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Lexikon der Anarchie: Personen Artur Streiter, geboren 17.01.1905 in Ruppin (Brandenburg), gestorben 10.10.1946 in Schönow (bei Berlin), war Maler, Auftragszeichner, Schriftsteller, Journalist und Literaturkritiker. Er gehörte zeitweilig der FAUD an. InhaltsverzeichnisBiografieStreiter war Sohn eines Pferdehändlers, nach der Scheidung der Eltern lebte er zeitweilig bei Vater oder Mutter. Es ist ein frühkindliches Interesse am Zeichnen und Lesen überliefert. Mit dem Beginn einer Handwerkerlehre verließ Streiter noch als Jugendlicher sein Elternhaus. Er trat mit 16 Jahren der Berliner „Kommune Goldberg“ bei; dem wiederum folgte eine mehrmonatige Wanderung durch Deutschland mit einer Puppenspielertruppe namens „Iwowsky“. Der inzwischen nach Frankreich aufbrechenden Goldberg-Kommune kaufte Streiter 1926 zusammen mit seiner späteren Ehefrau Erna Mücke (Heirat 1927) eine schlichte Holzbehausung auf einem zu pachtenden Grundstück an der Bahnlinie Richtung Strausberg ab (ca. 40 km östlich von Berlin). Dieses (auch heute noch so genannte) „Rote Luch“ sollte Keimzelle einer größeren Siedlung werden und war bis 1930 Lebensmittelpunkt Streiters. Zu dieser Zeit verstand sich Streiter als Anarchist und Syndikalist. Er selbst schrieb über seine Kennzeichnung als „Anarchist“: „Es kommt ja nicht auf den Namen an, das ist ja unwesentlich!“ (Einlage zum Tagebuch v. 21.11.1930). Er plante im „Roten Luch“ eine an Gustav Landauer und Leo Tolstoi als Vorbilder orientierte Gemeinschaft zu versammeln. Die Gefolgschaft von Freunden erwies sich jedoch als immer nur temporär. Das überlieferte Gästebesuch bezeugt Besuche u.a. von Gusto Gräser (dem bekannten „Wanderpropheten“) und Magnus Schwantje (Vorreiter der deutschen Vegetarierbewegung). Zu dieser Zeit entfaltete Streiter eine rege publizistische, literarische und bildkünstlerische Tätigkeit. Von den Honoraren seiner Veröffentlichungen – und später vom Verkauf seiner Bilder – konnte er allerdings eher schlecht denn recht leben; den Großteil des Unterhalts finanzierte seine Frau Erna mit ihrer Arbeit. Seine Beiträge zur anarchosyndikalistischen Politik, Kultur und Literatur druckte vor allem „Der Syndikalist“, jedoch schrieb Streiter auch für andere Periodika des linken Spektrums, darunter auch heute kaum mehr bekannten oder sehr kurzlebigen Zeitschriften wie „Die Fackel. Blätter für junges Wollen“, „Die Gralsburg“ oder die anarchistische „contra“ (Wien). Streiters Illustrationen und Linolschnitte wurden relativ häufig in solchen Publikationen verwendet. Umfangreichere Schriften zur bildenden Kunst und zur Kulturgeschichte sowie Dichterporträts blieben ungedruckt. Teilweise auf eigene Erfahrungen auf der Landstraße rekurrierend, pflegt Streiter Kontakte zur Vagabundenbewegung der Weimarer Republik um Gregor Gog, arbeitet an dessen Zeitschrift „Der Kunde“ bzw. später „Der Vagabund“ mit und beteiligte sich 1929 an der Kunst-Ausstellung des Vagabundentreffens in Stuttgart. Später folgten weitere kleinere Ausstellungen in Berlin. Nach der Auflösung der Siedlung 1930 kehrte Streiter nach Berlin zurück und übte nach einer Ausbildung zum technischen Zeichner diesen Beruf während der 30er Jahre in einem größeren Kunstgewerbebetrieb aus, in dem auch seine Frau angestellt war. Wie seine Tochter Marianne Witt (Berlin) mitteilt, wurde Streiter 1936 aufgrund einer nachbarschaftlichen Denunziation von der Gestapo verhaftet; es war häufiger Besuch von „Russen und Juden“ gemeldet worden, im Hause Streiter hatten tatsächlich unter zahlreichen Freunden immer Gesprächsrunden zu philosophischen Themen etc. stattgefunden. Die genaue Dauer des Aufenthaltes in den einschlägigen Berliner Nazigefängnissen ist nicht feststellbar, jedoch ist überliefert, dass sich Streiter währenddessen seine TBC-Erkrankung zuzog; deshalb wurde er auch nicht zum Kriegsdienst einberufen. In einem Brief an Theodor Plievier berichtet Streiter 1945 von seinem Nachkriegs-Engagement in diversen Ehrenämtern bei der Ortsgruppe der KPD in Schönow. - Erna und Artur Streiter hatten zwei Kinder. Der frühe Tod der jüngeren Tochter hatte Streiters labile Gesundheit zusätzlich schwer belastet. Die Lungentuberkulose führte 1946 zu seinem Tode mit nur 41 Jahren. Streiter hat ein umfangreiches literarisches und bildkünstlerisches Werk hinterlassen, von dem letztlich nur wenig veröffentlicht bzw. ausgestellt wurde. Als Chronist seiner selbst, der seine eigenen Werke sorgfältig katalogisierte und in den umfänglichen Tagebüchern immer wieder reflektierte, erweist er sich als lesehungriger und schreibinteressierter Autodidakt, der frühzeitig mit den literarischen Größen bzw. mit bekannten Autoren seiner Zeit den brieflichen Kontakt suchte (so sind Briefe an und von Hermann Hesse, Thomas Mann, Alfons Paquet, Else Lasker-Schüler, Stefan Zweig überliefert). Kontakte pflegte Streiter auch zu Gleichgesinnten, so war er enger befreundet mit dem Kleinverleger Paul Heinzelmann (Pseud. u.a. Heinz Elm) und knüpfte so ein engmaschiges Netzwerk persönlicher, politischer und literarischer Beziehungen.
