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Die DadA-Buchempfehlung

Buchcover: 9783940426772 Muehsam-Tagebuecher 01.gif
Autor/en: Erich Mühsam
Titel: Tagebücher, Band 1. 1910-1911
Editoriales: Hrsg. von Chris Hirte und Conrad Piers.
Verlag: Verbrecher Verlag
Erscheinungsort: Berlin
Erscheinungsjahr: 2011
Umfang, Aufmachung: Originalausgabe. Leinenband, 352 Seiten. Onlineversion: www.muehsam-tagebuch.de
ISBN: (ISBN-13:) 978-3940426772
Preis: 28,00 EUR
Direktkauf: bei aLibro, der Autorenbuchhandlung des DadAWeb

Das Persönliche ist das Politische

Zur Edition der Mühsam-Tagebücher, deren erster Band jetzt als kombinierte Buch- und Onlineversion erschienen ist.

Am 22. August 1910 entschließt sich der Schriftsteller und Anarchist Erich Mühsam regelmäßig Tagebuch zu führen. Der 32jährige Mühsam war zu diesem Zeitpunkt zur Kur in einem Sanatorium in Château d’Oex in der Schweiz. Kurz zuvor war er in einem Prozess wegen Geheimbündelei freigesprochen worden. Er litt unter Herzbeschwerden und genussmittelbedingter Erschöpfung, weshalb ihm seine Familie eine Genesungskur finanzierte. Gequält von Langeweile hatte er in der Kur begonnen die Tagebücher Karl August Varnhagens von Ense zu lesen, erst nur interessiert, dann immer begieriger, und es ist ganz offensichtlich, dass diese Lektüre ihn motiviert hat, selber Tagebuch zu führen.

Von der Kur wieder zurück in München, reflektiert er am 3. Oktober 1910 über den Wert, den sein Tagebuch für ihn selbst und für die Nachwelt haben könne:

„Sollen diese Tagesaufzeichnungen für mich selbst als Erinnerungsstützen Wert haben, so müssen sie ehrlich sein, die notierten Ereignisse niemals fälschen und für mein gegenwärtiges Erleben wichtige Vorgänge nicht verschweigen. Die Rücksicht darauf, dass die Notizen einmal publiziert werden könnten, darf nichts entscheiden. Steht schon manches in diesem Heft, was die Veröffentlichung in den nächsten Jahrzehnten sowieso ausschließt, so werde ich mich auch nicht abschrecken lassen, Sachen einzutragen, die die Drucklegung zu meinen Lebzeiten – und vielleicht noch lange darüber hinaus – überhaupt verbieten. Ob sich in 80 oder 100 Jahren mal jemand findet, der meine Tagebücher der öffentlichen Mitteilung für wert halten und herausgeben wird, kann ich nicht wissen. Niemand, der aus dem Tagesgeschehen und – Erleben heraus Notizen schreibt, kann deren Kulturdauer ermessen. Über den Wert von Tagebüchern entscheidet nicht das Talent des Verfassers – denn die Zusammenhanglosigkeit der Bemerkungen hindert doch die Entstehung eines literarischen Meisterwerks –, sondern der Rhythmus der allgemeinen und persönlichen Ereignisse, die registriert werden. Also ich will ehrlich sein, soweit ich es von [wohl eher: vor; JS] mir selbst nur kann, und ich will auch nicht vor einer Entblößung meiner Geschlechtlichkeit haltmachen. –“

15 Jahre lang, von 1910 bis 1924, hat Erich Mühsam regelmäßig Tagebuch geführt und dabei 42 Tagebuch-Hefte gefüllt, die um die 7.000 Seiten umfassen. Nun werden die Mühsam-Tagebücher veröffentlicht. Sie erscheinen in einer von Chris Hirte und Conrad Piers betreuten Edition in 15 Bänden in einer bibliophilen Leinenausgabe (rote Schrift auf schwarzem Leinen) im Berliner Verbrecher Verlag. Dem ambitionierten Editionsplan zufolge sollen zwei Bände pro Jahr – jeweils einer im Frühjahr und einer im Herbst – herauskommen, so dass die Gesamtedition der Mühsam-Tagebücher voraussichtlich im Herbst 2018 vorliegen wird.

