Christian Sigrist - Gedenkseite
Christian Sigrist ist tot
Am 14. Februar 2015 ist in Münster der libertär-marxistische Ethnologe und Soziologe Christian Sigrist gestorben.
Christian Sigrist (geb. am 25. März 1935 in St. Blasien) promovierte 1965 mit einer Studie über Segmentäre Gesellschaften in Afrika und unternahm in der Folgezeit Feldforschungen in Afghanistan und Guiné-Bissau. Sigrists Forschung konzentrierte sich auf die Gebiete: Theorie der Übergangsgesellschaften, Befreiungsbewegungen, Agrar-, Rechts-, Entwicklungssoziologie, Anthropologie. Er veröffentlichte darüber hinaus zahlreichen Artikel und Reportagen zu Problemen der Dritten Welt.
Bekannt wurde Sigrist vor allem durch seine Studie "Regulierte Anarchie. Untersuchungen zum Fehlen und zur Entstehung politischer Herrschaft in segmentären Gesellschaften Afrikas", mit der er maßgeblich dazu beigetragen hat, dass die deutschsprachigen Anthropologie und Ethnologie in den 1960er und 1970er Jahren den Anschluss an die libertäre Schule der angloamerikanischen Social Anthropology gefunden hat.
Seit 1971 war Sigrist bis zu seiner Emeretierung im Jahr 2000 als Professor für Soziologie an der Universität in Münster tätig. Ab 1978 war er zudem als agrarsoziologischer Berater des kapverdischen Ministers für ländliche Entwicklung aktiv.
Wer seine Erinnerungen an Christian Sigrist mit uns teilen möchte, kann sie auf der Diskussions-Seite veröffentlichen. Wir übernehmen dann die Texte hier auf die Christian-Sigrist-Gedenkseite.
Falls jemand Probleme mit dem Schreiben auf der Diskussions-Seite haben sollte, der kann uns seinen Text und gerne auch Fotos zur Veröffentlichung auf der Gedenkseite per E-Mail schicken an: redaktion@dadaweb.de.
Jochen Schmück
Redaktion DadAWeb.de
Inhaltsverzeichnis
- 1 Einladung zur Christian Sigrist-Gedenkveranstaltung
- 2 Erinnerungen an einen "Empörten". Von Robert Krieg
- 3 Freiheit in der Wissenschaft. Von Klaus Kraemer
- 4 Meine beiden letzten Jahre mit Familie Sigrist. Von Nahid Shafiei
- 5 Christian Sigrist. Von Moema und Johannes Augel
- 6 Nachruf auf einen ungebeugten Denker. Ein Blog-Beitrag von Freitag-Community-Mitglied Costa Esmeralda
- 7 Schneller denken. Erinnerungen an Christian Sigrist. Von Ralf Syring
- 8 Ein Soziologe im Minenfeld. Von Bernd Drücke
- 9 Nachruf auf Ute und Christian Sigrist von Wolf-Dieter Narr
- 10 Christian Sigrist (1935-2015)
- 11 Zum Tod von Prof. Dr. Christian Sigrist – Bis zuletzt gegen Wilhelm II. Von Jörg Rostek
- 12 Rüdiger Haude: Anarchie im gelobten Land
- 13 Erinnerungen an Christian Sigrist. Von Abdulkader Saleh Mohammad
- 14 Werke (eine Auswahl)
- 15 Weblinks
Einladung zur Christian Sigrist-Gedenkveranstaltung
Liebe Freundinnen, Freunde und Weggefährten von Christian Sigrist,
hiermit lade ich Euch ganz herzlich zur Christian Sigrist-Gedenkveranstaltung ein. Die Feier findet am 15. Juni ab 18 Uhr in der Brücke (Wilmergasse, Münster) statt. Es würde mich sehr freuen, wenn Ihr kommt und Eure Erinnerungen an Christian mit uns teilt.
Damit ich einschätzen kann, wieviele Menschen ungefähr kommen, teilt mir bitte mit, ob Ihr teilnehmen wollt. Wenn Ihr einen Redebeitrag halten möchtet, teilt mir das bitte ebenfalls mit, damit ich das bei der Planung der Feier berücksichtigen kann.
Für den musikalischen Teil der Veranstaltung werden Nils Zurawski und Reinald Döbel sorgen, wie schon bei der sehr bewegenden Gedenkfeier für Ute Sigrist 2014.
Bis jetzt sind schon Nachrufe in der "jungen Welt", im "Freitag" und auf "iley" erschienen. Wolf-Dieter Narrs Nachruf auf Christian erscheint voraussichtlich im "Argument". Ich werde für die Graswurzelrevolution Nr. 398 einen Nachruf schreiben.
Es wäre schön, wenn Ihr Eure Nachrufe auf Christian, sowie Fotos und Erinnerungen an Jochen Schmück mailt, damit er die Texte und Bilder mit Quellenangabe [hier] auf der Gedenkseite veröffentlichen kann: [mailto: redaktion@dadaweb.de redaktion@dadaweb.de]
Christian wird am 16. April um 14 Uhr in Heidelberg beerdigt. Die Beerdigung wird auf Wunsch der Familie Sigrist im kleinen Kreis stattfinden.
Wir werden Christian nicht vergessen.
Alles Liebe,
Bernd Drücke
Redaktion Graswurzelrevolution
Münster, 3. März 2015
Die Gedenkfeier für Christian Sigrist am 3. Juni 2015 in Münster (Tonmitschnitt)
Laufzeit: 120:12 min | © by Bernd Drücke, Münster 2015.
Erinnerungen an einen "Empörten". Von Robert Krieg
Im Wintersemester 1972/73 begann ich bei Christian Sigrist Soziologie zu studieren. Er bot ein Seminar mit dem Titel "Aktuelle Probleme der Anthropologie" an. Christian verband Soziologie mit der Ethnologie und den Entwicklungen in der sogenannten 3. Welt einschließlich des politischen Widerstands gegen koloniale Strukturen. Wir waren vom Vietnam-Krieg und den Kämpfen auf der südlichen Erdhalbkugel geprägt. Wir lasen Frantz Fanon und Juan Bosch. Wir hatten eine ungefähre Ahnung von den Auswüchsen der imperialistischen Politik des Nordens, vom militärisch-industriellen Komplex, von den Interessen mächtiger Unternehmen und ihren Verflechtungen mit Politik, Militär und Staat.
Wollten wir die Ursachen für Unterentwicklung besser verstehen lernen, mussten wir mehr über die Entwicklung der Gesellschaftsstrukturen in Afrika, Asien und Lateinamerika erfahren. Nur so konnten wir begreifen, warum sie das Opfer imperialistischer Gewalt wurden.
Unser Arbeitspapier hieß: "Die Bedeutung der Anthropologie für die Theorie der Klassiker des Marxismus". Ich habe es heute noch. Ich weiß die Bewertung nicht mehr, aber es war ordentlich abgefasst und hatte keine sprachlichen oder orthographischen Schnitzer, Kriterien, die Christian durchaus anzulegen wusste und ihm mitunter den Vorwurf bürgerlicher Arroganz einbrachten. Bei Christian habe ich das kritische Studium der Schriften von Marx gelernt und seine Bezüge zur Anthropologie. In seinem Spätwerk stellte Marx sich die Frage, ob der menschliche Fortschritt tatsächlich in erster Linie von der Entwicklung der Produktivkräfte abhängt. Diese scheinbar unumstößliche Doktrin bildete die gemeinsame Grundlage für die beiden um Vorherrschaft ringenden Ideologien des 20. Jahrhunderts. Spätestens im 21. Jahrhundert bekommen vor allem die Länder des Südens ihre verhängnisvollen Konsequenzen zu spüren.
Meine spätere Entscheidung, den Dokumentarfilm zu meinem wichtigsten Berufsfeld zu machen, hat Christian nie gebilligt. Das "Filme machen" ist keine wissenschaftliche Disziplin. Er hat sich nicht ernsthaft mit unseren Filmen auseinander gesetzt, selbst mit den sehr politischen nicht, obwohl sie häufig wie zum Beispiel unsere Trilogie über den Nahost-Konflikt einen direkten Bezug zu Christians Forschungsschwerpunkten hatten. Ich habe es versäumt, Christian zu verdeutlichen, wie sehr mir das Studium der Soziologie beim dokumentarischen Filmemachen geholfen hat.
Den größten Schrecken jagte ich ihm wohl Anfang der 80er Jahre mit einer Schlagzeile in der Münsterschen Zeitung ein: "Hirsebrei statt Soziologie: Ein Akademiker versucht's..." Wenigstens war es nahöstlich, aber leider auch wieder sehr schnell pleite. Der türkische Freund, dem ich durch mein Mitwirken die Konzession verschafft hatte, ein ehemaliger Marineoffizier, der nach dem Putsch linker Offiziere Anfang der 70er Jahre aus der Türkei flüchten musste, war ein fantastischer Koch aber kein Geschäftsmann.
Ansonsten hatten Christian und ich viel Spaß miteinander. Wir haben häufig Tischtennis gespielt und er freute sich wie ein Kind über jedes gewonnene Match. Als wir einmal über die Salzstraße - eine der gutbürgerlichen Einkaufszeilen Münsters - bummelten, übertrafen wir uns gegenseitig in der Vortäuschung von Macken mit Zuckungen im Gesicht und Körperverrenkungen. Wir lachten uns halb kaputt über die Reaktionen der indignierten Damen und Herren. Heute würde ich das weniger spaßig finden. Unsere Sensibilität gegenüber Behinderten tendierte in diesem Augenblick gegen Null, obwohl wir uns zur gleichen Zeit mit Prozessen politischer und sozialer Marginalisierung beschäftigten. Heute steht am anderen Ende der Salzstraße eine Skulptur, die an Paul Wulf erinnert, der als Jugendlicher während der Nazi-Herrschaft zwangssterilisiert wurde und nur knapp seiner Ermordung entgangen ist. Er war uns beiden ein wahrer Freund.
In den 70er Jahren war ich oft mit Christian unterwegs, denn wir hatten gemeinsam mit anderen Münsteraner/innen 1973 eins von dreizehn Komitees gegen Isolationshaft gegründet. Auslöser waren die Haftbedingungen von Astrid Proll und Ulrike Meinhof: Ihre soziale, akustische und visuelle Isolation, die auch als "weiße Folter" bezeichnet wurde, da sie keine körperlichen Spuren hinterließ. Das bedeutete unter anderem: Tägliche Zellenkontrolle und tägliche Leibesvisitation am nackten Körper, 24stündige Beleuchtung der Zelle und viertelstündliche Beobachtung durch das Guckloch. Vor dem Freigang wurden sämtliche benachbarten Zellen geräumt, um jegliche Kontaktaufnahme mit Mitgefangenen zu unterbinden. Das Gleiche geschah beim Duschen.
Die Komitees hatten prominente Unterstützer/innen: die Filmemacher Alexander Kluge, Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta, die Schriftsteller Heinrich Böll und Günter Wallraff, die Theologin Dorothee Sölle, der Philosoph Prof. Ernst Bloch und der Rechtswissenschaftler Prof. Uwe Wesel. Ein derartiges Komitee in der bischöflichen Stadt war für die Münsteraner Pfahl-Bürger unerträglich und für die radikale Linke in Berlin, Hamburg oder Frankfurt nahezu unvorstellbar.
Es gab uns aber. Wir waren beim ersten gemeinsamen Treffen der Komitees in Frankfurt dabei. Auf der Hinfahrt habe ich den Citroen DS 21 von Ute und Christian gefahren. Christian hatte noch keinen Führerschein. Den machte er später auf den Kapverden. Mit großem Vergnügen erzählte er im engeren Freundeskreis die Geschichte seines Führerscheinerwerbs. Er hatte keine Lust, durch die Mühle einer deutschen Fahrschule gedreht zu werden und womöglich bei der Fahrprüfung durchzufallen. Auf den Kapverden hatte nur die Straße zum Flughafen einen Bordstein, an dem Christian das Einparken üben musste und dabei mehrmals eine Hausmauer schrammte. Er freute sich diebisch, als sein Führerschein nach einigen Umwegen von den deutschen Behörden anerkannt wurde. Christian konnte sich mit mir stundenlang über die Vorzüge seines französischen Autos unterhalten. Christian und Autos, für andere wohl eher eine unbekannte Seite von ihm.
