Kropotkin, Pjotr Alexejewitsch
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Äußere Daten
Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, geb.: 9. Dezember 1842, Moskau; gest.: 8. Februar 1921, Dimitrov.
Kropotkin entstammt einer der ältesten Familien des russischen Hochadels. Vorerst scheint er eine seinem Stand gemäße Karriere einzuschlagen: Er wird ins exquisite Pagenkorps des Zaren „berufen“, wo er neben der Vorbereitung auf die Offizierslaufbahn eine umfangreiche Bildung erhält; er zeigt großes Interesse an der Literatur und den Naturwissenschaften. Auf eigenen Wunsch tritt Kropotkin dann aber in ein zweitrangiges Regiment ein, mit dem er die Zeit von 1862 bis 1867 in Sibirien verbringt. Dabei gewinnt er starke Eindrücke von der halbkommunistischen Sozialorganisation der dortigen Bevölkerung. Er unternimmt verschiedene geographische Reisen, welche den Beginn einer angen wissenschaftlichen Tätigkeit bedeuten.
Im Jahre 1868 entschließt sich Kropotkin in den Zivilstaatsdienst überzutreten. Dadurch wird für ihn ein lange gehegter, doch nicht standesgemäßer Wunsch realisierbar: Das Studium der Mathematik und der Geographie an der Moskauer Universität. Mit verschiedenen Arbeiten über die Orographie und Kartographie Nordasiens sowie mit geologischen Untersuchungen in Finnland und Schweden wird Kropotkin zu einem anerkannten Geographen. Die Übernahme des ihm angebotenen Postens als Sekretär der russischen Geographischen Gesellschaft lehnt er jedoch aus sozialen Erwägungen ab; Kropotkin wird Privatgelehrter.
Große Bedeutung für Kropotkins Werdegang kommt der ersten Europareise zu (Februar bis Mai 1872); sie bringt ihn vor allem in der Schweiz mit der (anarchistischen) Arbeiterbewegung (Jura-Föderation, James Guillaume) in Verbindung. Nach der Rückkehr nach Russland beginnt Kropotkin — neben der Weiterführung seiner wissenschaftlichen Arbeiten — die Mitarbeit im illegalen Cajkovskij-Kreis, einem Mittelpunkt sozialistischer Propaganda unter der gebildeten Jugend.
Nach einer zweijährigen klandestinen agitatorischen Tätigkeit wird Kropotkin im März 1874 verhaftet und (ohne Prozess) in die Peter-Paul-Festung gebracht. Im Juli des Jahres 1876 gelingt ihm eine spektakuläre Flucht mit anschließender Übersiedlung nach England; dort wird er Mitarbeiter eines geographischen Wörterbuchs und der Zeitschrift "Nature". Bald verlässt er England wieder, und damit beginnt eine Phase vielfältiger agitatorischer Tätigkeit für die anarchistische Internationale in verschiedenen europäischen Ländern (Reisen, Kongresse, Vorträge, Mitarbeit an Zeitschriften).
Im August 1878 lässt sich Kropotkin in Genf nieder, wo er "Le Révolté" (22. Februar 1879, Fortsetzung ab 1887 als "La Révolte" und ab 1895 als "Les Temps Nouveaux") gründet. Er besorgt die Hauptarbeit für die Herausgabe; er schreibt auch eine Reihe wichtiger Artikel, die 1885 von Élisée Reclus unter dem Titel "Paroles d´un révolté" als Buch herausgegeben werden. Vor allem unter dem Einfluss von Francois Dumartheray und Elisee Reclus wird Kropotkin zum kommunistischen Anarchisten. In Genf lernt er die 1856 geborene russische Emigrantin Sophie Ananiev kennen, im Oktober 1878 heiraten die beiden. Sophie (gest. 1938) ist Zeit seines Lebens von großer Bedeutung für Kropotkin und sein Schaffen. Im August 1881 wird er — auf Betreiben der russischen Regierung — aus der Schweiz ausgewiesen: Er hat gegen die Hinrichtung von fünf russischen Revolutionären protestiert. Er lebt im französischen Thonon, wo er im Dezember 1882 verhaftet und im Januar 1883 (als angeblich intellektueller Urheber eines Bombenattentats) zu fünf Jahren Haft verurteilt wird. Diese erneuten Gefängnis-Erfahrungen veranlassen ihn zu einer umfangreichen publizistischen Tätigkeit über die Bedingungen und Folgen der Haft.
