DadA-Interview
"ALLES BLEIBT ANDERS"
Interview mit Jochen Schmück zum zehnjährigen Bestehen der DadA-Website
Am 1. Mai 2006 wird das Internetportal der Datenbank des deutschsprachigen Anarchismus (kurz: DadA) zehn Jahre alt. Wir haben mit Jochen Schmück (Potsdam), einem der beiden Projektgründer, ein Interview geführt, um von ihm Näheres über das DadA-Projekt zu erfahren.
Erkenntnis: Erst einmal herzlichen Glückwunsch zum zehnjährigen Bestehen der DadA-Website! Wann immer ich mal im Internet was zum Thema Anarchismus suche, lande ich auf Euren Seiten. Ihr seid wirklich nicht zu übersehen! Vielleicht kannst Du mal kurz das DadA-Projekt beschreiben? Warum macht Ihr die DadA-Website und wen wollt Ihr damit ansprechen?
Jochen: Danke, danke für die "Blumen" ... Ja, warum machen wir das und für wen? Im Internet findet man das DadA-Projekt nun seit zehn Jahren. Genau am 1. Mai 1996 sind wir online gegangen. Aber das DadA-Projekt selbst, also die Dokumentation des deutschsprachigen Anarchismus, gibt es inzwischen schon seit knapp zwanzig Jahren. Ich hatte 1986 meine Magisterarbeit zum Thema "Der deutschsprachige Anarchismus und seine Presse" geschrieben und veröffentlicht und kurze Zeit später meinen Projektpartner Günter Hoerig in Köln kennen gelernt. Günter hatte ebenfalls angefangen, an einer Bibliographie zum Thema zu arbeiten. Wir haben uns dann bald zusammengetan und arbeiten seitdem gemeinsam an einer Dokumentation der deutschsprachigen libertären Presse. Später kam dann noch die Dokumentation der deutschsprachigen libertären Literatur mit hinzu.
Erkenntnis: Nur zum besseren Verständnis, was versteht Du unter libertär?
Jochen: Ja, der Begriff "Libertär" ist heute ein sehr weit gefasster Begriff, unter dem man Anarchisten, freiheitliche Sozialisten und auch radikale Liberale findet. Das ist auch OK so. Zumindest für mich, denn ich habe ein ausgesprochen pluralistisches Anarchismusverständnis und kann gut damit leben, dass es nicht den Anarchismus gibt. Im Gegenteil: Ich denke sogar, dass die ideologische Vielfalt der libertären Strömungen Ausdruck des kulturellen Reichtums des Anarchismus ist. Anarchie ist Vielfalt. Und die historischen Wurzeln des Anarchismus liegen eben sowohl im Liberalismus als auch im Sozialismus. Deshalb habe ich persönlich auch kein Problem damit, dass es neben den klassischen sozialistischen Libertären auch liberale Libertäre gibt. Problematisch finde ich die Pseudo-Libertären oder Pseudo-Anarchisten aus der rechten Szene, also zum Beispiel solche Typen, die auf NPD-Demos Songs der Anarchoband "Ton, Steine, Scherben" abspielen und dabei gleichzeitig Ausländerhetze betreiben. Das ist absolut pervers! Die benutzen die anarchistischen Parolen nur, um ihre reaktionären oder faschistischen Absichten zu verschleiern. Und gleichzeitig diskreditieren sie dadurch aber auch die anarchistischen Ideen selbst.
Erkenntnis: Und warum findet man dann die Zeitschriften dieser so genannten "Nationalanarchisten" in Eurer Pressedokumentation? Das ergibt doch keinen Sinn. Damit macht ihr doch für die Rechten Propaganda!