Christian war neben dem holländischen Psychiater Sjef Teuns, der über die psychischen Folgen der Isolationshaft sprach, und dem unverwüstlichen IG Metaller und KZ-Überlebenden Heinz Brand einer der drei Haupt-Redner in Frankfurt. Er wies auf die Kontinuitäten zwischen der Nazi-Justiz und der bundesdeutschen Nachkriegsjustiz hin. Diese These, die damals noch große Empörung auslöste, wurde später durch ausführliche Forschung belegt. Er ordnete den Umgang des westdeutschen Staates mit der Roten Armee Fraktion (RAF) ein in eine weltweite, US-geführte Repressionsstrategie gegen die Aufstände in der Peripherie. Die RAF verstand sich als Teil des antikolonialen und antiimperialistischen Kampfs. Dieser Hybris sind viele Menschen zum Opfer gefallen. Auch wenn Christian zum Teil mit der politischen Analyse der RAF übereinstimmte, machte er sich nie zu ihrem Propagandisten. Nicht nur die Konservativen denunzierten ihn als Sympathisanten: Als wir nach der Veranstaltung in Frankfurt nachts im Frankfurter Westend auf der Suche nach einem noch geöffneten "linken Griechen" unterwegs waren, verstellten uns plötzlich Daniel Cohn-Bendit und weitere Anhänger der Gruppe "Revolutionärer Kampf" den Weg. Sie hatten schon während der Veranstaltung die drei Redner heftig wegen ihrer angeblichen Parteinahme für die RAF angegriffen. Nach einem kurzen Wortgefecht ließen sie uns weiterziehen.
Christian sah die Menschenwürde der Gefangenen bedroht, auf die jeder Mensch ein Anrecht hat. Das trieb ihn, der einen jüdischen Großvater hatte, an. Christian war ein profunder Analytiker und im besten Sinn ein Empörter, ein "Indignado". Bei ihm habe ich politisches Engagement gelernt.
Das hat gekostet. Offene Observation, Telefonüberwachung. Wenn ich mit dem Fahrrad zu ihm nach Hause fuhr - ich wohnte damals in der Kronenburg, einem linken Stadtteilprojekt - verfolgte mich in kurzem Abstand ein Streifenwagen. Christian und Ute waren überzeugt, dass ihr Haus komplett verwanzt war. Es gab auch einige Anzeichen dafür. Deshalb zogen wir es vor, unsere Gespräche draußen am nahe gelegenen Dortmund-Ems-Kanal zu führen. Als Walter Mossmann, den wir zu einem Konzert in die Kronenburg eingeladen hatten, gemeinsam mit mir seinen Freund aus Freiburger Tagen besuchte, traute er seinen Augen nicht, als uns ein ungetarnter Polizeiwagen sogar bei unserem Spaziergang am Kanal begleitete.
Ich hatte Alpträume. Ich habe keine Ahnung, ob auch Christian darunter litt. Darüber haben wir nie gesprochen. Nach der Ermordung von Generalbundesanwalt Buback stand ohne Vorankündigung frühmorgens die Polizei in seinem Schlafzimmer. Christian hatte am Telefon häufig die Insel Bubaque im Zusammenhang mit seinem entwicklungs-soziologischen Projekt in Guinea Bissau erwähnt. Ich erhielt eines Tages eine Vorladung ins Polizeipräsidium, da man mich der Teilnahme an der Entführung von Peter Lorenz, einem Berliner CDU-Abgeordneten und Kandidaten für das Bürgermeisteramt, verdächtigte.
Bis zur Todesnacht in Stammheim engagierte sich Christian für die Rechte der politischen Gefangenen und ab 1975 im Internationalen Komitee zur Verteidigung politischer Gefangener in Westeuropa" auch international. Er reiste damals viel und hatte Auftritte u.a. in Mailand und Paris. Doch bereits ab 1975 verloren die dreizehn Komitees gegen Isolationshaft immer mehr ihre gemeinsame Basis. Das Kölner Komitee, das Christiane Ensslin, eine Schwester von Gudrun Ensslin, gemeinsam mit Günter Wallraff, Dorothee Sölle und Heinrich Böll gegründet hatte, wurde wegen der unmissverständlichen Distanzierung von dem Terror der RAF aus dem Kreis der Komitees herausgeworfen, und auch wir Münsteraner wollten uns nicht zum Propagandainstrument der RAF machen lassen. Wir stellten unsere Tätigkeit ein. Andere Komitees verkamen zum Rekrutierungsbüro für die 2. und 3. Generation der RAF.
Sein politisches Engagement hat Christian um ein Haar seine Professur gekostet. Am 18. Juni 1974 starb der Arbeiter und Gewerkschafter Günter Routhier an den Folgen einer Gehirnblutung, die er sich am 5. Juni durch einen Treppensturz während eines Polizeieinsatzes in einem Gericht zugezogen hatte. Günter Routhiers Sohn war Zeuge: ein Polizist hatte seinem Vater am oberen Treppenabsatz einen Schlag in den Rücken versetzt. Der Sohn schrie, sein Vater sei Bluter. Dessen ungeachtet brachten ihn die Polizisten im Mannschaftswagen auf dem Boden liegend zur Wache. Obwohl er bereits bewusstlos war, erhielt er keine medizinische Versorgung und wurde in eine Zelle gesteckt.
Günther Routhiers Tod löste eine große Welle der Empörung aus. In zahlreichen Reden und Veröffentlichungen war von Polizeimord die Rede. Polizei und Justiz reagierten mit etwa eintausend Strafverfahren wegen "Verunglimpfung des Staates". Christian nahm an einem dieser Prozesse teil und verteilte ein Flugblatt, in dem er den Tod von Günther Routhier als Polizeimord bezeichnete. Er wurde dafür 1978 verurteilt. Die Universität leitete ein Disziplinarverfahren ein. 1981 begann ein von Christian angestrengtes Berufungsverfahren. Endlich wurde durch die Aussagen eines Gutachters und des Sohns die Beteiligung der Polizisten am Tod Routhiers festgestellt. Das hinderte das Gericht nicht daran, Christian erneut wegen Verunglimpfung des Staates zu verurteilen. Allerdings konnte das Berufsverbot abgewendet werden. In den 70ern gab es häufiger Anlass in der BRD, von Mord durch die Polizei oder den Staat zu sprechen. Erich Fried hatte die Erschießung des Studenten Georg von Rauch als "Vorbeugemord" gebrandmarkt. Im Prozess bezeichnete Heinrich Böll als Sachverständiger den Ausdruck als angemessen für einen kritischen Schriftsteller. Fried wurde frei gesprochen.
Obwohl die Schnittmenge unserer politischen Aktivitäten ab den 80ern kontinuierlich abnahm, hielten wir Kontakt und tauschten uns regelmäßig aus. Als ich mit Freunden ein Grundstück bei Münster am Dortmund-Ems-Kanal pachtete, kam Christian häufig zu Besuch. Er wollte seine praktischen Erkenntnisse aus Afrika anwenden und mit uns einen experimentellen Nutzgarten anlegen. Daraus wurde letztendlich dann doch nichts. Wir bauten unser Gemüse ohne seine Beratung an.
Und wie so oft gab es Erbauliches: Christian war zu einem Vortrag in Rom eingeladen. Ich war zu der Zeit auch in der Nähe Roms, und wir verabredeten uns im berühmtesten Eissalon im Zentrum ganz in der Nähe des Pantheons. Christian trug einen eleganten weißen Sommeranzug und hätte in dieser Aufmachung ohne weiteres in einem Fellini-Film mitspielen können. Meine Haare waren noch blond und etwas länger. Christian beobachtete die Passanten und stieß mir plötzlich seinen Ellenbogen in die Rippen. "Die halten uns für ein schwules Pärchen!" Darüber konnte er sich ausschütten vor Lachen.
In den letzten Jahren wechselte monatelanges Schweigen mit Phasen ausufernder Telefongespräche ab. Christian monologisierte und setzte vieles voraus, das ich nicht wissen konnte. Ich unterbrach ihn nur selten und ließ ihn einfach reden. Das bedaure ich heute. Durch unseren langjährigen Kampf für die Anerkennung der Lebensleistung von Paul Wulf kam dann doch noch einmal zusammen, was zusammengehörte: Die gemeinsame Verteidigung des Rechts auf Menschenwürde. Christian hielt 2010 eine sehr persönliche Rede bei der Wieder-Einweihung der Paul-Wulf-Skulptur. Im Anschluss standen wir mit Bernd Drücke zusammen und Christian sagte plötzlich etwas, das ich nicht vergessen werde: Er freue sich darüber, dass wir seine Studenten gewesen sind.
Dr. Robert Krieg, Filmemacher und Autor
Freiheit in der Wissenschaft. Von Klaus Kraemer
Schriftliche Fassung der Rede anlässlich der Gedenkveranstaltung für Professor Christian Sigrist (1935 - 2015), "Die Brücke", Internationales Zentrum der Universität Münster, 15.6.2015
Ich möchte mit einem persönlichen Bekenntnis beginnen. Ich habe keine einzige Lehrveranstaltung von Christian Sigrist am Institut für Soziologie der Universität Münster besucht. Dies war nicht unbedingt beabsichtigt, wohl aber das Ergebnis einer Abfolge von flüchtigen Eindrücken, die ich als Student der Soziologie am Münsteraner Institut in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre gewonnen hatte.
Afrika und Guiné-Bissau lagen mir fern, ebenso die Agrarsoziologie oder erst recht die Paschtunen und die Stammesgesellschaften in Afghanistan mitsamt ihrem Ehren- und Rechtskodex. Durkheim erschien mir - damals im Studium - zwar nicht belanglos, aber kaum weiterführend, um Antworten auf meine Fragen an die Soziologie zu finden. Und was mir von anderen Studierenden zu Ohren kam, aus den Seminaren von Christian Sigrist, weckte bei mir keine besondere Neugierde. Natürlich war mir nicht der unkonventionelle Stil seiner Lehre entgangen. Erst recht nicht die herrschaftskritische Haltung eines Universitätslehrers, der zudem keine echte Gelegenheit ausließ, gegen das Establishment in Universität, Staat und Stadt zu opponieren.
Das war mir schon sympathisch. Aber in dem Maße, wie ich mich mit der Soziologie auseinandersetzte, kam ich doch immer mehr zu der Auffassung: Wenn man sich auf die Soziologie einlässt, vor allem auf eine Soziologie, die keine Scheu hat, Mehrheitserwartungen zu enttäuschen, und nicht davor zurückschreckt, die Gesellschaft, in der wir leben, ungeschminkt zu beschreiben, gerade auch abseits von populären Deutungen, dann sollte man doch, so meine damalige feste Überzeugung als Student der Soziologie, den Kontakt zur Außenwelt, zur Mehrheitsgesellschaft, ein klein wenig mehr pflegen.