Nach über drei Jahren, vorwiegend im Zentralgefängnis von Clairvaux, wird Kropotkin entlassen. Im März 1886 nimmt er Wohnsitz in England, zuerst in Harrow (damals Middlesex), ab 1894 in der südöstlich von London gelegenen Kleinstadt Bromley. Das erste Jahrzehnt dieses England-Aufenthaltes kann als Höhepunkt seines Schaffens bezeichnet werden. Er widmet sich vorwiegend der Ausarbeitung seiner zentralen Interessengebiete, deren Ergebnisse er in den Zeitschriften "La Révolte", "The Nineteenth Century", "Freedom" und "Les Temps Nouveaux" publiziert und später in eigenständigen Publikationen zusammenfasst: "La Conquêta du pain" (1892), "Fields, factories and Workshops" (1899), "Mutual Aid. A Factor of evolution" (1902), "La grande revolution 1789-1793" (1909). Eine gewisse Öffnung seines bis dahin auf einen recht eng gefassten kommunistischen Anarchismus fixierten Denkens erfolgt ab etwa 1895, vor allem unter dem Einfluss des revolutionären Syndikalismus. Kropotkins prekärer Gesundheitszustand schränkt seine Aktionsmöglichkeiten erheblich ein; er unternimmt nur wenige Reisen: Nach Frankreich, Italien und in die Schweiz, in den Jahren 1897 und 1901 auch in die USA. Vor allem seine Arbeiten zu naturwissenschaftlichen Themen (hauptsächlich für "The Nineteenth Century") ermöglichen ihm und seiner Familie, in relativ guten Verhältnissen zu leben. Als folgenschwer erweist sich Kropotkins Parteinahme für die Alliierten zu Beginn des Ersten Weltkriegs, sie führt zu einer erheblichen Isolierung innerhalb der anarchistischen Bewegung.
Nach der Februarrevolution in Russland entschließt sich der fünfundsiebzigjährige Kropotkin voller Enthusiasmus, mit seiner Frau in ihre Heimat zurückzukehren, um dort beim Aufbau des Sozialismus mitzuarbeiten. Von Juni 1917 bis Anfang 1919 leben sie in Moskau, anschließend in der sechzig Kilometer nördlich gelegenen Kleinstadt Dimitrov. Kropotkin weigert sich, unter Kerenski eine offizielle politische Funktion zu übernehmen; sein Verhältnis gegenüber den Bolschewisten ist dasjenige einer obstruktiven Opposition. Unter schwierigen materiellen Bedingungen beschäftigt er sich mit der Ausarbeitung seiner groß angelegten "Ethik", deren Vollendung ihm jedoch versagt bleibt. Sein Begräbnis (13. Februar 1921) wird zur letzten großen Manifestation der Anarchisten in der Sowjetunion.
Politischer Werdegang
Als Kropotkins erste „politische“ Erfahrungen darf man wohl seine frühen, das soziale Leben der Familie betreffenden Erlebnisse bezeichnen, zumindest misst er ihnen in den äußerst lesenswerten Memoiren einen großen Stellenwert zu. Zusammen mit den späteren Erlebnissen im Pagenkorps sowie im Kosakenregiment in Sibirien vermitteln sie ihm eine weitreichende Kenntnis und eine Sensibilität für die ungerechten sozialen Verhältnisse des zaristischen Russlands. Bereits früh macht Kropotkin Bekanntschaft mit der Tradition der russischen Intelligenzija, insbesondere mit deren oppositioneller Fraktion — als eine populistische Tendenz hinterlassen sie in Kropotkins gesamtem Werk ihre Spuren. So entsteht jene emotionale Disposition, welche ihn empfänglich macht für die sozialistischen Ideen, mit denen er auf seiner ersten Europareise bekannt wird. Die Erfahrungen dieser Reise sind es auch, die ihn eine Entscheidung für den Anarchismus treffen lassen: Einerseits die Zweifel an den Führern des autoritären Sozialismus, andererseits die Begegnung mit dem libertären Sozialismus der Uhrmacher im Schweizer Jura, der für die Ausarbeitung von Kropotkins kommunistischem Anarchismus modellhaften Charakter haben wird. Von erheblich geringerer Bedeutung erweist sich der Einfluss Michael Bakunins, zu verschieden sind ihr Temperament und ihr Bildungsweg — Kropotkin