Zum WerkStreiters Werk umfaßt Lyrik, Erzählprosa, Kritiken, Essayistik, Autobiographisches (Tagebücher) sowie Kunsthandwerkliches und Bilder. Neben einer einzigen (verschollenen) selbständigen Veröffentlichung hat Streiter eine Vielzahl von Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträgen publiziert, die mittlerweile bibliographisch erfaßt sind. Vieles ist ungedruckt geblieben und findet sich im Streiter-Nachlass des Fritz-Hüser-Instituts in Dortmund. Dieser ist durch ein Findbuch archivarisch erschlossen. Bereits seine ersten Aufzeichnungen Mitte der 20er Jahre kreisen um die Themen Boheme und Vagabondage und markieren damit ein gesellschaftliches und politisches Interesse, das sich wie ein roter Faden durch Leben und Werk von Streiter zieht: die Orientierung an den Außenseitern, Geächteten, Parias der Gesellschaft, die sich – wie Streiter selbst – nicht anpassen wollen und die ein großes schöpferisches Potential in sich bergen und dieses freizusetzen suchen. So erklärt sich sein Interesse an großen Künstlerfiguren wie Vincent van Gogh und Friedrich Hölderlin, über die er umfangreiche unveröffentlicht gebliebene Arbeiten schrieb, und so erklärt sich auch eine Art Selbststilisierung zum Boheme-Dichter, der letzten Endes die Dichter-Tradition der deutschen Romantik, die ihn sehr beeindruckt, fortsetzt. Die Figur des Vagabunden, die er in Wort und Bild gestaltet, ist Streiter wichtig als Subjekt von Opposition und sozialer Veränderung – hierin mit Positionen Erich Mühsams vergleichbar. Im „Syndikalist“ begrüßt er ausdrücklich zeitgenössische Vagabunden-Publikationen. Eine unveröffentlichte Kulturgeschichte der Vagabondage schlägt den historischen Bogen von François Villon und den fahrenden Scholaren bis zu den Vagabunden der 20er Jahre. Ein ausgesprochenes Dichterbewusstsein – Verehrung des großen schöpferischen Künstlers und Genies – zeigen auch seine zahlreichen Gedichte, die einerseits soziale und sozialrevolutionäre Sujets behandeln, sich andererseits aber auch unpolitisch geben und die nur zu einem kleinen Teil veröffentlicht worden sind. Auch in Prosatexten und Bildern widmet sich Streiter dem Vagabunden-Thema. Daneben findet sich eine Fülle an Literaturkritik, die den Lesehunger des Autodidakten bezeugen. In seinen (gegenüber denjenigen mit literarisch-kultureller Thematik) nicht sehr zahlreichen politischen Artikeln charakterisiert Streiter die Existenz der Arbeiter als „Sklaverei“, Streik ist ihm ein legitimes Mittel zur proletarischen Revolution. Es sind jedoch weniger tagespolitische Fragen wie z.B. die Zensurdebatte und der Erste Weltkrieg, die ihn interessieren, sondern grundsätzliche ideologische Erörterungen. Die Auseinandersetzung mit der Figur Lenins ist hier besonders zu nennen, bei Streiter vor dem klaren Hintergrund seiner anarchistischer Ausrichtung. In seinen Kritiken werden Kunst und Kultur von Streiter relativ neutral, nicht ‚parteilich’, gesehen, wenn auch Bücher in den zahlreichen Besprechungen zeitgenössischer und älterer Literatur manchmal konkret als geeignete „Lektüre für den jungen Arbeiter“ empfohlen werden. Das bürgerliche Bild des familiären Zusammenhalts erfährt durch Streiter trotz seiner eher ablehnenden Haltung z.B. gegenüber der offiziellen Eheschließung besonders betonten Zuspruch. Die Frau soll nach Streiters Vorstellung die Rolle der Mutter einnehmen, kann sich jedoch durchaus auch an der Produktion in den Betrieben beteiligen. Die Kirche als Institution ist ein festes Feindbild Streiters, in ihrer Tradition von „Götzenhuldigung“ sieht er den korrumpierten Staatsapparat verwoben. Fluchtpunkt ist ein letzten Endes