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Freie Liebe

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Version vom 26. Dezember 2009, 13:27 Uhr von Uwe B (Diskussion | Beiträge) (Ideengeschichte: Historiographie)
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Ja In Arbeit - Hallo Jochen, keine Sorge. Das sind selbst geschossene Bilder. Frohes Fest--Uwe B 12:59, 24. Dez. 2009 (UTC)

Lexikon der Anarchie: Sachthemen

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Definition

Die Wortzusammenstellung "Freie Liebe" wurde im 19. Jahrhundert geprägt als Bezeichnung für Sexualität, sexuelle Beziehungen sowie Formen des Zusammenlebens mit einer (mutmaßlichen) sexuellen Komponente, die sich jenseits von hegemonialen Moral-Vorstellungen, wie z.B. dem bürgerlichen Eheideal oder dem damaligen viktorianischen Puritanismus in Sexualfragen, bewegten. Dabei war in der Bezeichnung Freie Liebe je nach politischem, religiösem und moralischem Standort des Benutzers immer ein Werturteil mit enthalten, das von dem Verdikt der Zügellosigkeit, Dekadenz und moralischen Entartung bis zur Rückkehr nach vermeintlich "natürlichen" Verhältnissen und der Etablierung einer selbst bestimmten Sexualität, frei von äußeren Eingriffen und rückständigen, überholten, irrationalen Normierungen reichte. Wurde in konservativen Kreisen Freie Liebe gerade in Verbindung mit "Anarchismus" als "sexuelle Anarchie" verstanden, die unter anderem in der konservativen Presse dem männlichen Leser mit der Mär vermeintlicher Frauenkollektivisierung als Programmpunkt linksradikaler revolutionärer Bestrebungen schmackhaft gemacht wurde, so knüpfte die anarchistische Verwendung des Terminus Freie Liebe am anderen Ende der Wertskala an.

Vor dem Hintergrund der pejorativen Verwendung der Bezeichnung Freie Liebe, (und sich gegen konservative Kritik immer wieder verteidigend) wurde Freie Liebe im anarchistischen Diskurs um die letzte Jahrhundertwende zum festen Begriff für alternative, libertäre Theorien und Praktiken von Liebe und Sexualität sowie von - überwiegend auf heterosexuellen Beziehungen basierenden - Formen des Zusammenlebens. Anarchistische Freie Liebe in erster Linie zwischen Männern und Frauen gedacht, sollte sich frei von Einschränkungen einer als autoritär kritisierten, weil von Staat und Kirche regulierten. Sexual- und Ehemoral gestalten. Außerdem dürften wirtschaftliche Überlegungen, die Liebe und Sexualität in der bestehenden bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zur "Prostitution" machen würden, bei der Freie Liebe, verstanden als freie, natürliche Entfaltung von Liebe und Sexualität, keine Rolle spielen. Realisieren sollte sich die Freie Liebe zum einen unter den vorhandenen Verhältnissen als direkte Aktionsform, als privat verwirklichter Anarchismus im Kleinen, zum anderen wäre Freie Liebe als neues Regulativ auf breiter gesellschaftlicher Ebene erst nach der bzw. im Rahmen einer anarchistischen Revolutionierung sozialer Strukturen und durch Beendigung staatlicher und kirchlicher Einflussnahme möglich.