Mühsams Tagebücher sind ein eindrucksvolles Zeitzeugnis über den Kulturbetrieb, die Politik und die Gesellschaft in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Humorvoll und bissig, bisweilen auch schonungslos – auch sich selbst gegenüber – hat Mühsam in seinen Tagebüchern sein Leben dokumentiert. Im ersten nun vorliegenden Band, der die Jahre 1910-1911 beinhaltet, geht es um Geldnot, die Münchner Künstlerboheme, aber auch um Mühsams sexuelle Obsessionen. Mühsams anarchistische Aktivitäten stehen in seinem Tagebuch nicht im Vordergrund, vielmehr werden sie eher beiläufig erwähnt. So berichtet er im Mai 1911 mindestens so ausführlich über die Beschwerden, die ihm sein Tripper bereitet, wie er auf die öffentliche Rezeption der von ihm seit April 1911 herausgegebenen Zeitschrift „Kain – Zeitschrift für Menschlichkeit“ eingeht. Was im April, dem Monat des Ersterscheinens von „Kain“, geschah, wissen wir nicht. Denn ausgerechnet die Tagebuchhefte 2 bis 4 vom 6. Oktober 1910 bis zum 6. Mai 1911 sind verschollen.

Erich Mühsam, ca. 1927, kurz vor seinem 50. Geburtstag.
Mühsam macht in seinem Tagebuch deutlich, dass er sich nicht nur theoretisch und politisch für den Anarchismus engagierte, sondern auch ganz praktisch versuchte, die Anarchie in seinem persönlichen Leben zu realisieren. Gelebte Anarchie hieß für Mühsam ein Leben nach dem Lustprinzip, ganz ohne Rücksicht auf bürgerliche Moral und Konventionen. Das in seinem Tagebuch beschriebene anarchische Leben der Münchner Boheme ist eine spannende und auch ausgesprochen amüsante Lektüre.

Dass Mühsams Tagebücher überhaupt und fast vollständig erhalten geblieben sind und jetzt erscheinen können, grenzt schon fast an ein Wunder. Als Mühsam wegen seines politischen Engagements in der der bayrischen Räterepublik von 1919 bis 1924 in Festungshaft einsaß, wurden seine Tagebücher konfisziert, um sie nach belastenden umstürzlerischen Äußerungen zu durchsuchen.

Nach Mühsams Ermordung im Konzentrationslager Oranienburg am 10. Juli 1934 gelang es seiner Frau Kreszentia („Zensl“) Mühsam, den schriftlichen Nachlass ihres Mannes – darunter auch die Tagebücher – vor der Beschlagnahme und Vernichtung durch die Nazis zu retten und nach Prag zu schmuggeln, wo sie bis August 1935 im Exil lebte. Bereits mehrfach hatte Zensl Mühsam das Angebot abgelehnt, in die Sowjetunion zu kommen. Doch im August 1935 folgte sie schließlich einer Einladung der Vorsitzenden der Internationalen Roten Hilfe, Jelena Stassowa, für einige Zeit nach Moskau zu kommen, wo der Nachlass von Erich Mühsam veröffentlicht werden sollte. Außerdem hatte man ihr versprochen, ihrem arbeitslosen Neffen Peps Elfinger eine Ausbildung zu verschaffen. Doch kaum war der schriftliche Nachlass Erich Mühsams im Februar 1936 dem Maxim-Gorki-Archiv für internationale Weltliteratur in Moskau übergeben worden, wurden die Tagebücher und Briefe erst einmal „ausgewertet“, um dem NKWD politisches Belastungsmaterial gegen deutsche Exilanten in die Hand zu geben. Dabei sind neben den bereits erwähnten drei Tagebuchheften 2 bis 4 aus den Jahren 1910/1911 auch Tagebücher aus den Jahren 1916 bis 1919 und viele Briefe abhanden gekommen und müssen wohl für immer als verschwunden gelten.