ist nie ein Vertreter des Hegelianismus, für seine geistige Entwicklung steht eine positivistisch-naturwissenschaftliche Ausrichtung im Mittelpunkt. Kropotkin strebt danach, das naturwissenschaftliche Denken auf die Sozialphilosophie zu übertragen und damit den kommunistischen Anarchismus wissenschaftlich zu begründen. Im Unterschied zu Bakunin entsteht Kropotkins anarchistische Theorie nicht in einer dialektischen Bezugnahme auf den Marxismus; in seinen Schriften findet man eine erstaunlich geringe Auseinandersetzung mit dieser Gesellschaftstheorie. Die Ausarbeitung von Kropotkins kommunistischem Anarchismus erfolgt in den achtziger Jahren; die in „Paroles d´un révolté“ und „La conquête du pain“ gesammelten Aufsätze sowie die für „The Nineteenth Century“ geschriebenen „The scientific bases of anarchy“ und „The Coming anarchy“ (beide 1887) zeugen davon. Diese Schriften stellen eine umfassende und mit großer Klarheit geschriebene Darstellung des kommunistischen Anarchismus dar; in ihrem Kern enthalten sie allerdings nicht viel Originäres, sind doch die Grundzüge des kommunistischen Anarchismus in jener Zeit bereits Allgemeingut eines erheblichen Teils der anarchistischen Bewegung. Zudem betont beispielsweise Max Nettlau, der kommunistische Anarchismus stelle gegenüber dem kollektivistischen eines Bakunin oder der Jura-Föderation keine Neuerung dar, sondern bloß eine Verengung: Was die Kollektivisten an konkreten Zukunftsvorstellungen offen ließen, würde von den kommunistischen Anarchisten auf eine bestimmte, einzig richtige Form festgeschrieben. M. Nettlau mag damit einen wichtigen Mangel des kropotkinschen Konzepts treffen, dennoch darf nicht übersehen werden, dass gerade in Kropotkins Ausprägung des kommunistischen Anarchismus sehr überlegte und mit viel kreativer Phantasie geschaffene sozialinnovative Ansätze enthalten sind.
Besondere theoretische Bedeutung
Kropotkins größte Bedeutung für die Geschichte des Anarchismus liegt in seinen Beiträgen zur anthropologischen und historischen Fundierung des kommunistischen Anarchismus. Postulierten andere Anarchisten eine wesensmäßige Güte bzw. Gemeinschaftlichkeit des Menschen, so unternimmt Kropotkin den Versuch, diese wissenschaftlich zu begründen. In dieser Hinsicht gelangt er zu bedeutenden Ergebnissen, welche einen Teil der anthropologischen Forschung bis in die Gegenwart beeinflussen. Weniger überzeugend erscheint aus heutiger Sicht Kropotkins Bemühen, in der geschichtlichen Entwicklung eine Tendenz nachzuweisen, welche zwangsläufig zu einer Gesellschaftsform im Sinne des kommunistischen Anarchismus führe. Auch wenn seine historischen Studien viel wertvolles Material enthalten, so lässt er sich in seinen Schlussfolgerungen doch zu sehr von seiner Absicht, den kommunistischen Anarchismus historisch zu legitimieren, leiten. Kropotkins Bedeutung als Historiker liegt in seiner tief schürfenden Analyse der Geschichte des modernen Staates, die zu einem genaueren Einblick in das Wesen der Staatsherrschaft führt.
Von einzigartiger Bedeutung ist auch Kropotkins Beitrag zur Ausarbeitung einer anarchistischen Ethik, die in einem engen Zusammenhang mit seiner Theorie der gegenseitigen Hilfe steht. Überblickt man Kropotkins wissenschaftliche und publizistische Tätigkeit, so fällt im weiteren auf, dass er auch viele Arbeiten über kulturelle und wissenschaftliche Fragen im engeren Sinne publiziert hat – Kropotkins Motivation dazu liegt in seiner Auffassung von (Volks-)Bildung, welcher er sowohl für die persönliche als auch für die sittliche Entwicklung des Individuums große Bedeutung beimisst. Besonders erwähnenswert sind seine Vorlesungen über "Ideale und Wirklichkeit in der russischen Literatur" (1905 / 6).