Jochen: Das ist gut, dass Du mich das fragst! Denn diese Frage hören wir häufiger: "Warum habt ihr die Zeitschrift X von der Gruppe Y in Eure Pressedokumentation aufgenommen?" "Das sind doch keine Anarchisten. Das sind Faschisten, Stalinisten, Maoisten, Gesellianer, Neo-Liberale"! Und was weiß ich noch alles. Dem liegt ein Missverständnis über das DadA-Projekt zugrunde. Wir wollen mit unseren Dokumentationen keine Propaganda für den Anarchismus machen. Denn das Projekt "Datenbank des deutschsprachigen Anarchismus" ist in allererster Linie ein wissenschaftliches Projekt zur Erforschung des deutschsprachigen Anarchismus und seiner kulturellen Einflüsse. Was anarchistisch ist und was nicht, das sollen bitte schön die Anarchisten selbst entscheiden. Wir tun das nicht, aber wir können mit unseren Dokumentationen vielleicht helfen, zu definieren, was Anarchismus ist und was er sein kann. Wir nehmen deshalb jede Zeitschrift auf, die – egal ob nun zu Recht oder auch zu Unrecht -, für sich beansprucht, anarchistisch oder libertär zu sein. DadA ist eben kein Polit-TÜF. Wir verleihen kein politisches Gütesiegel im Sinne von "Geprüfte anarchistische Zeitschrift", sondern wir dokumentieren schlichtweg alle Zeitschriften, die sich als anarchistisch oder libertär bezeichnen. Und so finden sich dann in unserer Pressedokumentation neben den 99 Prozent echten anarchistischen und libertären Zeitschriften auch einige seltsame "Sumpfblüten" von Pseudo-Anarchisten. Ich denke da z.B. an eine Faschingszeitung, die um 1918 in München erschienen ist und als "Anarchistenblatt" aufgemacht war. Aber auch an die Blätter der Anarcho-Stalinisten oder der sog. Nationalanarchisten. Denn auch das gehört zur Dokumentation der Wirkungsgeschichte des deutschsprachigen Anarchismus mit dazu, dass das Label "anarchistisch" auch von Nicht-oder Anti-Anarchisten aus taktischen oder sonstigen Gründen übernommen wird. Was wir aber natürlich nicht machen, ist, dass wir unsere DadA-Seiten diesen Pseudo-Anarchisten als Plattform für ihre nichtanarchistischen Propagandazwecke zur Verfügung stellen.
Erkenntnis: Verstehe. Aber noch mal nachgefragt: Für wen macht Ihr denn das Projekt und was bietet Ihr auf der DadA-Website an?
Jochen: Nachdem wir die ersten zehn Jahre eher ein "Geheimtipp" der Anarchismusforschung gewesen waren, sind wir 1996 online gegangen. Seither kann jeder, der einen Internetanschluss hat, unsere Dokumentation der deutschsprachigen libertären Presse und Literatur abfragen. Und es sind täglich hunderte von Besuchern, die wir auf unserer Website haben. Kurioserweise bekommen wir die meisten Anfragen nicht einmal von Anarchisten oder Libertären oder von Menschen, die am Anarchismus Interesse haben ...
Erkenntnis: ... sondern vom BKA (Bundeskriminalamt) oder vom Vatikan?
Jochen (lacht): Ja, vermutlich landet auch der eine oder andere vom BKA oder Vatikan auf unseren Seiten. Aber eine offizielle Anfrage haben wir von denen noch nicht bekommen. Verblüffenderweise bekommen wir die meisten Anfragen von Familienforschern. Und die meisten davon kommen aus den USA. Damit hätte ich eigentlich nicht gerechnet. Aber bei all den Personennamen, die in unseren Dokumentationen auftauchen, ist es dann auch wieder verständlich, dass der eine oder andere Familienforscher über unsere Seiten "stolpert". So funktioniert eben das Internet, alles ist irgendwie mit allem vernetzt. Unsere eigentliche Zielgruppe aber ist die Anarchismusforschung und darüber hinaus, jeder der am Anarchismus oder an libertären Autoren und Themen Interesse hat. Und seit wir im Internet sind, haben wir für unser Projekt deutlich mehr Unterstützung und Feedback bekommen als vorher. Immer wieder melden sich Leute und geben uns Infos zu anarchistischen Zeitschriften, an denen sie mitgearbeitet haben und das hilft uns echt weiter.
Erkenntnis: Was sind das für Dokumentationen, die ihr anbietet und wie kann ich sie nutzen?
Jochen: Zum einen ist das die Dokumentation der deutschsprachigen libertären Presse von ihren ganz frühen Anfängen gegen Ende des 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Im Moment umfasst unsere Pressedokumentation fast 2.300 Zeitschriftentitel und zu den meisten geben wir neben den üblichen bibliographischen Informationen (wie Titel, Untertitel, Erscheinungsort, Herausgeber usw.) auch Angaben zum Standort und eine mehr oder minder ausführliche Beschreibung. Mit Hilfe der Standortangaben kommt man dann an das Original und kann so die Zeitschrift selber einsehen. Und das ist für jeden Anarchismusforscher schon eine große Hilfe. Daneben haben wir noch die Literaturdokumentation, mit der wir die deutschsprachige libertäre Literatur dokumentieren wollen. Und unter Literatur verstehen wir Bücher, Broschüren und Fachaufsätze von deutschsprachigen Libertären oder zu libertären Themen. Auch diese Dokumentation enthält weit mehr als 2.300 Titel. Aber die fortlaufende Erfassung ist leider in den letzten Jahren ein wenig "stecken geblieben", weil wir das DadA-Projekt in unserer Freizeit betreiben. Und Freizeit war bei mir und Günter in den letzten Jahren Mangelware.