Den ersten persönlichen Kontakt zu Christian Sigrist knüpfte ich 1990, sechs Jahre nach Beginn meines Studiums am Institut für Soziologie. Ich hatte gerade die Stelle einer "wissenschaftlichen Hilfskraft" im "Projektbüro" des IfS angetreten. Professor Sigrist lud mich zu einem gemeinsamen Mittagessen ins "Mövenpick" ein. Auf dem anschließenden, sehr ausgedehnten Spaziergang am Aasee, den ich partout nicht ablehnen konnte, sprachen wir lebhaft über drei Themen, die ich im Verlauf des Studiums am IfS, so kam es mir damals vor, vermisst hatte: eine gründliche Auseinandersetzung mit der Herrschaftssoziologie, eine kluge, kenntnisreiche Luhmann-Kritik und die rituelle Dimension des Sozialen. Vor allem Sigrists beharrliches Insistieren darauf, welche große Bedeutung dem Ritus für Prozesse der "Selbstorganisation" sozialer Gruppen, Organisationen oder Systeme zukomme, hatte es mir irgendwie angetan; übrigens ein soziologisches Thema, das nicht nur am Münsteraner IfS noch bis weit in die 1990er Jahre unterschätzt worden ist. Diese erste persönliche Begegnung nahm ich sodann zum Anlass, seine Dissertation "Regulierte Anarchie. Untersuchungen zum Fehlen und zur Entstehung politischer Herrschaft in segmentären Gesellschaften Afrikas" (1994) von 1969 gründlich zu lesen.
Im Gegensatz zu manch anderen Zeitgenossen innerhalb und außerhalb der Universität hatte mich sein eigenwilliger Umgang mit allerlei Alltagserwartungen nicht verschreckt, sondern im Hinblick darauf neugierig gemacht, was einen Universitätslehrer dazu bewegt, so und nicht anders zu agieren. Beeindruckt hatte mich allerdings auch etwas anderes, nämlich die Selbstverständlichkeit, mit der Christian Sigrist zwischen seiner politisch scharfen Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen und einer soziologischen Analyse genau zu unterscheiden wusste. Seit meiner Zeit im "Projektbüro" des IfS riss wohl auch deswegen der gemeinsame Gedankenaustausch nie ab. In den Jahren nach seiner Emeritierung trafen wir uns gelegentlich. In den letzten Jahren besuchte ich Christian zuhause immer dann, wenn ich in Münster war. Im Sommer und zum Jahreswechsel wurde das zu einer schönen Regelmäßigkeit.
Immer schon hatte ich allerlei Geschichten über staatliche Bespitzelung gehört, die Christian Sigrist und seine Frau Ute am eigenen Leib erlebten mussten. In den späten 1980er und frühen 1990er Jahren dachte ich mir: Du weißt nicht, was wirklich geschehen ist. Und in was er sich hinein steigerte. Diese Grundskepsis wich mit der Zeit. Von meinen anfänglichen Bedenken, was tatsächlich geschehen ist, an staatlicher Bespitzelung, ist im Laufe der Jahre wenig bis nichts übriggeblieben.
Im letzten Sommer fragte ich Sigrist, ob ihn die Enthüllungen von Edward Snowden überrascht hätten. Seine Antwort war eindeutig. Und sie war bemerkenswert. Sinngemäß sagte er: Das hat mich überrascht! In diesen Ausmaßen habe ich mir das nicht vorstellen können!
Es ist wohl kein Geheimnis, wenn ich sage, dass die Unbedingtheit seiner Argumente - und seiner Auftritte - schon anstrengend war. Vor allem seine fordernden Auftritte waren gewöhnungsbedürftig. Christian Sigrist war kein einfacher Diskutant. Für kritische Einwände blieb oftmals wenig Zeit. Auch wenn es viele gute Gründe gab, über "Autorität" und "Herrschaft" - fürwahr Schlüsselbegriffe der Soziologie - gründlich zu diskutieren, vor allem auch über sein Lebensthema, die Herrschaftslosigkeit oder Akephalie.
Als ich am Münsteraner Institut für Soziologie eine Professur vertrat, 2008 und 2009 war das, habe ich dieses im Rahmen meiner Vorlesung zur "Herrschaftssoziologie von Max Weber bis zur Gegenwart" nachgeholt. In der Rückschau kommt mir diese Vorlesung so vor, als ob ich dort die Potentiale und Probleme einer Soziologie der Herrschaft besprochen habe, was mir mit Christian Sigrist irgendwie nicht so recht gelingen wollte. Vielleicht war er dort in der Vorlesung auch ein kleinwenig der anwesende Abwesende. Ganz anders - und äußerst fruchtbar - verliefen unsere gemeinsamen Gespräche über den Zustand der Soziologie in Deutschland, über Webers Pariabegriff und die Bedeutung für die heutige Prekarisierungsforschung.
Christian Sigrist war ein Außenseiter an der Universität, im Wissenschaftssystem und auch im Fach der Soziologie. Unbequem war er allemal, provozierend sowieso. Mit der für ihn so typischen Kultivierung des Außenseitertums brachte Christian Sigrist allerdings die allerbesten Voraussetzungen mit, um als Soziologe die Gesellschaft und ihre Zeit, in der wir leben, zu beobachten und zu kommentieren. Ich möchte hierzu drei allgemeine Anmerkungen machen:
1. Max Weber über Außenseitertum in der Wissenschaft
Max Weber fragt in dem berühmten Aufsatz "Der Sinn der ´Wertfreiheit´ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften" von 1917 (1988, 496), ob "die Universität eine staatliche Anstalt für die Vorbildung ´staatstreu´ gesonnener Beamter" sein solle. Weber beantwortet die selbst gestellte Frage am Beispiel der Rechtswissenschaften: "Der Anarchist kann sicherlich ein guter Rechtskundiger sein. Und ist er das, dann kann gerade jener sozusagen archimedische Punkt außerhalb der uns so selbstverständlichen Konventionen und Voraussetzungen, auf den ihn seine objektive Ueberzeugung - wenn sie echt ist - stellt, ihn befähigen, in den Grundanschauungen der üblichen Rechtslehre eine Problematik zu erkennen, die allen denjenigen entgeht, welchen jene allzu selbstverständlich sind." Weber legt in dieser Passage dar, dass gerade der politische Außenseiter, sofern er sich jedenfalls strikt an den guten Regeln der wissenschaftlichen Erkenntnis orientiert, besonders befähigt ist, Rechtsprobleme zu erkennen, die anderen Rechtskundigen entgehen, insofern ihnen die vorherrschenden sozialen Konventionen oder Erwartungen "allzu selbstverständlich sind". Hieraus folgert Weber: "Der radikalste Zweifel ist der Vater der Erkenntnis."
Außenseitertum kann - wie wir alle wissen, auch wenn es nicht viele aussprechen -für die Karriere im Wissenschaftssystem abträglich sein. Außenseitertum kann gleichwohl von Vorteil sein; jedenfalls solange die eigenen Wertannahmen kontrolliert und die methodischen Werkzeuge der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplin beachtet werden. Gerade als Soziologe kann man soziale Strukturen und Musterbildungen beobachtbar machen, die mit der vorherrschenden Weltsicht nicht so recht vereinbar sind. Dann kann man vor allem auch das beobachten, was man in der Mitte der Gesellschaft - und ich möchte hinzufügen: in der sozialen Mitte des Wissenschaftssystems - nicht sehen will, nicht sehen darf, nicht sehen kann.
Wenn man die soziale Welt nur aus ihrer Mitte heraus beobachtet, sieht man kaum mehr als das, was den durchschnittlichen Erwartungen der Mitte entspricht. Dann sieht man die soziale Welt nur aus der Brille der Wertideen, die in der Mitte populär sind. Wenn man den Erwartungen der Mitte folgt, bleibt die soziologische Forschung oftmals überraschungsfrei. Der Außenseiter kann hingegen die blinden Flecke sichtbar machen, von denen man ansonsten keine rechte Vorstellung hat, wenn man nur mit der Brille der Mitte die soziale Welt betrachtet. Der ethnologisch geschulte und historisch ungewöhnlich breit gebildete Sozialforscher Christian Sigrist hat genau dieses gemacht.
2. Die westdeutsche Soziologie und die Gesinnungsprüfung
Anfang des Jahres verstarb Ulrich Beck. In einer Würdigung hat kürzlich Peter A. Berger (2015) in der "Soziologie", der Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, einen Einblick gewährt, wie weit die Gesinnungsüberprüfung von Soziologen an staatlichen Universitäten in Westdeutschland reichte. Berger legt offen, dass die Leitung der Universität Bamberg 1981 dem neuen Lehrstuhlinhaber für Soziologie, es war kein geringerer als Ulrich Beck, zunächst verweigerte, den vorgesehenen Kandidaten für eine Assistentenstelle einzustellen. Dieser Kandidat war Berger selbst. Berger - seit vielen Jahren renommierter Inhaber eines Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie und Makrosoziologie an der Universität Rostock - berichtet in der "Soziologie", dass die Bamberger Universitätsleitung Beck damals mitgeteilt habe, es würde ein Bericht des Verfassungsschutzes über den Kandidaten vorliegen. In diesem seien detailliert die mutmaßlichen "linksradialen Aktivitäten" des Kandidaten aufgelistet. Der Verfassungsschutz habe die Bamberger Soziologieseminare besucht und die Wortmeldungen des Kandidaten im Einzelnen protokolliert. Die Sache ging gut aus. Die Anschuldigungen erwiesen sich als haltlos und der Kandidat konnte eingestellt werden. Aus heutiger Sicht irritieren solche Berichte. Sie rücken einiges gerade, auch so manche Illusionen über die alte Bundesrepublik. In einem anderen Licht erscheint dann auch so manche Begebenheit, von der Christian Sigrist berichtete.
Dieses Kapitel der Geschichte der Soziologie in Deutschland ist bis heute nicht aufgearbeitet. Unerforscht sind die Folgen des sogenannten Radikalenerlasses von 1972. Unerforscht sind die Folgen auf die Berufsfreiheit von Soziologinnen und Soziologen an staatlichen Universitäten in Westdeutschland. Unerforscht sind die Langzeitfolgen auch für das Fach. Man muss das einmal mit der heutigen Zeit vergleichen. Damals wurde an den Hochschulen die Gesinnung überprüft. Heutzutage, in Zeiten von New Public Management, wird nicht mehr die "Gesinnung" überprüft, sondern der "Impact-Faktor" und die "Effizienz". Die Gesinnungsprüfung ist durch die "Leistungsprüfung" ersetzt.
3. Der Soziologe als Spielverderber
In den kürzlich publizierten Vorlesungen Pierre Bourdieus am Collège de France "Über den Staat" aus den Jahren 1989 bis 1992 wirft dieser die Frage nach der ganz besonderen Rolle des Soziologen in Wissenschaft, Staat und Gesellschaft auf. Bourdieu argumentiert, dass der Soziologe "ein wenig außerhalb des Spiels" (alle Zitate 2014, 108ff.) stehe. Der Soziologe sei "nicht der Weise aus den Kommissionen der Weisen." Der Soziologe erhalte von staatlichen Kommissionen kein "ausdrückliches Mandat". Der Soziologe sei - qua professioneller Kompetenz - "selbst ermächtigt, Dinge zu sagen", die andere nicht aussprechen, vielleicht sogar verschweigen oder nicht denken wollen. Der Soziologe, so führt Bourdieu weiter aus, "spielt nicht den Weisen, er sagt, was diejenigen tun, die den Weisen spielen". Die soziale Welt "verlangt" von den sozialen Akteuren, "daß man sich mit dem Offiziellen ins Benehmen setzt, indem man dieser Welt jene grundlegende Anerkennung des Offiziellen zugesteht, die darin liegt, die Form zu wahren, sich zu benehmen, das heißt, die Dinge nicht roh auszusprechen, sondern sie in eine poetische Form zu bringen und sie - im Gegensatz zu einer barbarischen Kakophonie oder Blasphemie - auf euphemistische Weise auszudrücken". Der Soziologe könne, so Bourdieu, derartige Erwartungen nicht erfüllen. Der Soziologe spreche vielmehr die offiziellen, aber unausgesprochenen "Spielregeln" aus; oder er sollte zumindest dieses tun. Deswegen werde der Soziologe in Staat und Gesellschaft oft auch als "Spielverderber" wahrgenommen. Christian Sigrist war ein Spielverderber in diesem guten soziologischen Sinne. Ohne Spielverderber wäre unser Fach, die Soziologie, ziemlich belanglos, ziemlich langweilig und allzu berechenbar.
Ich danke für die Aufmerksamkeit!