Am 8. April 1936, auf dem Höhepunkt der Stalinschen „Säuberungen“, wurde Zenzl Mühsam verhaftet, als Trotzkistin angeklagt, verhört und misshandelt. Zwar wurde sie auf Grund internationaler Proteste im Oktober 1936 wieder freigelassen, doch ihre „Freiheit“ war sehr eingeschränkt und auch nicht von langer Dauer. Am 16. September 1939 wurde sie erneut verhaftet und wegen „Teilnahme an einer konterrevolutionären Organisation und Agitation“ zu acht Jahren Arbeitslager verurteilt. Insgesamt verbrachte sie die folgenden 16 Jahre im Gefängnis, Straflager und in der Verbannung. Erst 1955 erlaubten ihr die sowjetischen Behörden die Ausreise in die DDR. Vom Nachlass ihres Mannes ließ sie Mikrofilmkopien anfertigen, um diese für die von ihr geplante Veröffentlichung der Mühsam-Schriften zu verwenden. Doch die Mikrofilme wurden ihr auf Anweisung des ZK der SED nicht ausgehändigt, sondern stattdessen der Ostberliner Akademie der Künste zur sicheren Verwahrung zu übergeben. Bis zu ihrem Tod am 10. März 1962 hat sich Zensl Mühsam verzweifelt gegen diese Beschlagnahmung des Werkes ihres Mannes gewehrt, doch sie erreichte nur, dass, neben Mühsams „Unpolitischen Erinnerungen“ , die bereits 1949 im Leipziger Verlag Volk und Buch erschienenen waren, eine kleine Auswahl von Erich Mühsams Gedichten 1958 in der DDR erscheinen durfte.

Mit der Wiederentdeckung Erich Mühsams im Zuge der 1968er Studentenrevolte in der Bundesrepublik setzte in den siebziger Jahren erst in Westdeutschland und mit etwas Verzögerung dann auch in Ostdeutschland eine neue Beschäftigung mit Erich Mühsam und seinen Werken ein. Verzeichnet der Katalog der Deutschen Bibliothek für den Zeitraum von 1945 bis 1967 ganze zehn Publikationen mit Texten von Erich Mühsam, darunter eine Schallplatte mit Gedichten und fünf Ausgaben der „Unpolitischen Erinnerungen“, so sind seit 1968 bis heute 124 Titel mit Schriften von und/oder über Erich Mühsam erschienen.

Dennoch sollten nach dem Tode von Zenzl Mühsam im Jahre 1962 Jahrzehnte vergehen, bis ernsthafte Anstrengungen zur Veröffentlichung der Tagebücher Erich Mühsams unternommen wurden. 1978 startete der Ostberliner Verlag Volk und Welt eine Erich-Mühsam-Werkausgabe, die 1985 abgeschlossen wurde. Mitherausgeber war Chris Hirte, von dem 1985 im gleichen Verlag auch eine Mühsam-Biographie erschien. In diesem größten Belletristikverlag der DDR wurden in den 1980er Jahren auch die ersten Arbeiten zur editorialen Aufbereitung der in der Akademie der Künste lagernden Kopien des Mühsam-Nachlasses durchgeführt. Das Kulturministerium der DDR stellte Mittel für die Transkription zur Verfügung, das die Materialgrundlage für die nun gestartete Edition der Mühsam-Tagebücher bildete. Der Verlag Volk und Welt versuchte in der Bundesrepublik Partnerverlage für eine „gesamtdeutschen“ Edition der Mühsam-Tagebücher zu finden, aber diesen Editionspläne fanden 1989 mit dem Niedergang der DDR und ihrer Verlagslandschaft ein abruptes Ende.

Erst 1994 erschien dann bei dtv eine von Chris Hirte herausgegebene erste Auswahl aus den Mühsam-Tagebüchern, die jedoch nur etwa fünf Prozent des Gesamttextes umfasste. Seitdem hat es mehrere Versuche zur vollständigen Erschließung und Veröffentlichung der Mühsam-Tagebücher gegeben. Chris Hirte beschreibt die Schwierigkeiten, auf die er dabei stieß:

„Verlage zeigten sich interessiert, Stiftungen wohlwollend. Doch sobald die Kosten auf den Tisch kamen, winkten alle ab. 7000 Seiten, eine zehn- bis fünfzehnbändige Ausgabe also? Redigiert, kommentiert, gedruckt, verkauft? Keine Chance. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung (aus vielen Gründen prädestiniert für eine solche Kulturtat) war plötzlich nicht mehr liquide, ein namhafter Publikumsverlag verlangte 25 Euro pro Seite für seine Bereitschaft, die Mühsam-Tagebücher ins Programm zu nehmen. Sehr witzig.“