Ideengeschichte

Die anarchistischen Auffassungen von Freier Liebe greifen im großen und ganzen auf Vorstellungen über eine paradies-ähnliche Neuordnung des Liebeslebens, der Sexualität und der Verhältnisse zwischen den Geschlechtern zurück, so wie diese von utopistischen Theoretikern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt wurden, insbesondere von Charles Fourier in seiner Konzeption einer "Neuen Liebeswelt" (vgl. Charles Fourier 1977), die nicht nur die anarchistische Debatte über Liebe und Sexualität in Frankreich, sondern auch in anderen Ländern nachhaltig prägte. So wurden Charles Fouriers Ideen der deutschen Arbeiterbewegung - und damit auch dem anarchistischen Spektrum - von August Bebel in seinem Bestseller "Die Frau und der Sozialismus" (1883) und Charles Fourier: "Sein Leben und seine Theorien" (l887) vermittelt, während sie z. B. in den Vereinigten Staaten im Rahmen utopistischer Siedlungsunternehmen Aufnahme erfuhren (und über diese, von deutschsprachigen anarchistischen Emigranten in den USA aufgegriffen, noch über einen anderen Weg in die deutsche anarchistische Debatte über Freie Liebe eingebracht wurden).

Anarchistische Freie Liebe war indessen weniger Element oder Grundzug einer ganzheitlichen Utopie - wie im Fourierismus - sondern stellte vielmehr, als sie im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts zunehmend in der anarchistischen Presse erörtert wurde, eine Reaktion auf die sogenannte "Frauenfrage", auf Forderungen der damaligen Frauenbewegung nach politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Gleichberechtigung dar, da die meisten Anarchisten aufgrund ihres Antiparlamentarismus die Forderung nach Frauenwahlrecht, auf die sich die Bestrebungen damaliger Feministen um politische Gleichberechtigung konzentrierte, als grundsätzlich falsch zurückwiesen und ebenfalls Forderungen nach wirtschaftlicher und sozialer Gleichstellung ablehnten, weil solchen Forderungen der bürgerlichen und sozialdemokratischen Frauenbewegung eine fehlende Radikalität oder falsche Prämissen zu bescheinigen wäre. Diese fehlende Radikalität, von Emma Goldman als "das Tragische an der Emanzipation der Frau" bezeichnet (vgl. Emma Goldman 1977, S. 9 -18), wurde darin gesehen, dass sozialökonomische Gleichberechtigungsforderungen zum einen letztendlich nur Forderungen nach derselben Ausbeutung und Unterdrückung wären, die, insofern sie bereits Männer betrafen, gerade Gegenstand anarchistischer Kritik waren. Zum anderen würden diese Forderungen die Unterdrückung von Frauen im Privatleben, insbesondere im Bereich der Sexualität, negieren (teils sogar durch einen vermeintlichen feministischen Puritanismus in Sexualfragen verstärken). Damit blieb ein wesentlicher Aspekt der in anarchistischen Revolutionstheorien gerade apostrophierten Notwendigkeit der Freiheit und Autonomie des Individuums außen vor. Solche Kritik (u.a. von Emma Goldman) überlagerte sich mit einer prinzipiell ablehnenden Haltung vieler männlicher Anarchisten der sozialökonomischen Gleichstellung von Frauen gegenüber, z. B. in Beiträgen von Erich Mühsam über "Frauenrecht" (vgl. Erich Mühsam 1979, S. 68-72).
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Biologischen Deutungsmustern der sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit zwischen Männern und Frauen verhaftet, war man(n) der Meinung, dass Männer und Frauen aufgrund ihrer "Natur", ihrer körperlichen Konstitution, grundsätzlich für unterschiedliche gesellschaftliche Funktionen determiniert waren - Männer zur Erledigung von produktiver Lohnarbeit, Frauen zur Verrichtung von reproduktiver Hausarbeit. Das "natürliche Wesen" des "freien Weibes" (K.K. 1901) sollte sich folglich auf Mutterschaft, Kindererziehung und Haushalt beschränken. Als Konsequenz dieses biologischen Determinismus sowie der Annahme, Forderungen nach sozialökonomischer wie politischer Gleichberechtigung in der vorhandenen Gesellschaft würden nicht grundsätzlich die Emanzipation herbeiführen, galt es, die "Frauenfrage" nicht im Bereich der Öffentlichkeit, sondern in der Privatsphäre zu lösen. Dabei wurde Freie Liebe als "Revolutionierung der Familie" (Diogenes 1913), als alternative, libertäre Neuformulierung der Sexual- und Ehemoral sowie als Neuorganisierung der unmittelbaren, privaten Beziehungen zwischen den Geschlechtern nicht nur als anarchistische Ethik verstanden. Gleichermaßen galt Freie Liebe als anarchistische Form von Frauenemanzipation, da Freie Liebe die freie Entscheidung von Frauen in Sexual- und Liebesfragen beinhalten würde. Freie Liebe wäre somit zum einen - insofern man die Privatsphäre als "natürliche" Sphäre von Frauen verstand und ihre soziale Betätigung darauf beschränken wollte - die einzig "naturgemäße" weibliche Freiheit in ihrem "eigentlichen" Lebensbereich. Zum anderen galt Freie Liebe - insofern die Freiheit und - Selbstbestimmung des Individuums als Bedingung einer anarchistischen Gesellschaft betrachtet wurde - als (sexuelle) Selbstbestimmung des Individuums in der Privatsphäre als Voraussetzung der souveränen Beteiligung von Frauen an einer Revolutionierung der Gesellschaft in anarchistischem Sinne.