Erkenntnis: Soll das heißen, Du und Günter, ihr macht dieses ganze Projekt selber?
Jochen: Ja, zumindest war das bis zum letzten Jahr so. Wir haben zwar immer wieder auf der DadA-Homepage um Unterstützung gebeten. Aber die Resonanz war fast Null. Leider. Das hat sich aber im letzten Jahr erfreulicherweise geändert durch zwei neue DadA-Projekte, nämlich die Digitale Bibliothek und die Dokumentation der Biographien libertärer Persönlichkeiten. Aber bevor ich darauf eingehe, lass mich noch ein paar Worte zu den übrigen Services sagen, die wir anbieten. Neben den Dokumentationen bieten wir nämlich auf unserer DadA-Homepage auch noch die A-Seiten an. Das ist ein Verzeichnis der deutschsprachigen libertären Verlage, Zeitschriften, Forschungs- und Archivprojekte. Dann gibt es auf unseren Seiten auch noch Grundlagentexte, überwiegend zum Thema Anarchismusforschung. Und sehr beliebt ist auch die DadA-Buchempfehlung, in der wir regelmäßig interessante Neuerscheinungen vorstellen.
Erkenntnis: Was hat das mit diesen neuen Projekten auf sich und vor allem, was hat sich durch diese neuen Projekte geändert. Du sagtest, Ihr habt jetzt mehr Unterstützung bekommen. Wie kam das?
Jochen: Unser großes Manko war ja all die Jahre über, dass es für unsere User keine Möglichkeit gab, sich direkt am Aufbau der DadA zu beteiligen. Es gab einfach keine Möglichkeit im Sinne einer direkten Dateneingabe über das Internet. Das hat vor allem technische Gründe. Gegenwärtig pflegen wir die DadA-Datenbanken noch mit einem Offline-Datenbanksystem, auf das nur Günter und ich, aber nicht unsere User Zugriff haben. User können uns zwar neue Titel oder Korrekturen und Ergänzungen zu bestehenden Titeln per eMail melden, aber selbst eingeben können sie diese Daten nicht. Und genau das wird sich jetzt ändern, denn wir laufen uns gerade "warm" für die Einführung eines Online-Datenbankssystems, über das dann auch unsere User selber Daten eingeben können. Mit einigen Leuten von der FAU entwickeln wir gerade die neue DadA-Dokumentation mit den Biographien libertärer Persönlichkeiten. Und die läuft von Anfang an auf einem Onlinedatenbank-System und sie dient uns damit auch als Testanwendung für die Einführung einer dynamischen Onlinedatenbank im Bereich der Literatur-und Pressedokumentation.
Erkenntnis: Und was hat das mit neuen Digitalen Bibliothek auf sich?
Jochen (strahlt über das ganze Gesicht): Das ist eine gute Frage! Denn die Digitale Bibliothek ist wirklich ein "Hammerprojekt". Die Idee zum Aufbau einer Digitalen Bibliothek hatten wir schon lange. Im letzten Jahr haben wir dann mit dem Libertad Verlag beschlossen, die Heftreihe "anarchistischen texte" zu digitalisieren und als eBook (digitale Publikation) neu herauszubringen. Die "anarchistischen texte" sind ursprünglich in den siebziger und achtziger Jahren erschienen und in ihnen wurde die Theorie und Praxis des Anarchismus anhand ausgesuchter Quellentexte vorgestellt. Die at-Reihe war sehr beliebt und insgesamt sind in ihr 34 Ausgaben erschienen.
Die Neuauflage erscheint nun unter dem Titel "anarchistische texte: reloaded!". Die Texte werden zum Teil inhaltlich überarbeiten und es werden auch neue Ausgaben erscheinen. Und der Clou ist: Die neuen "anarchistischen texte" sind kostenlos! Also jeder, der einen Internetanschluss hat, kann sie sich von der DadA-Website kostenlos herunterladen, ausdrucken und lesen.
Während früher die "anarchistischen texte" eher der klassischen Propaganda der anarchistischen Ideen dienten, sollen die neuen "anarchistischen texte" nun verstärkt auch den Dialog und die Diskussion über die anarchistischen Ideen fördern. Die alten Medien, wie unsere damaligen Broschüren, ermöglichen nur das "Senden" von Informationen nach dem Prinzip: "Wenige senden und viele empfangen!". Das ist nicht sehr anarchistisch. Da aber die neuen "anarchistischen texte" ohnehin im Internet angeboten werden, macht es Sinn, auch die Möglichkeiten zum "Empfang" bzw. zum Dialog mit den Lesern und der Leser untereinander zu nutzen. Denn es sind ja die Möglichkeiten zum Dialog zwischen "Sender" und "Empfänger" sowie zwischen "Empfänger" und "Empfänger", die das Internet gegenüber den alten Medien im libertären Sinne positiv auszeichnen. Deshalb wird es zu jeder Ausgabe der "anarchistischen texte" auch die Möglichkeit geben, online Kommentare zu veröffentlichen und sich mit anderen Lesern auszutauschen. Es können aber auch eigene Beiträge zum Thema oder zum Autor an die "anarchistischen texte" angedockt werden. Dadurch wird eine Vielfalt von Meinungen und Perspektiven möglich, die weit mehr dem anarchistischen Ideal einer pluralistischen Gesellschaft entspricht, als dies mit den Propaganda-Broschüren der alten Reihe möglich war.