Klaus Kraemer,
Universitätsprofessor am Institut für Soziologie der Universität Graz
Literaturhinweise:
- Berger, P.A. (2015), Ein Leben für die Soziologie. In memoriam Ulrich Beck (15. Mai 1944 - 1. Januar 2015). In: Soziologie. Forum der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, 241-249.
- Bourdieu, P. (2014), Über den Staat. Vorlesungen am Collège de France 1989 - 1992, Frankfurt/M.
- Sigrist, C. (1994) [1967], Regulierte Anarchie. Untersuchungen zum Fehlen und zur Entstehung politischer Herrschaft in segmentären Gesellschaften Afrikas, 3. Auflage, Hamburg.
- Weber, M. (1988) [1922], Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 7. Aufl., Tübingen.
Meine beiden letzten Jahre mit Familie Sigrist. Von Nahid Shafiei
Ich möchte mich beim heutigen Gedenken an Christian noch einmal bei ihm und Ute für all das bedanken, was sie mir und meinem Mann Ahmad bedeutet haben. Beide sind in den letzten zwei Jahren Teil unserer Familie in Deutschland geworden. Wir hatten sie über alle Maßen lieb gewonnen. Ihr Tod hat uns tief traurig gemacht. Doch die Kraft, die sie uns im Leben gaben, wird dauern. Wir werden Ute und Christian weiterhin auf unserer Lebensreise in unseren Herzen mitnehmen.
Ich lernte Ute und Christian erstmalig im Jahr 2008 kennen, als ich mich bei Christian um eine Doktorarbeit über die neue Seidenstraße bemühte. Zuerst war meine Beziehung zu Christian ähnlich, wie sie es auch in einem iranischen Universitätsinstitut gewesen wäre: Nämlich die eines Wissenschaftlers und Professors gegenüber seiner Doktorandin, die sachliche Anleitung und Beratung in der Ausarbeitung einer Forschungsarbeit benötigt. Dieser sachliche Umgang änderte sich schlagartig, als Ute vor mehr als zwei Jahren schwer erkrankte. Von diesem Zeitpunkt an begann ich, Ute und Christian in ihren täglichen Sorgen beizustehen.
Ohne dass es mir anfangs bewusst wurde, bekam meine Bekanntschaft mit den beiden den Charakter einer immer enger werdenden Freundschaft, in die auch mein Mann eingebunden wurde. Es war, als ob wir vier eine Familie geworden seien. Ich hatte den Schlüssel zu dem Haus im Vahlbusch und konnte beide besuchen, ohne mich anzumelden. Als Ute wusste, dass sie sterben würde, bat sie mich, Christian nach ihrem Tod nicht allein zu lassen. Christian hatte sich sein Leben lang auf die selbstlose und liebende Unterstützung von Ute verlassen. Er konnte sich ein Leben ohne sie kaum vorstellen. So kam es, dass ich nach Utes Tod neben dem herausragenden Wissenschaftler Christian auch den Menschen Christian in all seinen Schwächen und Stärken kennenlernte. Mir und meinem Mann vertraute er sich vollends an. Das ging so weit, dass er selbst die Klinik verlassen wollte, um in unserer Gemeinschaft seine letzten Stunden verbringen zu können. Das Pflichtgefühl, das Christian seinen Studenten und Doktoranden gegenüber hatte, verließ ihn auch in seinen letzten Stunden nicht. Er entschuldigte sich bei mir, dass er mir nicht länger beistehen könnte, um meine Doktorarbeit zum guten Ende zu bringen. Meine liebe Ute, mein lieber Christian, Ahmad und ich wissen, dass Ihr in dieser Gedenkstunde bei uns zugegen seid, wie ihr es immer unermüdlich getan habt im Leben, um uns auf unserem Weg zu stärken. Ute und Christian, seid gewiss, dass wir Euch immer lieben werden.
(Redebeitrag von Nahid Shafiei auf der Christian Sigrist-Gedenkveranstaltung am 15. Juni 2015 in Münster)
Christian Sigrist. Von Moema und Johannes Augel
Wir trauern um Christian Sigrist. Die Amílcar Cabral-Gesellschaft verliert mit Christian, wie schon vor etwas mehr als einem Jahr mit Ute Sigrist, zwei ihrer Gründungsmitglieder. Beiden sind wir dankbar für die Initiative zur Gründung der ACG und für kritische Begleitung seit ihren Anfängen 1975.
Christian konnte hartnäckig sein. Bei den in den Mitgliederversammlungen sporadisch auftauchenden Diskussionen um die Auflösung des Vereins widersetzte er sich vehement solchen Vorschlägen. Als Idealist, der er war, glaubte er trotz entgegenstehender Evidenz an die Überzeugungen des antikolonialen Befreiungskampfs, die uns allen vor vierzig Jahren leichter über die Lippen gingen als heute. Ohne Christian Sigrist und seinen beharrlichen Glauben an eine bessere Zukunft für Guinea-Bissau und Kap Verde gäbe es die Amílcar Cabral-Gesellschaft wahrscheinlich seit vielen Jahren nicht mehr.
Christian Sigrist hatte anfangs an eine enge politische Zusammenarbeit zwischen ACG und der Einheitspartei PAIGC gedacht. Das war wohl von vornherein zu optimistisch. Als es 1981 zur Krise, zum Putsch und zur Machtübernahme von Nino Vieira kam, waren viele Mitglieder des Vereins überzeugt, dass sich die Zielsetzungen der Amílcar Cabral-Gesellschaft nicht mehr angemessen verfolgen ließen. Christian und Ute haben sich damals ein wenig von der aktiven Teilnahme zurückgezogen. Vielleicht waren sie desillusioniert. Die Ereignisse in Guinea-Bissau unter der autokratischen Herrschaft von Nino Vieira und die nachfolgenden Wirren boten kein Klima mehr für politisches Engagement. Strategisch sah Christian die augenblickliche Ausrichtung der ACG auf Guinea-Bissau als nicht besonders sinnvoll an, da Kap Verde potenziell mehr Menschen interessiert.
Im vergangenen Jahr zeigte sich Christian Sigrist sehr erfreut über eine Reihe neuer Aktivitäten der ACG in Guinea-Bissau. Obwohl er - auch aus gesundheitlichen Gründen - nicht aktiv teilnahm, war es ihm wichtig, sich über laufende Projekte zu informieren; der Verein lag ihm offensichtlich sehr am Herzen. Er regte an, anlässlich des vierzigjährigen Bestehens der ACG die Jahresversammlung 2015 mit einer wissenschaftlichen Tagung zu verbinden; er wollte einen Vortrag zur Geschichte der Amílcar Cabral-Gesellschaft halten und sich auch finanziell engagieren. Seine Zeit in Kap Verde scheint ihn besonders geprägt zu haben. In den Gesprächen mit Christian zeigte sich deutlich, wie sehr ihn der Tod seiner geliebten Frau Ute erschüttert hatte.
In Nummer 288 der Zeitschrift "Das Argument" veröffentlichte Christian Sigrist 2010 einen Aufsatz über Amílcar Cabral. Er hat mit uns telefonisch Stunden lang seine Einschätzungen zu diesem Pionier der Befreiungsbewegungen ausgetauscht. In diesem Beitrag zeigt sich deutlich, weshalb nach Cabrals Tod und angesichts der zunehmend autokratischen Herrschaft in Guinea-Bissau auch Sigrist seine Hoffnungen und sein konkretes Engagement auf Cabo Verde richtete.
Wir danken Christian und Ute Sigrist für ihre wissenschaftlichen und menschlichen Verdienste. Wir schließen in diesem Dank auch die Grüße von Freunden aus Guinea-Bissau ein. Wir teilen die Trauer ihrer Familie und der großen Zahl der Freunde und Weggefährten. Mehr als die Trauer um den Verlust ist es aber die Dankbarkeit, Christian und Ute gekannt zu haben; es sind ihre Visionen und ihr Engagement, die die Amílcar Cabral-Gesellschaft und auch uns persönlich beeinflusst und geprägt haben.
Vielen Dank!
Im Namen der Amílcar Cabral-Gesellschaft
Moema und Johannes Augel,
Bielefeld im Juni 2015
Nachruf auf einen ungebeugten Denker. Ein Blog-Beitrag von Freitag-Community-Mitglied Costa Esmeralda
Christian Sigrist Christian Sigrist, em. Prof. Dr. der Soziologie und Ethnologie in Münster, geb. 25. März 1935, gest. 14. Febr. 2014
Vorbemerkung: Christian Sigrist war ein bekannter Soziologe in Münster ("Regulierte Anarchie") und seit der 68er Revolte bis zu seinem Tod u.a. unermüdlicher Streiter gegen Staatswillkür (siehe auch wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Christian_Sigrist )
Er verstarb am 14. Februar in Münster. Ich war einer seiner Schüler und habe ihm meinen Lebensweg in der "Dritten Welt" zum großen Teil zu verdanken. Zum Gedenken an Christian habe ich den folgenden Nachruf verfasst.
Mein lieber Christian,
die Nachricht über Deinen Tod hat mich tief erschüttert wie ein Jahr zuvor die Nachricht über Utes Tod. Jetzt seid Ihr beide, Du und Ute, scheinbar fern von mir und allen, die Euch liebten, die Euch schätzten, deren Leben Ihr reich gemacht habt.
Doch Christian, Du wirst nie fern von mir sein. Ich werde Dich ebenso wie Ute weiterhin in meinem Herzen tragen, solange mein Weg auf dieser Erde fortdauert.
Hier sei in Dankbarkeit das zusammengefasst, was Du mir mitgegeben hast auf meinem Weg in die Welt, seit ich Dich 1973 kennenlernte.
Nach Beendigung meines Ökonomiestudiums 1972 in Heidelberg schrieb ich mich zuerst in Heidelberg, dann in Münster im Fach Soziologie ein. Die 68er Studentenbewegung hatte mich bereits mit zwei gesellschaftlichen Strömungen dieser Zeit bekannt gemacht, dem Anarchismus und den revolutionären Befreiungsbewegungen in der Peripherie, die meinen beruflichen Werdegang bestimmen sollten. Du hieltest damals Gastseminare am Soziologischen Institut in Heidelberg ab und wir fielen uns weltanschaulich sozusagen in offene Arme. Du hattest fortan als verständnisvoller Lehrer und als lieber Freund einen bestimmenden Einfluss auf mein weiteres Leben.
Christian, durch Dein eigenes unerschütterliches Eintreten gegen menschenverachtende Staatsgewalt, gegen Ungerechtigkeiten, die elementare Menschenrechte missachteten, gabst Du nicht nur mir den Mut, den "Aufrechten Gang" in einer kapitalistischen, und bis 1990 auch sozialistischen Welt zu verfolgen, ohne Angst vor Ausgrenzungen zu haben, die in meinem Fall nicht nur materieller Natur waren. Du lebtest mir, Deinen Schülern und Deinen Freunden einen solidarischen, humanen Anarchismus vor, der zur Heimat wurde. Immer, wenn ich die Gelegenheit hatte, bei Dir und Ute in Münster zu sein, wart Ihr beide mein drittes deutsches Zuhause neben meinem eigenen Elternhaus und meinen Freunden aus der Heidelberger Wohngemeinschaft.
Der Anarchismus, in libertärer, humanistischer Ausprägung, in Anlehnung an das weltanschauliche Erbe der Aufklärung aber auch an die christliche Nächstenliebe, war bereits Grundlage meiner Lebensauffassung, als wir uns erstmals im Heidelberger Institut für Soziologie trafen. Die politischen Ansichten der dogmatischen, hierarchisch strukturierten K-Gruppen und der RAF auf der einen Seite sowie die der bürgerlichen Parteien auf der anderen Seite hatte ich für mich persönlich seit Beginn der 70er Jahre ein für alle Mal ad acta gelegt. Du brachtest mich dazu, Anarchismus nicht nur als theoretisches Konzept zu verstehen, sondern Anarchismus in meiner eigenen Lebenswirklichkeit zu versuchen, als Weltanschauung und gleichzeitig Anleitung zum praktischen Handeln unter dem Leitwort: "Freiheit von Herrschaft, gleich welcher Art, durch nimmermüden Widerstand und revolutionäre Praxis".