idealistisches Vertrauen auf die Macht von Dichtung und Kunst bei der Befreiung des Menschen, wobei eine christliche Grundidee stets spürbar bleibt. Während der Zeit des Nationalsozialismus konnte Streiter gelegentlich publizieren, z.T. in gleichgeschalteten, z.T. in ausgesprochenen NS-Blättern, ohne dass freilich nationalsozialistische Propaganda aus seiner Feder bekannt wäre. Es sind ‚unpolitische’ Texte, beispielsweise über große Künstler und sogar Botanisches (über Kakteen). Nach 1945 engagierte sich Streiter publizistisch in der SBZ bzw. in Ost-Berlin. Stellung im libertären Spektrum:Streiter war nach eigenen Aussagen Mitglied der FAUD, für deren „Syndikalist“ er 1926-1930 rund 90 Beiträge schrieb. Dabei ist er weniger Propagandist des Anarcho-Syndikalismus, was organisatorische oder i.e.S. gruppenspezifische Belange der FAUD angeht, sondern Verfechter eines libertären Denkens und Dichtens über organisatorische Strukturen hinaus. Vergleichbares gilt für die Vagabundenbewegung, der er sich eng verbunden fühlte. Sein Siedlungs-Experiment im „Roten Luch“ zeigt ihn in der anarchistischen Tradition des Siedlungsgedankens und der Kommunebildung hier und jetzt – der Einfluss Gustav Landauers ist unverkennbar. Streiters anarchistische Grundhaltung läßt sich an vielen einschlägigen Aussagen dieser Jahre ablesen: „Ich sage nicht: so wenig Staat als möglich, sondern betone: gar keinen Staat!“ („Bücherbesprechung“. In: Der Syndikalist 8, 1926, Beilage „Der Frauen-Bund“ zu Nr. 35 (28. Aug.), S. 4). Besonders verbunden fühlte sich Streiter einer „Gruppe Landauer“ (wohl innerhalb der Berliner FAUD). Konflikte gab es mit der FAUD wegen ausbleibender Beitragszahlungen, vor allem aber – so zeigen seine Tagebuchaufzeichnungen – wegen wachsender Ressentiments gegenüber der Redaktion, vor allem gegenüber Helmut Rüdiger, der nicht alle Streiter-Manuskripte abdruckte. Dies führte zu wachsender Distanz der FAUD insgesamt gegenüber. Weshalb seine Tätigkeit für den „Syndikalist“ 1930 endete, ist bisher nicht bekannt. Wichtige Zeugnisse für die Position innerhalb der anarchistischen und ‚alternativen’ Ideologielandschaft vor allem der späteren Weimarer Republik sind die unveröffentlichten Tagebücher (1925-36), die eine Fülle kulturhistorischer Informationen über Streiters künstlerisch-politisches Netzwerk, das er sich aufbauen konnte, bieten. Auch seine Korrespondenz offenbart ein Netzwerk mit kulturhistorisch und literarisch bedeutenden Persönlichkeiten, seine Texte und Textsammlungen sind aufschlussreich für den Zeitgeist einer linken libertären Gesinnung und die Verweigerung bestimmter gesellschaftlicher Normen während der Weimarer Republik. In Selbstreflexion und -zweifel über den anderthalb Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs später dann doch noch vollzogenen Beitritt zur KPD kristallisiert sich Streiters Haltung zum Anarchismus heraus.
Quellen und SekundärliteraturSelbstständige Schriften
NachlassDer Nachlass wird aufbewahrt im Fritz-Hüser-Institut, Dortmund.
Bibliographie
Forschungsliteratur
Autoren: Henning Zimpel/Walter Fähnders © Alle Rechte am hier veröffentlichten Text liegen beim Autor. Sofern nicht anders angegeben, liegen die Rechte der auf dieser Seite verwendeten Illustrationen beim DadAWeb. Es kann gerne auf diese Seite ein Link gesetzt werden. Aber von den Urhebern der Texte und Illustrationen nicht autorisierte Separat- oder Teil-Veröffentlichungen sind nicht gestattet, das gilt auch für die Verlinkung und Einbindung dieser Seite oder einzelner Seiteninhalte im Frame. Lexikon der Anarchie: Personen
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