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Die DadA-Buchempfehlung

Buchcover: 978-3-89861-814-4.gif
Autor/en: Maurice Schuhmann
Titel: Die Lust und die Freiheit
Untertitel: Marquis de Sade und Max Stirner – Ihr Freiheitsbegriff im Vergleich.
Verlag: Karin Kramer Verlag.
Erscheinungsort: Berlin
Erscheinungsjahr: 2007
Umfang, Aufmachung: Originalausgabe (überarbeitete Diplomarbeit am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, 2005). Broschur. 144 Seiten mit 8 Abb., Personen- und Schlagwortregister sowie Kurzbiographien von Max Stirner und Marquis de Sade.
ISBN: (ISBN-13:) 3-87956-398-X
Preis: 12,80 EUR

Besprechung

Auf den ersten Blick verblüfft der Versuch, eine Verbindung zwischen Marquis de Sade (1740-1814) und Max Stirner (1806-1856) herzustellen. Stehen sich doch mit ihnen zwei Charaktere gegenüber, wie sie kaum unterschiedlicher sein könnten: auf der einen Seite der französische Bonvivant und „Erotikschriftsteller" de Sade, der sich mit seinen ausschweifenden sexuellen Fantasien wortwörtlich einen "Namen" gemacht hat und auf der anderen Seite der preußisch-spröde deutsche Philosophen Stirner, der als der ideologische Wegbereiter des Individualanarchismus gilt. Dennoch verbindet sie ein gemeinsames Element: Die Idealisierung eines souveränen Subjektes, das sich über die Grenzen der Begrifflichkeit des Allgemeinen emporhebt.

Maurice Schuhmann konzentriert sich in seiner Studie auf die Untersuchung der politisch-philosophische Auseinandersetzung mit den individualistischen Freiheitskonzepten der beiden Denker. Mit seinem Forschungsansatz betritt er weitgehendes Neuland und dies auch über die spezifischen Fragestellungen seiner Studie hinaus. Denn weder Marquis de Sade noch Max Stirner haben bisher Einzug in die wissenschaftlichen Diskurse im deutschsprachigen, akademischen Raum gefunden. Die Rezeption ihrer Schriften und Ideen verlief weitgehend im außeruniversitären Bereich.

Das literarisch-philosophische Werk des Marquis de Sade wurde über lange Zeit hinweg auf die auszugsweise Veröffentlichung der in seinen Schriften beschriebenen sexuellen Eskapaden reduziert oder es wurde gar komplett verboten. So verwundert es nicht, dass seine Schriften erst spät von der Wissenschaft als Forschungsthema aufgegriffen wurden. Bezeichnend ist, dass die erste akademische Konferenz über de Sade erst 1966 in Frankreich abgehalten wurde. Jenseits der akademischen Forschung fand hingegen eine breite Rezeption seines Lebens und Werkes in unterschiedlichen Bereichen der Kultur und Wissenschaft statt.

In der bisherigen Forschung zum Freiheitsbegriff de Sades dominiert das Bild eines maßlosen Freiheitsdranges des absolut gesetzten Individuums. Betont wird immer wieder die Verbindung von individueller Freiheit und dem Verbrechen als ein Befreiungsakt – ein Akt der Empörung und Revolte. Dabei wird der Zugang zum Freiheitsverständnis de Sades häufig in seiner Biographie gesucht. Charakteristisch hierfür ist die Interpretation von de Sade, die Albert Camus 1951 in seinem Essay „Die metaphysische Revolte" (in seinem philosophischen Hauptwerk „Der Mensch in der Revolte") vornimmt:

„Man rühmt ihn als den Philosophen in Ketten und den ersten Theoretiker der absoluten Revolte. Er konnte es tatsächlich sein. Im tiefsten Gefängnis ist der Traum ohne Grenze, die Wirklichkeit bremst nichts. Der Geist verliert an Klarsicht, was er an Wildheit gewinnt. Sade kannte nur eine Logik, diejenige der Gefühle. Er gründete keine Philosophie, sondern verfolgte den grausigen Traum eines Verfolgten. Allein es trifft sich, dass dieser Traum prophetisch ist. Die erbitterte Forderung nach Freiheit führte Sade ins Reich der Knechtschaft; sein maßloser Durst nach einem fortan verbotenen Leben wurde, von einer Wut zur anderen, gestillt durch den Traum einer allumfassenden Zerstörung".