Das Jahrzehnt von 1965 bis 1975 war für uns das Jahrzehnt der Befreiungskämpfe überall auf der Welt. Angestoßen durch revolutionäre Befreiungsbewegungen auf Kuba, in Vietnam, in Palästina, in den damaligen Kolonien Portugals und Spaniens sowie in Lateinamerika insgesamt begann durch Dich initiiert meine individuelle Suche nach dem "Ganzen Menschen", nach Gesellschaftssystemen mit dem größtmöglichen Freiheitsgrad für seine Mitglieder. Deine theoretischen Untersuchungen zu "Gesellschaften ohne Staat" und Überlegungen und Beurteilung von Befreiungsbewegungen, die die Aufhebung von Herrschaft von Menschen über Menschen proklamierten, führten u.a. zur Gründung der "Amilcar Cabral Gesellschaft" und der praktischen Solidarität mit der guineisch-kapverdischen Befreiungsbewegung und Regierungspartei, ab 1974, der PAIGC.
Im Oktober 1976 hast Du mir die Arbeit im Planungsministerium des jungen, unabhängigen Staates Guinea Bissau vermittelt, wo ich begierig war herauszufinden, was es mit Gesellschaften ohne Staat und dem Aufbau eines Staates auf sich hat, der während der Phase des Befreiungskampfes die bis dahin vom portugiesischen Kolonialismus unterjochten Völker mit dem Slogan der Abschaffung von Herrschaft im gemeinsamen Befreiungskampf einigen konnte. Dieser Einstieg in praktisches, gegen Herrschaft gerichtetes Handeln, hat seitdem mein Leben und Arbeiten bestimmt. Jedes Projekt, jede Regierungsberatung von mir in Afrika, Lateinamerika und Balkan war daraufhin ausgerichtet, gesellschaftlich ausgegrenzten Menschen Mut und Anleitung zum Widerstand zu geben, um sich, wenn auch oft nur in begrenztem Masse, Freiheit und ein friedliches, antihierarchisches, auf Solidarität bauendes Leben zu erstreiten. In diesem Sinne waren wir beide Anarchisten, Du primär auf die Theorie ausgerichtet, ich dagegen suchte und fand zunehmend Lehren in der Praxis. Du wusstest davon, dass ich vorhatte, nach fast 40 im Ausland verbrachten Jahren, in Deutschland ein oder zwei Projekte zu versuchen. Denn die Zukunft unserer gemeinsamen Heimat Deutschland sieht verdammt wolkenverhangen aus. Du fragtest mich um Weihnachten herum, wie weit meine Absichten in Deutschland gediehen seien. Ich hatte mich darauf gefreut, Dich bei meinem nächsten Deutschlandbesuch in Münster zu besuchen und Dich in die Diskussion um mögliche praktische Aktivitäten einzubinden, um mit Dir gemeinsam den nimmermüden Weg gegen Herrschaft und Entfremdung weiter zu gehen, solange uns das Geschenk des Lebens das erlaubt.
Leider ist uns dieser gemeinsame Erdenweg nicht länger erlaubt. Aber ich werde Dich wie auch Ute weiterhin in Gedanken, Zwiesprache und Ermutigung an meiner Seite wissen.
Mein lieber Christian, sei herzlich von mir umarmt und grüße mir ganz lieb "Frau Ute", wie wir stets respektvoll sagten.
Dein Hermann
(Panama, Costa Esmeralda, 23. Februar 2015)
Schneller denken. Erinnerungen an Christian Sigrist. Von Ralf Syring
"Griechischer Professor lehrt in Deutschland Faschismus, verfolgt wird ein anderer" - so schrieb nach einem Artikel in der "Zeit" vom 11. März 1977 eine griechische Zeitung. Der andere war Christian Sigrist. Damals hatte das Wissenschaftsministerium von Nordrhein-Westfalen - Wissenschaftsminister war Johannes Rau - ein Disziplinarverfahren gegen Christian eingeleitet wegen seiner Gutachten für Studentinnen und Studenten der Ruhr-Universität Bochum und ihre Aktionen gegen den Soziologie-Professor Johannes Papalekas, der sich als Anhänger der griechischen Militärjunta zu erkennen gegeben hatte. Ich weiß nicht mehr sicher, ob es im Zusammenhang der Aktionen gegen Papalekas war oder aus einem anderen Anlaß, daß Christian zu einem Vortrag in der Evangelischen Studenten-Gemeinde in Bochum war. Die ESG Bochum war weithin bekannt als aktiver Teil der Studentenbewegung und ihrer Folgen, auch ESG/ML genannt, was je nach politischer Opportunität mit "Martin Luther" oder "marxistisch-leninistisch" ausgeschrieben werden konnte. Christian dozierte in seiner bekannt schnellen, etwas hastig wirkenden Redeweise. Ein Student, schüchtern aber mutig, unterbrach ihn und bat höflich: "Würden Sie bitte etwas langsamer sprechen". Christian blickte irritiert auf und antwortete: "Nein. Da müssen Sie eben schneller denken."
Viele haben versucht, ihn nicht zum langsameren Sprechen, sondern zum Schweigen zu bringen. Es ist ihnen nicht gelungen.
Ich erinnere mich noch daran, wie ich den schweren Papierstapel der Telefonnachschriften von der Überwachung des Telefons von Christian und Ute in Händen hielt. Das Telefon wurde damals abgehört, als Christian einer Beteiligung an der Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback verdächtigt wurde. Christian war damals Vorsitzender der Amílcar Cabral Gesellschaft, einer Organisation, die nach der Erringung der Unabhängigkeit der beiden ehemaligen portugiesischen Kolonien Kapverde und Guinea-Bissau die Solidaritätsarbeit mit beiden Ländern fortsetzte. Wir hatten einen französischen Arzt auf die guineische Insel Bubaque entsandt. Es gab allerlei Probleme im Zusammenhang mit der Arbeit dieses Arztes, die Christian zu zahlreichen Telefongesprächen mit den zuständigen Behörden in Guinea-Bissau nötigten. Da war somit immer wieder von Bubaque die Rede. Zwischen Bubaque und Buback zu differenzieren, war für die Schützer der Verfassung der BRD zu schwierig.
Es drohte ihm damals Berufsverbot, und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft diskutierte in ihrem Landesvorstand den Gewerkschaftsausschluß aufgrund der Unvereinbarkeitsbeschlüsse des DGB, der, wäre er denn durchgeführt worden, den Weg zum Berufsverbot erleichtert hätte. Die Angriffe, denen er fortgesetzt ausgesetzt war, haben ihn, der ja eine klare Analyse des herrschenden Systems hatte, nicht überrascht. Er hat ihnen widerstanden, jedoch geschah das keineswegs gleichmütig. Immer wieder sah er sich in seiner Würde beschädigt und hat psychosomatisch darauf reagiert.
Christian war der erste Vorsitzende der Amílcar Cabral Gesellschaft, die 1975 gegründet wurde, ein Amt, in dem ich ihm dann nachfolgte. Damals hatten wir große Hoffnungen im Blick auf die Möglichkeiten der beiden Länder Guinea-Bissau und Kapverde. Sie gründeten zum einen auf dem wegweisenden Werk Amílcar Cabrals, zum anderen auf der Einschätzung, daß zum Beispiel Guinea-Bissau für den Imperialismus so wenig bedeutend sei, daß das Land die Chance einer unabhängigen Entwicklung haben könnte. Während wir Wege suchten, Solidarität praktisch werden zu lassen, erreichten uns bald die ersten Nachrichten, die Zweifel aufkommen ließen daran, ob das, was Amílcar Cabral konzipiert hatte, Wirklichkeit werden konnte. Die Diskussionen waren schwierig. So gab es Stimmen, die der Meinung Ausdruck gaben, daß Christian als Berater des Landwirtschaftsministers von Kapverde weit weniger kritisch war, als wir es von ihm hierzulande gewohnt waren. Viele von uns haben damals gelernt, daß der wissenschaftliche Diskurs und der politische ihren jeweiligen Kontext reflektieren müssen und darin Grenzen haben.
Anfang der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts haben wir an der Herausgabe eines Teils der Schriften von Amílcar Cabral in deutscher Sprache zu arbeiten angefangen. 1983 konnten wir schließlich den Band "Die Theorie als Waffe. Schriften zur Befreiung in Afrika" beim CON-Verlag in Bremen herausgeben. Christian und ich schrieben gemeinsam ein Vorwort. Lange haben wir diskutiert über die These von Cabral, die Kleinbourgeoisie, die zwar unter den gegebenen Bedingungen die Rolle des revolutionären Subjekts übernehmen müsse, jedoch wegen ihres schwankenden Charakters die Revolution nicht zu Ende führen könne, müsse als Klasse Selbstmord begehen. Christian war der Meinung, daß dies von Cabral ironisch gemeint sei, und so steht es schließlich im gedruckten Vorwort. Ich habe mich dieser Meinung nie so recht anschließen können, mich aber schließlich seiner Autorität gebeugt.
Christian, Ute und ich haben einander zuletzt gesehen, als ich Anfang 2009 aus dem Gaza-Streifen zurückkam, wo ich als Mitglied einer medizinischen Expertenkommission die Auswirkungen der Angriffe der israelischen Armee auf das Gesundheitswesen und die Gesundheit der Menschen dort untersucht hatte. Wir waren einander jahrelang nicht begegnet, hatten auch keinen Kontakt miteinander gehabt. Doch es war eine jener Begegnungen, die erscheinen, als sei ein Nachdenken, eine Arbeit, ein Projekt nur kurzzeitig unterbrochen gewesen und werde nun fortgesetzt. Wir begegneten einander mit Neugier, Christian wie immer intellektuell fordernd und sogleich solidarisch unterstützend, als er erfuhr, daß ich gleich anschließend eine Arbeit in Kongo-Kinshasa antreten würde.
Christian Sigrist fehlt uns als kritischer, fordernder, nie opportunistischer und immer solidarischer radikaler Mensch.
Juni 2015, Ralf Syring
Ein Soziologe im Minenfeld. Von Bernd Drücke
Bubaque – ein Nachruf. Erinnerungen an meinen lieben Freund, Genossen, Doktorvater und Mentor Christian Sigrist
Als meine Liebste und ich am 14. Februar 2015 in der Uni-Klinik Münster eintrafen, kamen wir zu spät. Ein Arzt trat uns aus Christians Patientenzimmer entgegen: „Professor Sigrist ist vor einer halben Stunde gestorben.“ Christian war einige Tage zuvor zu Hause die Treppe heruntergefallen und lag mehrere Stunden lang auf dem Boden, bevor ihn morgens eine seiner Assistentinnen fand und ins Krankenhaus brachte. Am 25. März 2015 wäre er achtzig Jahre alt geworden.
Wir hatten nicht damit gerechnet, dass er so plötzlich sterben könnte.
Wer war Christian Sigrist?
Geboren am 25. März 1935 im süddeutschen St. Blasien, hatte Christian eine traumatische Kindheit, die ihn sein Leben lang prägte und auch seine bisweilen befremdlich wirkenden Marotten erklären kann.
Christians Vater war nach der Schließung des Internats auf Schloss Salem wegen „jüdischer Versippung“ mit einem Berufsverbot belegt. 1935 wurde er am Kolleg St. Blasien als Philologe angestellt und dort „schamlos ausgenutzt“, erzählte Christian.