Erkenntnis: Eine schöne Vision! Aber ist das realistisch? Ihr, also Du und Günter, habt doch schon genug damit zu tun, die Dokumentationen zu pflegen. Wie wollt ihr dann so ein Projekt, wie die Digitale Bibliothek noch stemmen?
Jochen: Darauf wollte ich ja gerade eingehen. Wir haben letztes Jahr begonnen, die ersten eingescannten Broschüren der "anarchistischen texte" ins Netz zu stellen. Dafür haben wir auf der DadA-Website eine spezielle Projektseite eingerichtet, die den gesamten Arbeitsprozess, angefangen vom Einscannen, über die OCR, die Korrektur, die Redaktion und das Layout, in all seinen einzelnen Arbeitsschritten umfasst und anzeigt. Mit Hilfe eines Ampelsystems kann man erkennen, wie weit der Arbeitsstand der einzelnen Ausgaben ist. Rot steht für "Unerledigt", Gelb für "In Arbeit" und "Grün" steht für "Erledigte Arbeit. So ist für jeden der aktuelle Arbeitsstand erkennbar. Und jeder der Lust hat, das Projekt zu unterstützen, kann sich ohne große Formalitäten online einen noch unerledigten Job aussuchen und sich die entsprechenden Dateien herunterladen und sich an die Arbeit machen.
Erkenntnis: Und das funktioniert? Hat sich denn schon jemand gefunden, der Euch dabei unterstützt?
Jochen: Und wie das klappt! Obwohl wir die Information vom Reload der "anarchistischen texte" bislang nur auf unserer Homepage veröffentlicht haben, haben sich innerhalb weniger Monate 13 Leute gefunden, die das Projekt auf die eine oder andere Art unterstützen. Sei es nun bei der OCR der eingescannten Texte oder im Bereich Korrektur oder auch bei der Gestaltung des Layouts. Inzwischen ist fast ein Drittel der Arbeit erledigt worden, die für die Neuausgabe der "anarchistischen texte" nötig ist. Ich muss zugeben, dass mich diese starke Resonanz auf unser Projekt wirklich überrascht hat. Denn wie ich schon sagte, war bisher die Unterstützung für das Da-dA-Projekt fast Null gewesen. Ich denke, der entscheidende Unterschied ist, dass wir früher ganz allgemein zur Unterstützung des DadA-Projektes aufgerufen haben. Dagegen bieten wir beim Projekt der Digitalisierung der "anarchistische texte" ganz konkrete Möglichkeiten zur Unterstützung an. Wer Lust hat, etwas für das Projekt zu tun, macht es eben einfach und zwar dann, wenn es ihm passt. Er braucht dafür nur die entsprechenden Dateien herunterladen und kann sie dann direkt bearbeiten. Und wenn's ihm keinen Spaß mehr macht, dann kann er sich genauso zwanglos und ohne große Erklärungen vom "Acker machen". Bisher hat sich aber noch keiner vom Bibliotheks-Projekt verabschiedet. Diese Arbeitsmethode nach dem Motto: "Tu was und wann Du willst" ist ein ziemlich anarchistisches Modell. Und der Knüller ist, dass dieses Modell auch noch ein Erfolgsmodell ist. Das ist ein erstaunliches Phänomen und ich bin gespannt, was wir bei diesem Projekt über die Methoden einer anarchistisch organisierten Arbeit noch alles lernen können.
Erkenntnis: Das ist doch ein schönes Schlusswort. Wir von der Zeitschrift "Erkenntnis" wünschen Euch hierbei viel Erfolg und auch für das DadA-Projekt insgesamt alles Gute!
Jochen: Danke und Euch auch alles Gute! Und nicht vergessen: Man findet unsere "Baustelle" im Internet unter 'www.neo.dadaweb.de und es gibt noch viel zu tun.
Quelle: Erkenntnis. E-Journal der Pierre Ramus-Gesellschaft. Wien, 14. Jahrgang, Nummer 14, Frühjahr 2006 (Onlinearchiv: www.ramus.at)