Kropotkins Theorie des kommunistischen Anarchismus
Kropotkin hat etwas geschaffen, was man bei Anarchisten selten findet und was im Grunde dem anarchistischen Denken zuwiderläuft: Eine Systematisierung der anarchistischen Konzeption. Grundlage für Kropotkins kommunistischen Anarchismus bildet das Wesen Mensch, eine mehr oder weniger hypostasierte menschliche Natur. Sein anthropologisches Konzept entsteht in der Auseinandersetzung mit dem Darwinismus, der zu jener Zeit einen ersten Höhepunkt, zugleich im Sozialdarwinismus aber auch eine enorme Verzerrung erfährt. Kropotkin verneint den „Kampf ums Dasein“ als Faktor der Bio- und Humangenese nicht. Maßgeblich jedoch ist seine Erweiterung der darwinschen Theorie durch einen stärker wirksamen Faktor: Die gegenseitige Hilfe. Die für die Entwicklung vor allem des Menschen notwendige Eigenschaft stellt die Soziabilität dar; sie tritt stärker ausgeprägt in Erscheinung als der Selbsterhaltungstrieb. Die wesentliche Motivation für das menschliche Handeln liegt demnach in der Entfaltung der eigenen Individualität, mehr noch im Streben nach Übereinstimmung mit den Mitmenschen.
Bringt man diese anthropologischen Grundlagen mit Kropotkins ethischen Prinzipien zusammen, so lässt sich unschwer beurteilen, welche Form des menschlichen Zusammenlebens diesen Voraussetzungen am ehesten entspricht. Die Natur lehrt den Menschen nicht nur die Notwendigkeit der Soziabilität, sondern auch die Gerechtigkeit, welche mit Gleichberechtigung identisch gesetzt werden kann. Sittliches, d.h. für Kropotkin in erster Linie gemeinschaftliches Verhalten ergibt sich jedoch keineswegs zwangsläufig aus der menschlichen Natur — Kropotkin spricht von einem "Vernunftbeschluss über die Notwendigkeit der Gerechtigkeit in den wechselseitigen Beziehungen" (Ethik, S. 60), ohne den gemeinschaftliches Leben nicht gelingen kann.
Die hochkapitalistisch-imperialistische Gesellschaftsform wird den skizzierten Eigenschaften und Bedürfnissen des Menschen keineswegs gerecht, Kropotkin unterzieht seine Zeit denn auch einer umfassenden und radikalen Kritik, welche sich in ihren Grundzügen mit der übrigen anarchistischen Staats- und Kapitalismuskritik deckt. Insofern geht er über diese hinaus, als er einerseits eine umfassende historische Analyse des Etatismus vornimmt und andererseits großen Wert auf die psychologischen Auswirkungen der bestehenden Gesellschaftsform legt. Die Organisation der Gesellschaft durch den Staat führt zu einer Entmündigung des Individuums, zur Aufgabe der eigenen Initiative, zu einem Verzicht auf Selbstverantwortlichkeit.
Kropotkin sieht im kommunistischen Anarchismus zwar nicht eine harmonisierende Idylle, doch werden in ihm der Großteil jener Mängel und Ungerechtigkeiten aufgehoben, welche der Gesellschaft seiner Zeit innewohnen. Die zentralen Elemente des Kommunistischen Anarchismus sind Sozialisierung von Produktion und Konsum sowie eine gesellschaftliche Organisation ohne jegliche Herrschaft. Sozialisierung des Konsums bedeutet die Verteilung der Güter nicht nach der Leistung, sondern nach den Bedürfnissen der Individuen. Die Forderung der kommunistischen Anarchisten "Jedem nach seinen Bedürfnissen!" versteht sich nicht allein als Ausdruck einer radikal-idealistischen Gerechtigkeitsauffassung, sie wird in einer Zeit erhoben, in welcher die technischen bzw. produktiven Möglichkeiten derart gewachsen sind, dass alle Grundbedürfnisse aller Mitglieder der Gesellschaft auch tatsächlich befriedigt werden könnten.
An die Stelle des Staates, der Gesetze etc. tritt als Mittel der gesellschaftlichen Organisation die freie Vereinbarung, treten freie Gruppen und frei gebildete Föderationen. Kropotkins Konzept von Anarchie liegt nicht die Vorstellung allseitiger und immerwährender gesellschaftlicher Harmonie zugrunde; entscheidend ist die Art der jeweiligen Konfliktlösung. Formalisierte juristische Verfahren vermögen keinen wirklichen Ausgleich herbeizuführen; dieser kommt "im stetig wechselnden und flüchtigen Gleichgewicht zwischen den vielfachen und verschiedenen Kräften und Einflüssen" zustande. (Der Anarchismus. Seine Philosophie — sein Ideal, S. 6) Wichtig ist dabei die Selbsttätigkeit des Individuums durch das Instrument der freien Vereinbarung nehmen alle unmittelbar am öffentlichen Geschehen teil.