Schüler in St. Blasien
Ab September 1946 war Christian Schüler in diesem Eliteinternat, bis er im Dezember 1947 rausgeschmissen wurde, weil er nach Ansicht des Rektors die „Internatsdisziplin untergraben“ habe. In einem Artikel in der „Neuen Rheinischen Zeitung“ beschrieb Christian im April 2010 das Klima in diesem jesuitischen Internat, das von Gewalt, Antisemitismus, Unterdrückung und Prüderie geprägt war:
„Physische und psychische Misshandlung war das Problem jener Jahre. Die schärfste physische Sanktion war der ‚Hosenspanner‘, eine auf einem eigens dafür konstruierten Pult mit dem Rohrstock vollzogene Prügelstrafe, ausgeführt vom Generalpräfekten, der anschließend die Tränen des Delinquenten mit einem speziell dafür vorgesehenen Taschentuch auffing. Hinzu kamen spontane Misshandlungen didaktisch überforderter Lehrer in den Klassenräumen. Trotz dieses repressiven Klimas waren wir alle stolz darauf, Kollegschüler zu sein, zumal selbst uns kleinen Schülern immer wieder gesagt wurde, wir sollten die künftige deutsche Elite werden. … Obwohl wir damals eigentlich ganz andere Sorgen hatten, z. B. Mangelernährung, wurde uns 11- bis 13-Jährigen an einem Abend ein … Vortrag über die Gefahren der islamischen Expansion geboten. Ich war zwar verwundert, aber nicht sonderlich betroffen. Ganz anders sah es dagegen mit den unglaublichen Äußerungen antijüdischer Gesinnung aus – zwei Jahre nach der Befreiung von Auschwitz. Der Mathematikunterricht wurde durch die verzweifelte Prügeldidaktik von Pater Kathold so chaotisiert, dass der Rektor, ein promovierter Theologe mit autoritärer Ausstrahlung, mit seinem Brevier im Klassenraum erschien und sagte: ‚Wir sind hier doch nicht in einer Judenschule!‘ Ich traute meinen Ohren nicht. Er wusste, dass ich ‚Vierteljude‘ war. Am Ende der Quinta, im Sommer 1947, wurden in den letzten Tagen anstelle des regulären Unterrichts Geschichten vorgelesen und Lieder gesungen. Höhepunkt war das mehrstrophige Lied ‚Freut euch des Lebens, Großmutter wird mit der Sense rasiert!‘ Es wurde auch folgende Strophe gesungen:
‚Zwei Juden badeten in einem Fluss/ weil jedes Schwein einmal baden muss./ Der eine ist ersoffen/ vom andern wollen wir’s hoffen.‘
Dieses Lied wurde vom Klassenlehrer und der gesamten Klasse mitgegrölt. Auch ich sang mit im Bewusstsein der Ungeheuerlichkeit. Aber es wäre unmöglich gewesen, da auszuscheren.
Ich habe diesen Moment als schwere Demütigung und Selbsterniedrigung bis heute im Gedächtnis.“ (1)
Zwischen Akademie und Anarchie
Christian Sigrist war libertär-marxistischer Regimekritiker und von 1971 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2000 Soziologieprofessor an der Westfälischen-Wilhelms-Universität (WWU) Münster. Sein Hauptwerk „Regulierte Anarchie“ wurde fünfmal neu aufgelegt und gilt als „ein Meilenstein der Rekonstruktion antistaatlicher Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens“, wie 1997 die anarchistische Zeitschrift „Schwarzer Faden“ Nr. 60 konstatierte.
Christian war ein brillanter Theoretiker und auch Gegenspieler unter anderem zum etatistischen Systemtheoretiker Niklas Luhmann.
In einem in den „Westfälischen Nachrichten“ und online veröffentlichten Nachruf der Uni Münster heißt es unter anderem: „Christian Sigrist … gehört zu jenen kritischen Intellektuellen und Unruhegeistern im Nachkriegsdeutschland, die sich Zeit ihres Lebens der Kritik der Herrschaft von Menschen über Menschen sowie der tätigen Intervention im Dienste der Wahrheit auch als Wissenschaftler unbedingt verpflichtet fühlten. So stand im Zentrum seines wissenschaftlichen Werkes die Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten der Herrschaftslosigkeit oder Akephalie, entwickelt an den Befunden der social anthropology in segmentären Gesellschaften Afrikas. Sein theoretisches Konzept der Regulierten Anarchie (1967) fand breite wissenschaftliche Anerkennung und erwies sich über die Fachgrenzen hinaus als fruchtbar. Erhärtet wurde dieses Konzept in seinen Feldforschungen zu den Stammesgesellschaften in Afghanistan und ihrem Ehr- und Rechtskodex. Auch regte es interdisziplinäre Forschungen u.a. zum Alten Testament und zur Vor- und Frühgeschichte Israels an. Zugleich beteiligte Christian Sigrist sich an intensiven Auseinandersetzungen über die Rolle einer Kritischen Soziologie an deutschen Universitäten, die ihn bis zu seinem Lebensende nicht losließen.“ (2)
Dezent verschwiegen wird in diesem offiziellen Nachruf der Westfälischen-Wilhelms-Universität, dass sich Christian mit großen Teilen der WWU überworfen hat, unter anderem weil als „linksextrem“ stigmatisierte Soziologen (mich eingeschlossen) vor die Tür gesetzt wurden und sich die Unileitung bis heute starrköpfig weigert, endlich den „Wilhelm“ in ihrem Namen zu tilgen. Jahrzehntelang hatte sich Christian Sigrist dafür engagiert, dass endlich die nach dem Kriegsverbrecher und antisemitischen Kaiser Wilhelm II. benannte Westfälische-Wilhelms-Universität umbenannt wird.
Dass das gegen den Widerstand reaktionärer ProfessorInnen zu seinen Lebzeiten nicht durchsetzbar war, ärgerte Christian maßlos. Er konnte sehr nachtragend sein. Sein Nachlass sollte auf seinen Wunsch hin nicht an die WWU gehen und wird stattdessen in den nächsten Monaten im Duisburger Archiv für alternatives Schrifttum (afas) für die Nachwelt zugänglich gemacht.
Auf der Dadaweb-Gedenkseite für Christian (3) finden sich bewegende Nachrufe, unter anderem von Wolf-Dieter Narr und den „iley“- und „Peripherie“-Redaktionen. Auch der in der „jungen Welt“ am 21. März 2015 veröffentlichte Artikel „Anarchie im gelobten Land. Christian Sigrists Beitrag zur Religionswissenschaft“ von Rüdiger Haude findet sich hier.
Christians wissenschaftliche Bedeutung wird dort ausgiebig gewürdigt. Deshalb möchte ich mich als Ergänzung zu den bereits veröffentlichen Nachrufen primär auf persönliche Erlebnisse beschränken, die ich mit Christian und seiner Lebensgefährtin Ute haben durfte.
Persönliche Erlebnisse
Ich habe Christian erst spät kennengelernt. Als Soziologiestudent besuchte ich im Wintersemester 1993 eines seiner Hauptseminare über „Ethnizität“. Es fing skurril an. Christian ließ in der ersten, sehr gut besuchten Sitzung den übel gelaunten Stinkstiefel heraushängen, bezeichnete sich einerseits als Anarchist, legte aber zugleich die Hürden für seine Scheinvergabe hoch: „Wenn ich eine Hausarbeit lese und auf der ersten Seite sind schon Tippfehler, dann lese ich gar nicht erst weiter. Es sei denn derjenige ist nicht in Deutschland geboren… Ein guter Soziologe muss erst einmal durch ein Minenfeld gegangen sein, um begreifen zu können, was soziale Wirklichkeit bedeuten kann. Linke müssen in diesem System mehr leisten, um zu bestehen.“
Nach diesem elitär wirkenden Hochlegen der Messlatte kamen ab der nächsten Sitzung nur noch wenige StudentInnen ins Sigrist-Seminar. Aber die, die geblieben sind, haben es nicht bereut.
Die Referate waren durchweg interessant und die ReferentInnen kamen zu einem großen Teil aus Afrika, Asien und Lateinamerika. Ich referierte über Kurdistan und berichtete mit einem Diavortrag über die krassen Erlebnisse, die ich im Sommer 1993 als Mitglied einer Menschenrechtsdelegation im türkisch-kurdischen Kriegsgebiet hatte. Einige Wochen später, nachdem Christian meine Kurdistan-Hausarbeit gelesen hatte, rief er mich an und bat um ein Gespräch in seinem Büro. Er war begeistert von der Arbeit und bot mir deshalb eine Direktpromotion an, zu Kurdistan. Ich lehnte aufgrund meiner nur ungenügenden kurdischen Sprachkenntnisse ab, schlug stattdessen aber vor, zu einem Thema zu promovieren, zu dem ich als Umweltzentrum-Archivar und anarchistischer Zeitungsmacher schon seit den 1980er Jahren arbeitete: „Anarchistische Presse in Deutschland“. Christian stimmte zu und hakte nach: „Gibt es die ‚Befreiung‘ eigentlich noch?“. „Nein, die wurde unter anderem aufgrund der Repression 1978 eingestellt, nach 31 Erscheinungsjahren. Die Abodatei der ‚Befreiung‘ ging dann aber an die anarchosyndikalistische ‚Direkte Aktion‘, die bis heute erscheint.“
Hier hatten sich zwei „Freaks“ gefunden. Ab jetzt war ich Sigrist-Doktorand und besuchte seine Doktorandenkolloquien. Christian versammelte hier spannende Persönlichkeiten und angehende WissenschaftlerInnen aus aller Welt. Er hatte einen internationalen Ruf und sprach etliche Sprachen fließend.
Ute Sigrist
Die Kolloquien waren großartig, die Seminare spannend. Oft nahm auch seine Frau teil. Die beiden waren ein Kollektiv und lebten seit 1960 zusammen. Ute wurde am 19. März 1936 in Mannheim geboren (4). Ich erinnere mich gerne daran, wie ich sie kennengelernt habe, im Sommersemester 1994 im Sigrist-Seminar zum Thema „Soziologie der Polizei“. Das Seminar war brisant, auch weil sich Christian durch eine entschiedene Intervention gerade wieder bei vielen Polizeibeamten unbeliebt gemacht hatte. Reaktionäre Kreise im Polizeiapparat und am Institut für Soziologie wollten das IfS damals mit der Polizeiführungsakademie Hiltrup verbändeln. Das konnte Christian letztlich verhindern, indem er öffentlichkeitswirksam unter anderem darauf hinwies, dass eine solche Verstrickung dazu führen werde, dass beispielsweise soziologische Feldstudien im Drogenmilieu zukünftig undenkbar wären, weil kein Drogenabhängiger den SoziologInnen noch Auskünfte geben würde, wenn diese mit der Polizei unter einer Decke stecken.
Mehrere Polizeibeamte nahmen am „Soziologie der Polizei“-Seminar teil und ein Polizeioberkommissar hielt ein unglaublich unkritisches Referat zur Geschichte des Polizeiapparates.
Nachdem der Polizist seinen Vortrag gehalten hatte, meldete ich mich zu Wort: „Es ist interessant, dass ein Polizeibeamter in einem Uni-Seminar ein Referat hält. Wir haben jetzt Ihre Position zur Kenntnis nehmen können. Nun sollten Sie und Ihre Kollegen aber dieses Seminar verlassen, damit wir hier ohne Schere im Kopf und unbeobachtet von der Polizei kritische Soziologie betreiben können.“
Der Beamte war außer sich vor Wut und beschwerte sich anschließend bei Christian über diesen „linksextremen Studenten“. Gleichzeitig kam Ute zu mir und äußerte sich begeistert: „Das war super. Genau richtig!“
Dies war der Beginn unserer Freundschaft.
