scherer (Jahrgang 1903) war ein Veteran anarchosyndikalistischer Polit-Geschichte und zugleich Mitglied des Alpenvereins. Damit war er für uns Junganarchos Mitte der 1970er Jahre eine Art personifizierter Kulturschock. Diese Kombination aus politischer Radikalität und heimattreuer Naturverbundenheit beschreibt drastisch den vermeintlichen kulturellen Spagat, den Fritz zeitlebens in den Augen von Subkulturanarchos vollzogen haben muss. Doch für Fritz war das alles ganz normal und er war alles andere als ein kaputter Typ. Eher war er lebensfroh und es schien ihm nie in den Sinn gekommen zu sein, politisch etwas anderes als Anarchist zu sein. Jedoch war das, was man als Junger an ihm akzeptieren wollte, viel weniger, als das, was seine Persönlichkeit in Wirklichkeit ausmachte. Ich kann mir vorstellen, und das erst mit dem Abstand von Jahrzehnten, dass er deshalb auch einsam war. Die letzte Zeit bis zu seinen Tod im Jahr 1988 verbrachte er schließlich, wie ein „normaler“ Rentner, im Seniorenheim. Dort soll er auch eine Freundin gehabt haben (Es heißt, die Frauen seien dem vitalen Kerl zeitlebens sehr zugetan gewesen). Betrachtet man ein altes Foto mit ihm aus den 1920er Jahren und sieht Denselben als alten Mann in den 1970ern, erscheint einem die Ähnlichkeit und Zeitlosigkeit geradezu verblüffend. Auf dem alten Foto: Ein junger Mann mit langem, in der Mitte gescheiteltem Haar, lockere Leinenkleidung, lange Shorts und die Füße lebensreformerisch barfüßig. An der Bluse das Abzeichen mit den zerbrochenen Gewehr der Gewaltlosigkeit. Ungefähr sechzig Jahre später begrüßt ein lang- und weißhaariger drahtiger Achtzigjähriger – mit dem besagten zerbrochenen Gewehr an der Brust – den jungen Besucher an der Tür in der Karlsgartenstraße in Berlin-Neukölln. In der Gegend hat er übrigens schon einmal als junger Mann gelebt. Seine Wohnung wirkte aufgeräumt, war aber vollgestopft mit Büchern aller Interessensgebiete, die Anarchoklassiker durchweg schwarzrot eingebunden (Fritz war gelernter Buchbinder). Immer ein aktuelles Buch aufgeschlagen, las er mindestens so viel wie wir. Auch wenn er bei seiner Lektüre unterbrochen wurde, freute er sich über den spontanen Besuch. Er erörterte das soeben gelesene und man diskutierte darüber. Aber dieser berlinernde Arbeiter, der sich am Telefon als „Fritze Scherer“ meldete, wirkte auch irgendwie fremd auf die jungen antiautoritären und kulturell gebrochenen Polithippies: Sein Optimismus erschien ein wenig naiv, angesichts seines zeitlebens ungebrochenen Glaubens an „die Freiheit“. Doch – und es muss wiederholt werden – er war froh über die Junggenossen, die ihn ab den frühen 1970er Jahren besuchten. Und die staunten nicht schlecht über diesen authentischen Vertreter einer politisch (selbst-)bewussten Arbeiterklasse, mit all ihren „kleinbürgerlichen“ Alltagsattributen. Regelmäßig machte der braungebrannte drahtige Nichtraucher noch seine Wanderreisen und kletterte in den steilen Bergen herum. Wir dagegen rauchten wie die Schlote (nicht nur Tabak), tranken Unmengen Alkohol und bewegten uns nur dann, wenn es unvermeidlich war, nämlich auf Demonstrationszügen. Der ehemalige Hüttenwart der Bakuninhütte im Thüringischen verteilte gerne die kleinen Souvenir-Blechschildchen der Bakuninhütte für Wanderstöcke an uns. Wir bestaunten dieses Andenken aus der großen Zeit des Deutschen Anarchosyndikalismus, das über National- und Realsozialismus gerettet worden war und hüteten es wie einen Schatz, obwohl wir so etwas „biederes“ wie einen Wanderstock nie spazieren geführt hätten. Ich sehe den Menschen noch vor mir, wie er uns zeigte, mit echtem Handwerkszeug eines Buchbinders umzugehen und uns eifrig dabei half, die Schuber für die gesammelten „anarchistischen texte“ - erschienen im Libertad Verlag - zusammenzukleben. Seine Beerdigungsfeier symbolisierte vielleicht den großen durchgängigen Konflikt seines Lebens: Dort – auf der einen Seite – die Familie und hier – und mit einem gewissen Abstand – die Genossen.
Rolf Raasch im September 2009