Kropotkin postuliert kein Rätesystem mit Delegierten und einer hierarchisch-zentralistischen Struktur; die Individuen organisieren sich in unterschiedlichen überschaubaren Gruppen: 1. in territorial bestimmten Gebilden ("Ortsgemeinden" — in der Begrifflichkeit Martin Bubers), 2. in Gruppierungen aufgrund sozialökonomischer Funktionen ("Werkgemeinden") und 3. in durch persönliche Affinität gebildeten Einheiten ("Wahlgemeinden"). Die sozialen Einheiten gehen Föderationen ein, jedoch nicht notwendigerweise bzw. von einer zentralen Stelle verordnet und kontrolliert — die Organisationsform des kommunistischen Anarchismus besteht in einer weitgehenden Dezentralisation. Die Mannigfaltigkeit der sozialen Einheiten sowie ihre föderalistische und dezentrale Struktur führen zu einer komplexen sozialen Vernetzung, die wegen des "amorphen Nebeneinanders" ihrer Teile nicht-hierarchisch und herrschaftslos bleibt. Zu einer problemlosen Aufhebung des Gegensatzes zwischen Individuum und Gesellschaft führt Kropotkins kommunistischer Anarchismus sicherlich nicht, gleichwohl ist zu betonen, dass er weitgehende Möglichkeiten eines beidseitigen Ausgleichs aufzeigt. Mit dem Hinweis auf die Autonomie der sozialen Einheiten ist ein wichtiges Element von Kropotkins Wirtschaftsordnung gegeben. Steuerungsorgan kann weder ein zentral ausgearbeiteter Plan sein, der den einzelnen sozialen Einheiten Aufgaben zuteilt, noch ein Markt, der den Austausch von Gütern und Dienstleistung zwischen den durch funktionale und regionale Arbeitsteilung spezialisierten ökonomischen Einheiten bewerkstelligt und so stets auch weitgehende und vielfältige Abhängigkeiten und Ungleichgewichte schafft. Kropotkin fordert eine Reduktion des Marktes, insbesondere des Weltmarktes, auf das nötigste. Diese Forderung erweist sich als begründet, besonders wenn man die heutige weltwirtschaftliche Situation betrachtet: Welthandel und internationale Finanzaktionen sind zu einem wirkungsvollen Herrschaftsinstrument einiger weniger Industrienationen geworden. Der Abbau des Marktes verlangt nach einer Verringerung der Arbeitsteilung im Sinne einer integrativen wirtschaftlichen Tätigkeit: "die Vereinigung von Industrie und Landwirtschaft, geistiger und körperlicher Arbeit", wie es im Untertitel von Kropotkins ökonomischem Hauptwerk heißt. Unter der Voraussetzung moderner Technik bedarf es sowohl in der Landwirtschaft als auch in der Industrie keiner Produktion „im großen Stil“, um die Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. Insbesondere mit dem Aufkommen der chemischen Düngung sowie der elektrischen Energie bzw. dem Elektromotor sieht er die Bedingungen gegeben, auch in einer kleinräumigen Wirtschaft eine hohe Produktivität zu erzielen. Wenn es außer der Profitmaximierung für die Kapitalisten überhaupt Vorteile der Großindustrie gibt, so liegen sie weniger in der Produktion als im Einkaufund Verkauf, weil monopolistische Marktanteile geschaffen werden könne. Eine genossenschaftliche Organisation der Kleinbetriebe könnten diese Vorteile wettmachen. Wesentlicher als ökonomische Effizienz und Produktivität ist jedoch das Verhältnis von Individuum und ökonomischer Ordnung. In dieser Hinsicht sind die Vorteile der Kleinindustrie offensichtlich.
Kropotkins Wirtschaftsvorstellungen können als eine frühe, nichtreaktionäre Industrialismus-Kritik betrachtet werden, in erster Linie als eine Kritik am zentralisierten, monumentalistischen Fabriksystem, wobei er wiederum psychologische Probleme hervorhebt: Die entfremdete Arbeit, eine Beseitigung jeglicher Kreativität durch die Monotonisierung der Arbeit, eine noch stärkere Beschneidung der Autonomie des Individuums durch die Organisation des Arbeitsprozesses und - was am schwersten wiegt - eine Beeinträchtigung der Solidarität unter den arbeitenden Menschen durch Konkurrenz und betriebliche Hierarchisierung. Eine besondere Bedeutung kommt auch Kropotkins These zu, die Steigerung der Produktivkraft bedeute noch nicht zwangsläufig sozialen Fortschritt.