Bubaque und der Terror des Staates
Ute und Christian waren starke Persönlichkeiten. Auch die Repressionen, denen sie vor allem in der Zeit der sogenannten Terroristenhysterie ausgesetzt waren, haben sie nicht gebrochen. Nach der Ermordung von Bundesanwalt Buback durch die RAF 1977 stand die Polizei ohne Vorankündigung frühmorgens in ihrem Schlafzimmer und Christian plötzlich unter Mordverdacht. Der Hintergrund dieser Geschichte ist realsatirisch: Christian war damals in Guinea-Bissau an einem entwicklungssoziologischen Projekt beteiligt, auf der Insel Bubaque. Am Telefon hatte er deshalb oft vom „Bubaque-Projekt“ geredet. Aufgrund seines politischen Engagements wurde Christians Telefon vom Verfassungsschutz abgehört. Immer wenn er das Wort „Bubaque“ sprach, ging also bei den Herren des Morgengrauens die rote Lampe an.
In dieser repressiven Zeit wurden Christian und Ute als vermeintliche „RAF-Sympathisanten“ massiv unter Druck gesetzt. Der Direktor des Gymnasiums in Münster-Wolbeck, an dem Ute seit 1971 als Oberstudienrätin arbeitete, forderte sie auf, sich von ihrem „linksextremen Ehemann“ zu trennen. Vor diesem Hintergrund ist auch verständlich, dass Christian das Direktorium des Wolbecker Gymnasiums zur bewegenden Trauerfeier für Ute ausdrücklich nicht eingeladen hat.
Christian war seit Anfang der 1970er Jahre massiv von Berufsverbot bedroht. Aufgrund seines menschenrechtlichen Engagements in den Anti-Folter-Komitees und seiner herrschaftsfeindlichen Kritiken, drohte ihm der Entzug seiner Professur. Ermittlungs- und Disziplinarverfahren handelte er sich ein, beispielsweise weil er die Haftbedingungen der RAF-Gefangenen als „Isolationsfolter“ bezeichnete.
Der Fall Routhier
Sein Engagement für die Aufklärung des „Fall Routhier“ sorgte für jahrelange Ermittlungsverfahren und Prozesse, unter denen Christian auch gesundheitlich zu leiden hatte.
Der Frührentner Günter Routhier kam durch eine Polizeiaktion im Juni 1974 ums Leben. Mehr als tausend Menschen, die aus Empörung über die Todesumstände die Polizei des Mordes beschuldigten, wurden strafrechtlich verfolgt.
Die politische Abteilung der Duisburger Polizei erstattete in jedem Einzelfall Strafanzeige gegen VerbreiterInnen des Mordvorwurfs. Das prominenteste Opfer der Verfolgungsmaßnahmen war Christian.
1980 schrieb der SPIEGEL über Routhier: „Die unaufgeklärten Umstände seines Todes haben Staatsverdrossenheit hervorgebracht. Inzwischen sind im gesamten Bundesgebiet wohl mehr als tausend Strafverfahren gegen diejenigen durchgeführt worden, die sich mit den offiziellen Erklärungen der Polizei zum Tod Routhiers nicht zufriedengegeben und behauptet haben, er sei einem Mord zum Opfer gefallen. Das hat auch Professor Christian Sigrist, geschäftsführender Direktor des Instituts für Soziologie an der Universität Münster, auf einer am 5. Mai 1976 vom Goethe-Institut und der Universität in Stockholm durchgeführten Podiumsdiskussion getan, die vom WDR ausgestrahlt worden ist.
Professor Sigrist ist dafür am 24. Oktober 1978 vom Schöffengericht Münster wegen Verunglimpfung des Staates in Tateinheit mit Beleidigung zu einer Geldstrafe von 45 Tagessätzen zu je 120 Mark verurteilt worden. Er hat Berufung gegen das Urteil eingelegt. Und nun endlich hat sich ein Gericht der Mühe unterzogen, in sechzehn Verhandlungstagen das aufzuklären, was Gegenstand der Behauptung war. Von einem vorsätzlichen, einem geplanten Mord kann keine Rede mehr sein, aber die Beweisaufnahme hat auch ergeben, daß einige Polizeibeamte alles getan haben, um die Umstände des Todes von Günter Routhier zu vertuschen.“
In den bürgerlichen Medien wurde unter Schlagzeilen wie „Professor wegen Verunglimpfung der Bundesrepubilik vor Gericht“ (Münstersche Zeitung, 13.1.1981) über Christian berichtet. Bilduntertitel: „Stand zu dem, was er gesagt hatte: Professor Sigrist.“
Am 31. März 1982 wurde Christian im Berufungsverfahren vom Landgericht Münster wegen „Verunglimpfung des Staates“ zu einer Geldstrafe von 3.600 DM (= 30 Tagessätze) verurteilt, dazu kamen 2/3 der Verfahrens- und 4/5 der Anwaltskosten. „Das alles zusammen kostet ihn ca. 60.000 DM“, so die Szenezeitung „Knipperdolling“ im Mai 1982. Bundesweit solidarisierten sich viele Menschen und linke Initiativen mit Christian. Der Liedermacher Walter Mossmann widmete Christian die „Ballade vom zufälligen Tod in Duisburg“ (5).
Ein Berufsverbot konnte letztlich abgewendet werden.
Der „Fall Routhier“ hat bis Mitte der 1980er Jahre bundesweit Aufsehen erregt und das Leben der Familie Sigrist schwer belastet.
Der Fall Nachtwei
Mit Beginn des NATO-Angriffskriegs 1999 gegen Jugoslawien begann der „Fall Nachtwei“, der für Ute und Christian ebenfalls eine große seelische Belastung war. Christian war ein Universalgelehrter, Menschenrechtsaktivist und Kriegsgegner. Nachdem ich 1998 bei ihm promoviert hatte und zum GWR-Koordinationsredakteur gewählt wurde, unterstützte Christian mich beratend, durch eigene Artikel (6), viele Gespräche und immer wieder auch durch großzügige Spenden an den Förderverein für Freiheit und Gewaltlosigkeit. Er war in gewisser Weise ein Mentor für mich.
Ähnlich war sein Verhältnis über viele Jahre zu Winfried Nachtwei, der 1975 bei Christian sein Examen gemacht hatte. Als sich Nachtwei 1998 für ein Bundestagsmandat bewarb und sich gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr einsetzte, unterstütze Christian ihn durch einen Wahlaufruf. Kaum war Nachtwei Mitglied des Bundestages und die Grünen Teil der neuen Regierung, änderte der Politiker schlagartig seine Position und wurde zu einem Propagandisten des NATO-Angriffskrieges gegen die damalige Bundesrepublik Jugoslawien.
Christian war empört. Nachdem er bei einer Podiumsdiskussion der Münsteraner Bundestagsabgeordneten den Grünen beschimpft hatte, rief er mich an: „Noch nie habe ich einen Schüler von mir öffentlich so verflucht.“ Christian war in Tränen aufgelöst. In dem Interview, das ich am nächsten Tag mit ihm für die Graswurzelrevolution geführt habe, ging es auch um Nachtwei und dessen Wandel vom Mitglied der Friedensbewegung zum Propagandisten des NATO-Angriffskrieges gegen Jugoslawien.
Christian erklärte: „Nachtwei hat bei mir ein sehr gutes Examen gemacht, aber mir fiel auf, daß er taktiert hat. Wer in die Politik will, muß taktieren. Nachtwei hat in Münster jahrelang die Friedens AG der Grünen Alternativen Liste geleitet, und dann sagt so jemand ‚Keine Alternative‘. Das ist Unsinn, Alternativen gibt es, es gibt gute, schlechte, ... aber einfach dieses alternativlose Denken von Anfang an, man kann das nicht anders interpretieren als mit ‚Regierungsfähigkeit‘. Die Gefahr des Zerbrechens der rot-grünen Koalition, raus aus dem Regierungsgeschäft, eventuell Neuwahlen und dann das Mandat weg. Es ist das Kleben an der Macht. MMB - Macht macht blöd. Auf der unteren Stufe heißt es Mandat macht blöd, selbst kluge Leute. So kann man das erklären. Bei Nachtwei ist es der Wandel vom Taktierer zum Opportunisten. Er versucht auch heute noch einerseits dazuzugehören, seine Position im Verteidigungsausschuß, und gleichzeitig will er sich den Rückhalt in der Basis erhalten. Das ist ein ‚Rumeiern. Da kommen die absurdesten Argumente, die unter seinem intellektuellen Niveau sind. Ich halte den Mann nicht rückwirkend für dumm, aber dieses Kleben an der Macht. Außerdem: Das Leben im Bundestag, das ist eine Art Raumschiff, das ist ein Realitätsverlust.“ (7)
Das Interview erschien im Juni 1999 auf der Titelseite der GWR Nr. 240. Ein Nachdruck wurde Ende März 2000 in dem im LIT-Verlag von Christine Idems und Matthias Schoormann herausgegebenen Buch „Soziologie im Minenfeld. Zum 65. Geburtstag von Christian Sigrist“ abgedruckt.
Während Nachtwei auf das Sigrist-Interview in der GWR noch mit einem (in der GWR 241 veröffentlichten) Leserbrief reagiert hat, zog der Verteidigungspolitische Sprecher der grünen Bundestagsfraktion nun alle Register, um diese Festschrift zu Sigrists Emeritierung aus dem Verkehr zu ziehen.
Nachtwei forderte über seinen Anwalt den LIT-Verlag auf, das Buch aus dem Handel zu nehmen. Der Verlag solle dazu eine Verpflichtungserklärung abgeben, bei Zuwiderhandlung ausgestattet mit einem Betrag von 10.000 DM. Sein ehemaliger Hochschullehrer Sigrist habe ihn in dem Interview diffamiert, behauptete Nachtwei. Als Hebel gegen die weitere Verbreitung des Buches diente Nachtwei folgende Passage aus dem Sigrist-Interview: „Ich hab mich gewundert, dass er (Nachtwei) auf dem Münsteraner Luftwaffenball war. Der Luftwaffenball als solcher ist obszön.“
Nachtwei beteuerte nun, er sei nicht auf dem Luftwaffenball gewesen und deshalb dürfe das Buch so nicht verbreitet werden. Tatsächlich dürfte Nachtwei wohl eher die treffende Analyse seines Ex-Lehrers gestört haben, als die möglicherweise nicht richtige Aussage zu seiner Teilnahme am Luftwaffenball.
Der LIT-Verlag knickte ein und nahm das Buch aus dem Handel.
Daraufhin bat mich der damalige Münster-taz-Chefredakteur um einen Gastkommentar. Die Münster-taz erschien zu dieser Zeit wöchentlich, als Extrablatt der tageszeitung. Sie wurde überall in Münster ausgelegt. Am 28. September 2000 brachte sie das Thema Nachtwei als Aufmacher. Dort hatte ich unter anderem geschrieben, dass es Nachtwei meines Erachtens nicht um den Luftwaffenball an sich ging, weil er als Verteidigungspolitischer Sprecher ständig bei solchen und ähnlichen Veranstaltungen dabei war, „seien es die Soldatenspaziergänge in Münster, sei es der Große Zapfenstreich auf dem Hindenburgplatz am 20. März 2000, wo früher die Wehrmacht ihre Zapfenstreiche abgehalten hat“.
Nachtwei hat daraufhin behauptet, ich hätte ihn verleumdet. Er wäre nicht beim Großen Zapfenstreich gewesen. Und überhaupt, dieser, so Nachtwei, „Pauschalantimilitarismus der Graswurzler“! Daraufhin brachte die nächste Münster-taz eine ganze Seite mit Leserbriefen, mit Überschriften wie „Echt widerlich, Herr Dr. Drücke“, „Ein Armutszeugnis für die Soziologie“. In den Briefen stellten die grünen SchreiberInnen den Sigrist-Schüler Drücke als Verleumder an den Pranger.
Uta Klein, die auch bei Christian studiert hatte, warf mir in ihrem Leserbrief vor, ich würde „wissenschaftliche und politische Arbeit nicht trennen“. Sie war damals Professorin am IfS, stand in der Uni-Hierarchie also höher als ein Lehrbeauftragter wie ich.
Mir wurde vorgeworfen, ich hätte, „wie zuvor schon Sigrist“, Nachtwei verleumdet, denn der wäre gar nicht beim Großen Zapfenstreich gewesen. Der Clou war aber, dass wir gegen das Militärspektakel „Großer Zapfenstreich“ demonstriert und viele Nachtwei auf der Tribüne gesehen hatten.