Doch davon ließen sich Hirte und sein Unterstützerkreis nicht entmutigen. Da Fotokopien der Originalhandschrift und die Transkriptionen des Verlages Volk und Welt vorhanden waren, konnte in den 1990er Jahren von „fleißigen ABM-Kräften“ die Digitalisierung der maschinenschriftlichen Abschriften durchgeführt werden. Der Weg zu einer Online-Edition der Mühsam-Tagebücher war damit frei. Um die technische Realisierung kümmerte sich der Informatiker und Antiquar Conrad Piers, der seit 2009 gemeinsam mit Chris Hirte an der Edition der Mühsam-Tagebücher arbeitet. Eine Internet-Plattform wurde erstellt, die allen Ansprüchen einer werkgetreuen, zitierfähigen und durchsuchbaren Edition genügt. Die Online-Version der Mühsam-Tagebücher findet sich unter www.muehsam-tagebuch.de und steht dort zur Lektüre und wissenschaftlichen Nutzung kostenlos zur Verfügung.

Man muss den zwei engagierten Herausgebern, aber auch dem kleinen Berliner Literaturverlag Respekt bekunden, dass sie das Wagnis einer solch arbeits- und kostenaufwändigen Edition eingegangen sind. Dass sie das Risiko nicht scheuen, zeigt allein die Tatsache, dass sie parallel zur Buchausgabe die Mühsam-Tagebücher auch als kostenlos nutzbare Onlineversion ins Internet gestellt haben. Doch Verlag und Herausgeber vertrauen fest darauf, dass die Leute die Buchausgabe kaufen, auch wenn der Text der Tagebücher umsonst im Netz abgerufen werden kann. Und ihre Hoffnung scheint sich zu erfüllen. Denn der vorsichtshalber nur in 1.500 Exemplaren gedruckte 1. Band der Mühsam-Tagebücher war binnen drei Wochen nach seinem Erscheinen vergriffen und musste eiligst nachgedruckt werden.

Die Buchausgabe verzichtet auf jegliche editoriale Annotationen, denn – und das ist der eigentliche Clou der kombinierten Buch- und Internetausgabe – weiterführende Informationen und Querverweise im Text finden sich in der Onlineversion als interne und externe Links. Klickt man zum Beispiel auf den Namen einer im Tagebuch erwähnten und im Online-Index berücksichtigten Person (erkennbar an der blauen Linkfarbe), so bekommt man neben einer biographischen Kurzinfo auch all die anderen Seiten aufgezeigt, auf der diese Person in den Tagebüchern erwähnt wird. Das ist außerordentlich hilfreich, wenn man sich einen Überblick zu einer bestimmten von Mühsam im Tagebuch erwähnten Person verschaffen will. Bisweilen wird auch auf ergänzende Informationen in externen Quellen, wie z.B. der Wikipedia, verwiesen, was den Mühsam-Tagebüchern eine Informationstiefe und Aktualität verleiht, wie sie mit einer herkömmlichen Buchausgabe niemals realisieren werden könnte.

Die Onlineausgabe der Mühsam-Tagebücher hat zudem den Vorteil, dass dort auch nachträgliche Korrekturen zeitnah erfasst werden können. Die Herausgeber hoffen – und wie man sieht auch nicht zu Unrecht – auf die Mithilfe der Leser, die online sogar die Originalhandschriften von Mühsam einsehen können. Die Mühsam-Tagebücher sollen zwar kein „Community-Projekt“ werden, aber vielleicht macht es Sinn, der Onlineausgabe noch die Funktion einer „Diskussionsseite“ zu spendieren, auf der die Leser nicht nur ihre Korrekturhinweise und Anregungen für die Herausgeber unterbringen, sondern sich auch mit anderen Lesern über den Inhalt der Tagebücher austauschen könnten. Quasi für jeden eine Seite: Eine Seite für den Autor, nämlich die Original-Manuskriptseite des Mühsam-Tagebuchs, eine Seite mit der von den Herausgebern betreuten und redigierten Buch- und Onlinetextversion und schließlich noch eine Diskussionsseite für die Leserinnen und Leser. Erich Mühsam hätte vermutlich ein solches Modell der Leser- und Leserinnenbeteiligung gut gefallen.

Die Edition der Mühsam-Tagebücher kann mit Fug und Recht als ein publizistisches Jahrhundertereignis bezeichnet werden. Das gilt zuallererst für die Veröffentlichung der Mühsam-Tagebücher selbst. Aber auch die Art der Publikation – nämlich als kombinierte Buch- und Onlineausgabe – kann für vergleichbare editoriale Großprojekte wegweisend sein.

Jochen Schmück,
Potsdam, 9. Oktober 2011




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