Stellenwert Kropotkins innerhalb des libertären Spektrums
Kropotkin kann als derjenige anarchistische Theoretiker bezeichnet werden, dessen Gedanken in der anarchistischen Bewegung, in der Arbeiterbewegung überhaupt, am stärksten zur Kenntnis genommen wurden. Nicht nur seine Schriften fanden eine enorme Verbreitung, auch sein Charisma und sein Einfluss in der anarchistischen Bewegung waren außerordentlich groß. Diese überragende Bedeutung eines einzelnen Menschen verträgt sich im Grunde schlecht mit den Prinzipien des Anarchismus, entsteht doch auf diese Weise eine personalisierte Autorität, welche gerade das verhindert, was Kropotkin in seinen theoretischen Arbeiter immer wieder fordert: Die selbständige Denkarbeit des einzelnen Individuums. M. Nettlau schreibt von „einem blinden Kropotkinvertrauen“, das unter diesen Bedingungen entstand.
Kropotkins außergewöhnliche Popularität steht in einem auffallenden Gegensatz zu dem geringen wissenschaftlichen Interesse an seinem Werk. In den letzten Jahren scheint sich diese Situation etwas zu verändern. Lag im Zuge des antiautoritären Protests der 68er Bewegung die Betonung auf den autoritäts- und staatskritischen Elementen des Anarchismus, so steht heute die Frage im Vordergrund, was die anarchistische Theorie zur Neugestaltung der Gesellschaft beitragen könnte — eine Neugestaltung, welche angesichts der wachsenden Bedrohung (Umweltzerstörung, Übertechnisierung, Risikogesellschaft) immer dringlicher wird. Kropotkin hat dazu bedeutende Beiträge geleistet. Die Relevanz von Kropotkins Denken für die heutige Zeit erscheint mir erheblicher, als die geringe Auseinandersetzung mit ihm vermuten ließe. Neben den bereits erwähnten Aspekten seines Denkens sei noch ein besonders gewichtiger hervorgehoben: Seine ökologische Sensibilität sowie sein differenzierter Naturbegriff. Das Verhältnis von Mensch und Natur bildet keinen Antagonismus, der lediglich durch die Herrschaft des Menschen über eine karge und bedrohliche Natur aufgelöst werden kann. Weder die äußere Natur noch die menschlichen Natürlichkeit müssen dominiert bzw. unterdrückt werden, damit menschliches Leben, damit Gesellschaft und Kultur möglich sind.
Literatur u. Quellen: Wichtigste Werke
- Paroles d´un révolté. Hg. v. E. Reclus, 1885
- The scientific bases of anarchy, in: "The Nineteenth Century", Februar 1887
- The Coming anarchy, in: "The Nineteenth Century", August 1887
- La conquête du pain, 1892, dt.: Der Wohlstand für alle, 1918
- Fields, factories and Workshops, 1899, dt.: Landwirtschaft, Industrie und Handwerk, oder: Die Vereinigung von Industrie und Landwirtschaft, geistiger und körperlicher Arbeit, Berlin 1976
- Memoirs of a revolutionist, 1899, dt.: Memoiren eines Revolutionärs, Frankfurt 1973
- Mutual Aid. A Factor of evolution, 1902, dt.: Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, Frankfurt a. M. 1975
- Russian literature, 1905, dt.: Ideale und Wirklichkeit in der russischen Literatur, Frankfurt a. M. 1975
- La grande révolution 1789-1793, 1909,dt.: Die Französische Revolution, 1789-1793, erw. Aufl., Leipzig 1982
- Etika, Bd. 1, 1922, dt.: Ethik. Ursprung und Entwicklung der Sitten, Berlin 1976
- Der Anarchismus, mit einer Einführung in Kropotkins Leben und Werk, hg. v. H. Mertl, Siegen 1983 (enth. "L´anarchie, sa philosophie, son idéal", 1896 u.a.)
- Der Staat, Frankfurt o. J. (enth. "The scientific bases of anarchy", 1887; "L´etat: son rôle historique", 1896; "L´état moderne", 1901 u.a.).
Quellen
- H. Hug: Kropotkin zur Einführung, Hamburg 1989 (SOAK-Einführungen, Bd. 45)
- M. A. Miller: Kropotkin, Chicago and London 1976
- S. Osofsky: Peter Kropotkin, Boston 1979 (Twayne´s world leader series, TWLS 77)
- G. Woodcock / I. Avakumovic: The Anarchist Prince: A Biographie of Peter Kropotkin, London 1950.