In der Art und Weise, wie Freie Liebe gedacht wurde, lassen sich in Deutschland wie in anderen Ländern zwei Hauptströmungen unterscheiden, sieht man von jenen Anarchisten ab, die aus unterschiedlichen Gründen, die traditionelle Ehe(-moral) beibehalten wollten und Freie Liebe deshalb ablehnten, sei es, weil sie - wie der Misogyn Pierre-Joseph Proudhon - an (die Minderwertigkeit von Frauen glaubten, die folglich der männlichen Obhut bedürften, sei es, weil sie - wie Gustav Landauer - die traditionelle Ehe als eine der letzten erhaltenen Formen jener "Gemeinschaft" verstanden, die sie als Grundlage einer neuen anarchistischen, auf Gegenseitigkeit beruhenden Gesellschaft verstanden wissen wollten (Gustav Landauer 1921). Unter den Befürwortern von Freier Liebe lässt sich zunächst eine Richtung unterscheiden, die im Prinzip in ihrer Vorstellung von Freier Liebe der traditionellen Ehe gar nicht weit entfernt ist. Freie Liebe sei, so der belgische Anarchist Jacques Mesnil, das hohe Liebesideal "immer mehr einer streng monogamischen Form der Ehe" zustrebender "Kulturmenschen" (Jacques Mesnil 1904, S. 36). Als Alternative zur bürgerlichen Ehe, die als Prostitution charakterisiert wurde, weil sie mit wirtschaftlichen Überlegungen verbunden wäre, war eine sogenannte „freie Ehe" vorgesehen, die auf Freiwilligkeit und nur auf gegenseitiger Liebe beruhen sollte, "unbekümmert um die Konzession von Papa Staat und um den Segen der gestrengen Mama Kirche und sonst einer Moraltante" (F. Oerter 1912). Neben dieser Richtung, für die Freie Liebe praktisch nur Ehe ohne Trauschein war, gab es eine radikalere Richtung, die Freie Liebe als polygame, in der Regel aber auch heterosexuelle Liebe und Sexualität verstand, die nur ausnahmsweise in eine Ehe münden würde und die sie als unzulässige Bändigung der menschlichen Natur verstand, da der Mensch "naturgemäß" polygam wäre und "dauernde exklusive Liebe (..,) nur durch äußeren Zwang (Sitte und Gesetz) oder inneren Zwang (Religion, Moral, praktische Erwägungen) herbeigeführt werden" könnte (E. Ruedebusch 1904, S. 198). Praktische Erwägungen führten dazu, dass manche Autoren die - von der ersten Richtung gerade als Paradebeispiel der sittlichen Degeneration und Prostitutionsähnlichkeit der bürgerlichen Ehe verurteilten - "Konvenienzehe" befürworteten, die unabhängig von jeder Zuneigung in der existierenden. Eheschließungen manchmal erfordernden Gesellschaft ausschließlich einwirtschaftliches Zweckbündnis sein sollte und der Freien Liebe keine Hindernisse auferlegen sollte (vgl. P. Vandree 1897. Prinzipiell wurde die (Liebes-)Ehe als eine das Sexual- und Liebesleben einschränkende Institution indessen abgelehnt; so wurde auch die "freie Ehe" als "lächerliche Parodie auf die christliche Ehe" verworfen (E. Ruedebusch 1904, S. 197). Stattdessen ging man davon aus, dass es immer wechselnde Beziehungen in unterschiedlichen Zusammenstellungen geben würde, wobei man zur Lösung des Problems der sozialökonomischen Absicherung von Frauen, die sich der "freien Mutterschaft" widmen sollten, und Kindern, die nicht mehr in einem ehelichen Rahmen geboren und erzogen werden würden, Kollektivmaßnahmen für die künftig alleinerziehenden Mütter, z. B. in Form einer Art Sozialversicherung (vgl. P. Rarous 1907), treffen wollte.