Die Situation beim Forschungsstand zur Freiheitsthematik bei Max Stirner stellt sich kaum besser da als die beim Marquis de Sade. Sein Freiheitsbegriff wurde bisher überwiegend als Randaspekt beleuchtet bzw. im Zusammenhang von anderen Untersuchungen gewürdigt.

Die erste umfangreichere Untersuchung über den Freiheitsbegriff von Max Stirner legte 1998 Georg Schildhammer mit seiner Dissertation „Die Genese der .Freiheit" und ihre radikale Zuendeführung in Max Stirners Werk "Der Einzige und sein Eigentum" vor. Er untersuchte Stirners Freiheitsbegriff unter der Prämisse, dass er die Vollendung der Entwicklung der Freiheit des Individuums darstellte. Dabei beschreibt er einen Traditionsstrang von Immanuel Kant über den deutschen Idealismus bis hin zu den Junghegelianern und präsentiert Stirners Philosophie als die Vollendung der Entwicklung dieses individuellen Freiheitsbegriffes und somit als den Höhepunkt des deutschen Idealismus. Die Reduktion des Freiheitsbegriffes im Werke Stirners auf die Dichotomie der Begriffe von „Freiheit" und „Eigenheit" ist insgesamt charakteristisch für die akademische Stirner-Forschung. Nur selten finden Randaspekte des Freiheitsbegriffes wie die Willens- und Handlungsfreiheit oder die Betonung der Selbstbefreiung des Individuums Eingang in die Untersuchungen – ebenso fehlen eigenständige Untersuchungen zu diesen Aspekten.

Ausgehend von der Dokumentation und Analyse des Forschungsstandes entwickelt Schuhmann in seiner Studie seine eigenen Prämissen. Dabei spitzt er die Fragestellung seiner Untersuchung dahingehend auf die Frage zu, ob es im Freiheitsbegriff der beiden Denker Übereinstimmungen bzw. Abweichungen gibt. Für die Beantwortung dieser Frage untergliedert er den Freiheitsbegriff in einzelne Teilbereiche, um eine differenzierte Analyse vornehmen zu können. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, ob die wiederholt in der Philosophiegeschichte angedeutete Nähe der beiden Denksysteme auf der Ebene ihres Freiheitsbegriffes belegt werden kann oder nicht.

Die Ergebnisse seiner Studie machen deutlich, dass im Mittelpunkt der Freiheitsphilosophie sowohl von Marquis de Sade als auch von Max Stirner die Freiheit des souveränen Individuums steht. Bei de Sade wird dieses Individuum durch die Gestalt des Libertins verkörpert und als Projektionsfläche für das Gedankenexperiment der absoluten, individuellen Freiheit genutzt. Das souveräne Individuum de Sades verfolgt seine von der Natur gegebenen Anlagen und verwirft überindividuelle, abstrakte Ideen, die sein Handeln einschränken bzw. die individuelle Freiheit unterdrücken. Der Libertin erkennt damit kein allgemeingültiges Gesetz an, sondern nur die Herrschaft der Natur, die sich in seinen Trieben und Bedürfnissen manifestiert und eine wichtige Basis für die Begründung der individuellen Freiheit bildet. Seine eigene Norm wird daher durch seine individuellen Naturanlagen und durch seine Macht bzw. auch im geringeren Maße durch seine finanziellen Möglichkeiten bestimmt. Der sich durch die Naturdetermination ergebenden Beschränkungen der individuellen Freiheit ist er sich dabei durchaus bewusst. Er lässt seine Protagonisten mit der Überwindung dieser letzten Grenze zur absoluten Freiheit ringen. Dieser Freiheitsdrang führt zu einer Revolte gegen die Natur und damit gegen das „göttliche Prinzip". Die Revolte äußert sich in der Suche nach dem größtmöglichen Verbrechen – einem Verbrechen, das die Grenzen der Natur überwindet.

Eine allgemeingültige Norm für die Individuen einer Gesellschaft wird von den Libertins verworfen. Sie verwerfen diese, indem sie auf rationaler Grundlage die klassische Gottesidee negieren und damit auch die darin geknüpften Moral- und Tugendvorstellungen außer Kraft setzen. Die Freiheit des Individuums findet keine Beschränkung an dem gleichweit reichenden Spektrum der Freiheit des Nächsten. Die individuelle Freiheit wird nur durch die eigenen Potentiale begrenzt. Der Libertin proklamiert somit bis zu einem gewissen Grade das „Recht des Stärkeren" als soziale Grundlage der Gesellschaft.

Während de Sade mit seinen Libertins keine direkte Handlungsaufforderung für das Individuum entwickelt, lässt sich die Beschreibung des "Eigners" bei Max Stirner in einigen Aspekten durchaus als eine konkrete Handlungsaufforderung zur Selbstbefreiung lesen. Genauso wie der Libertin stellt sich der Eigner als ein souveränes Individuum dar, das keine übergeordneten Allgemeinbegriffe akzeptiert. Der Eigner ist der geborene Freie, wie Max Stirner schreibt, und zugleich sein eigener Schöpfer. Er akzeptiert genauso wenig wie der de Sadesche Libertin überindividuelle Macht- und Herrschaftsstrukturen. Stattdessen setzt er sich selbst als Individuum absolut und negiert damit über ihm stehende Strukturen oder Personen. Im Gegensatz zum Libertin ist der Eigner aber kein „Sklave" der Natur, sondern eignet sich die Natur an. Er kontrolliert und reflektiert seine natürlichen Bedürfnisse und Triebe. Die Natur wird zu seinem Eigentum, indem er sie verbraucht.

Weder der de Sadesche Libertin noch der Stirnersche Eigner vertrauen auf gesellschaftliche Institutionen für den Schutz ihrer individuellen Freiheit(en). Ihr Handeln wird von ihrer eigenen Macht bestimmt, d. h. durch ihre eigenen, natürlichen Potentiale. Stirner sieht den Staat als den Todfeind des Individuums an, der die Freiheit des Individuums nicht akzeptieren kann, ohne sich selbst in Frage zu stellen. De Sade hingegen will den Staat beibehalten, aber seine Rechte gegenüber dem Individuum einschränken. Ein solches Staatswesen müsste neben den politischen Freiheiten auch die individuelle Handlungsfreiheit gewähren. Der Staat im Sinne de Sades reduziert sich also im Sinne eines "Minimalstaates" auf einige wenige Grundkonstanten, die für die Aufrechterhaltung einer politischen Ordnung notwendig sind. In dieser Hinsicht besteht sowohl ein klarer Unterschied zwischen den Staatsvorstellungen der beiden Denker als auch für die Haltung des Staates gegenüber dem Individuum.

Aus unterschiedlichen geistesgeschichtlichen Strömungen stammend, fordern sowohl de Sade als auch Stirner die konkretisierte Freiheit des Individuums. Beiden Denkern geht es um die absolute Subjektivität des Individuums, das keiner Allgemeinheit – sei es der Idee einer allgemeingültigen Moral oder des Staates – geopfert wird. In ihrer konsequenten Beweisführung bieten de Sade und Stirner Denkanstöße sowohl für die moderne als auch postmoderne Philosophie. Die Studie Schuhmanns bietet einen neuen Zugang zum Werk der beiden Denker, das heute vor dem Hintergrund zunehmender Individualisierung aktueller denn je erscheint. Gleichzeitig zeigt der Autor in seiner Untersuchung auch die Potentiale auf, die die Gedankenexperimente der beiden Denker bezüglich der Analyse aktueller gesellschaftlicher Veränderungen in Form einer verstärkt als Bedrohung wahrgenommenen Individualisierung bieten können.

Jochen Schmück


Inhalt

  • Vorwort
  • Gerhard Bauer: Sesshaftigkeitsphobien und ihre unerlässliche Dialektik
  • Walter Fahnders: Vagabondage und Vagabundenliteratur
  • Gertrude Cepl-Kaufinann: Die Boheme zwischen Lebensreform und Lebensflucht
  • Tobias Lachmann: "Exil" als literarisches Projekt. Nomadische Diskursformen in Klaus Manns "Der Vulkan. Roman unter Emigranten"
  • Sargut Sölcün: Nomadendasein in geordnetem Leben: Emine Sevgi Özdamar
  • Walter Dekbar: Effekte der Modernisierung. Individualisierung, Prekarisierung, Migration und Nomadisierung
  • Walter Fahnders: Artur Streiter-Bibliographie
  • Autorinnen und Autoren


Über den Autor

Der Diplom-Politologe Maurice Schuhmann (Jg. 1978), promoviert momentan am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin über die Individualitätsbegriffe von Marquis de Sade, Max Stirner und Friedrich Nietzsche. Er ist Mitbegründer und Vorsitzender der Max Stirner-Gesellschaft.


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