In der Historiographie sind namentlich von Ulrich Linse und Jean Maitron Versuche unternommen worden, die Vertreter der beiden Richtungen in der anarchistischen Bewegung zu positionieren. Nach Ulrich Linse (1969) wurde die purifizierte bürgerliche Ehe - nach sozialer Herkunft - überwiegend von proletarischen Anarchisten (z. B. in Deutschland- Fritz Oerter), die auf Promiskuität beruhende Freie Liebe von intellektuellen Anarchisten, insbesondere von Zugehörigen der Boheme (z. B. Erich Mühsam oder Otto Gross) vertreten wurde. J. Maitron (1975) zufolge, besaßen die Vertreter der ersten Richtung - ideologisch betrachtet - eher einen kollektivistisch, kommunistisch anarchistischen Hintergrund, so waren die Vertreter der zweiten Richtung überwiegend individualistische Anarchisten (das gilt z. B. Für E. Ruedebusch, Emile Armand, Emma Goldman). Diese Einteilungen mögen als allgemeine Orientierung einem gewissen Sinn und einer gewissen Richtigkeit nicht entbehren. Dennoch lassen sich gleichzeitig viele Ausnahmen ausmachen: als anarchistischer Intellektueller lehnte Gustav Landauer Freie Liebe ab. Anarchistische Arbeiter, wie Paul Vandree und E. Ruedebusch, sowie kommunistische Anarchisten, wie die Französin Madeleine Vemet, der Niederländer Henk Eikeboom und der Österreicher Pierre Rannia, befürworteten Freie Liebe in ihrer radikalen Form, während der individualanarchistische J. Mesnil gerade für die "freie Ehe" plädierte. Die Zugehörigkeit zur einen oder anderen Richtung dürfte folglich auch durch andere, außerhalb des engeren Rahmens der anarchistischen Theorie und Bewegung liegende Hintergründe bedingt sein, wie z. B. Diskussionen über Sexualität und Sexualreform, die seit der Jahrhundertwende in einem breiteren Rahmen stattfanden (vgl, M. Hirschfeld 1930).

Relevanz der Freien Liebe

Quellen

Literatur zur anarchistischen Diskussion und Praxis von Freier Liebe

Autor: Hubert van den Berg

Quelle: Dieser Artikel erschien erstmals in: Lexikon der Anarchie: Encyclopaedia of Anarchy. Lexique de l'anarchie. - Hrsg. von Hans Jürgen Degen. - Bösdorf: Verlag Schwarzer Nachtschatten, 1993-1996 (5 Lieferungen). - Loseblattsammlung in 2 Ringbuchordnern (alph. sortiert, jeder Beitrag mit separater Paginierung). Für die vorliegende Ausgabe wurde er überarbeitet.

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