Danach rief ich beim Grünen-Politiker Stefan Riese an: „Wie könnt ihr das behaupten?! Ich habe Nachtwei da gesehen.“ Darauf Riese sinngemäß: Ja, ein Bekannter habe ihn auch schon angerufen und Nachtwei ebenfalls beim Zapfenstreich gesehen. Riese rief nun in Nachtweis Bundestagsbüro an und sprach mit Büroleiter Michael Schlickwei, dem Lebensgefährten von Uta Klein. Schlickwei teilte Nachtwei mit, dass der Politiker von mehreren Menschen gesehen worden und der Zapfenstreich in seinem Terminkalender vermerkt sei. Nachtwei musste nun einräumen, dass er doch da gewesen ist.
Daraufhin habe ich ein Fax an Nachtweis Büro geschickt und gefordert, dass die gegen mich gerichtete Verleumdung richtiggestellt werden müsse, ansonsten würde ich rechtliche Schritte erwägen. Ich stand am Pranger, eine Woche lang ging ich als vermeintlicher „Verleumder“ in „mein“ Institut. Andere DozentInnen schnitten mich als „Nestbeschmutzer“.
Gut getan hat mir die Solidarität von Christian, Ute und anderen Freundinnen und Freunden. Viele, die Nachtwei auf dem damaligen Hindenburgplatz gesehen haben, schrieben Leserbriefe, die in der Münster-taz klein oder gar nicht abgedruckt wurden. Nachtweis Richtigstellung erschien in der nrw taz Nr. 24. Seine Versuche, Christian und mich zu diskreditieren, waren gescheitert. Christian hat danach nie wieder ein Wort mit Nachtwei gesprochen.
Ich bin froh, dass Christian mir nie die Freundschaft aufgekündigt hat. Auch dann nicht, als er mit einer Entscheidung des GWR-HerausgeberInnenkreises nicht einverstanden war.
Christian und Ute habe ich unglaublich viel zu verdanken. Die Beiden haben durch ihre Unterstützung auch dazu beigetragen, dass unser Freundeskreis Paul Wulf 2010 die Wiederaufstellung der Paul-Wulf-Skulptur und 2012 die Umbenennung des nach einem Naziarzt benannten Jötten-Wegs in Paul-Wulf-Weg durchsetzen konnten. (8)
„Klasse Lehrerin“ - (Inschrift auf Utes Grab)
Als ich am 17. Februar 2014 mit Edo Schmidt ins Hospiz ging, um Ute dort zu besuchen, kamen wir erstmals zu spät. Sie war gerade für immer friedlich eingeschlafen. Am Totenbett saß Uli, der Sohn von Ute und Christian.
Als Christian eintraf, brach er zusammen und weinte bitterlich. Seine große Liebe war gestorben. Ein Jahr später folgte er ihr.
„Kluger Querkopf“ - (Inschrift auf Christians Grab)
Christians Beerdigung auf dem Bergfriedhof Heidelberg fand am 16. April 2015 auf Ulis Wunsch hin im engsten Freundes- und Familienkreis statt.
Webers Nachbar
Bei Utes Beerdigung hatte Christian erwähnt, dass auch Max Weber hier liege. Damals war mir das Weber-Grab nicht aufgefallen. Als wir mit zwanzig Menschen nun am gemeinsamen Grab von Ute und Christian standen, entdeckten wir das Grab von Max Weber. Es liegt direkt nebenan.
Christian hatte Sinn für schwarz-roten Humor. Er war weder uneitel noch ein Anhänger übertriebener Bescheidenheit. Dass er nun direkt neben dem „großen Soziologen Weber“ liegt, weckt die Assoziation, dass er posthum mit Weber über die „Regulierte Anarchie“ streiten will.
Ich habe Christian und Ute geliebt und werde sie nicht vergessen.
Bernd Drücke, Münster im Mai 2015
Quelle: Graswurzelrevolution Nr. 400, Sommer 2015
Anmerkungen
1) www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=14946
2) www.uni-muenster.de/Soziologie/personen/sigrist.shtml
3) www.dadaweb.de/wiki/Christian_Sigrist_-_Gedenkseite
4) Gedenkseite für Ute Sigrist (1936 – 2914)
6) Beiträge von Christian Sigrist in der Graswurzelrevolution: Der „Siegfrieden“ der NATO – Bernd Drücke im Gespräch mit Christian Sigrist, GWR Nr. 240/1999, S. 1, 3 ; Die afghanische Tragödie (Teil 1), GWR 263/2001, S. 14-15 ; Die afghanische Tragödie (Teil 2), GWR 267/2002, S. 14-15 ; Opfer einer wissenschaftlich abwegigen Genetik - Gedanken anlässlich der Einweihung der Paul-Wulf-Skulptur „Münsters Geschichte von unten“ am 05.09.2010, GWR 353/2010, S.14 ; Großer Zapfenstreich für ein in Afghanistan gescheitertes Korps - Vortrag gehalten am 25.09.2013 am Rande des Münsteraner Schlossplatzes als Beitrag zur Demonstration gegen die vom 1. Deutsch-Niederländischen Korps aufgeführte Farce (ISAF), GWR 385/2014, S. 14-15 ; Gedanken zum Mauerfall-Fest 2014, GWR 394/2014, S. 4
7) www.graswurzel.net/240/sigrist.shtml
8) Siehe: www.uwz-archiv.de ; Redebeitrag von Christian Sigrist, gehalten anlässlich der Wiederaufstellung der Skulptur „Münsters Geschichte von unten“, die an den 1938 von den Nazis zwangssterilisierten Anarchisten Paul Wulf (1921-1999) erinnert: www.uwz-archiv.de/uploads/pics/gwr353_Paul-Wulf-RedeSigristDruck1.jpg und www.uwz-archiv.de/uploads/pics/gwr353_Paul-Wulf-RedeSigristDruck2.jpg
Nachruf auf Ute und Christian Sigrist von Wolf-Dieter Narr
Am Anfang ist der gleiche Rang. Er ist gleich am Ende. Und bleibt. Wie lebendige Erinnerung - so Menschen gleich empfinden. Also verbindet den Nach- ein gleichrangiger Vorruf auf das im Leben kaum getrennte, verschieden zusammen gewachsene Paar, Ute und Christian. Und also begrenzt und überwindet den Tod die dauernde Aufgabe, täglich zu erneuern, anarchisch zu leben: dem gelebten gleichen Rang unter den auf diese Weise identisch werdenden ungleichen Menschen in ihrer schwankenden Vielfalt. Hyperions Schicksals-Lied endet mit dieser Botschaft und hebt desgleichen an.
Wie kann Christians Tod erinnert werden? Seinem, Ohnmacht schaffenden Sturz hätte Ute, die zarte, die zähe, die immer präsente, fallend gewehrt. Sie war freilich wenig zuvor von Christian und Freunden ihrerseits verabschiedet worden. Das Gedicht, in Ute Person geworden.
Über Christian kann man sich mit ihm jetzt nicht mehr austauschen, selbst gesprächsmunter, wie er lebte, lebte er wie Kropotkin, Marcel Mauss und andere, die den Beginn des gesellschaftlichen Umgangs als Gabe-Beziehung ausgemacht haben. Darum zählt "Feldforschung" im Umgang mit Anderen, mit Fremden naher Erkundung an erster Stelle. Sie wurde von Christian zuerst in Afghanistan mitlebend erprobt. Dürfte ein an-archisch Lebender segmentäre Andersartigkeiten, andere Kulturen und ihre Umgangsformen anders als an sich selbst zu Wort kommen lassen? Als existenziell Anderes, als darum Besonderes und Individuelles. Deshalb gilt, was Goethe an Lavater, den Physiognomiker, geschrieben hat: "Kennst du schon das große Wort, individuum est ineffabile." Das Individuelle kann man nicht identifizieren. Unter den vor-politischen Spezifika zählen die Mit- und Zusammenerlebnisse.
Mikrologische Einzelheiten und Feinheiten ohne entsprechende gesellschaftliche Zusammenhänge waren Christians Sache nicht über bedeutsam feine institutionelle Muster hinaus. Gleichheiten inmitten immer präsenter, auch gefährlicher Ungleichheiten. Darüber hat Christian Sigrist in einem mit Dieter Haller geführten Interview 2011, mich mitlehrend, Auskunft gegeben. Die Frage, "wie alles anfing", hat er zunächst mit einer informationsreich ausgeführten Antwort versehen: "Mein Anfang war wirklich pluriethnisch."
Kund wird in dieser Antwort, warum Freundschaft und fachliche Nähe, wichtiger noch der durchgängige, jede Herrschaft umkrempelnde Elan mit ebenso überall prägenden herrschafts- und staatskritischen Absichten und Verhaltensweisen erst spät Freundschaft formten. Im Unterschied zur landschaftlichen Nähe wuchs der trauernde Berichterstatter, mitten in der nazistischen Gefahr, wie ein zwei Jahre jüngerer Bruder Christians ethnisch, soweit überhaupt möglich, schwäbisch homogen, ja der herrschen Ideologie und ihrer tödlichen diskriminierenden Praxis zu so etwas wie einem naziherrschaftlich behüteten Nazi-Kind heran. Der Bruch erfolgte erst und allmählich. Lange nach 1945. Dann aber fundamental. Ob, und wenn ja, welche Differenzen bei dem erwachsenen Ethnologen und dem bald unwilligen Politologen festzustellen sind, bleibe dahin gestellt. Habituell hält sie seit den sechziger Jahren die nur in Akzenten verschieden vertretene Anarchie als gesellschaftskritisches Muster nötiger nichtherrschaftlicher Gleichheit zusammen. Afghanistan und die Kritik westlich imprägnierter, im Sinne von Edward W. Said kolonial zivilisatorisch geprägter, westlich imperialer Welt.
Nach seiner Freiburger Dissertation beim ungewöhnlichen Nachkriegssoziologen Heinrich Popitz, nachdem Sigrist sich vom Heidelberger Wilhelm Mühlmann u. a. infolge von dessen aufgedeckter Vergangenheit überworfen hatte, vertrat Christian bald den Lehrstuhl Ralf Dahrendorfs in Konstanz. Das waren die Jahre Ende Sechzig, Anfang Siebzig, da wir uns näher kamen. Er, von seinen jahrlangen afghanischen Erfahrungen, angeregt von der Lebensweise "seiner" Pashtunen, erhellte mit einer von weither und fremd hergeholten Fackel gänzlich anderer, europäisch abgelehnter und systemisch gefährdeter Lebensweise koloniale, in der BRD erst postfaschistisch gelernte, kapitalistisch prätentiöse Liberalität. Seinerzeit griff Sigrist Dahrendorfs dürftig belegte These im von ihm mit herausgegebenen Europäischen Archiv für Soziologie als unhistorisch, belegarm und falsch an. Dahrendorf, der von Gesellschaft pauschal behauptete, sie sei "eine ärgerliche Tatsache" (im Homo Sociologicus), suchte sie aus dürftiger US-amerikanischer Quelle in ewiger, vom "Westen" und seiner kapitalistisch etatistisch formierten "Modernisierungstheorie" und ihren "Werten" zu begründen ("Amba und Amerikaner. Bemerkungen zur These der Universalität von Herrschaft", 1964). Ohne dass Sigrist die eigene opportune Chance an der Uni Konstanz wahrgenommen hätte, sich universitär zu etablieren, begründete er seine herrschaftsfreien Gesellschaften aus verallgemeinerter teilnehmender Beobachtung. Damit behauptete er nicht, Herrschaftsfreiheit unter frühen Gesellschaften sei durchgehend gegeben. Eine solche herrschaftsfreie Vergesellschaftung unterstellte er nie. Wohl aber nahm er an, nicht hierarchisch, nicht kapitalistisch in einem fort zementierte Formen der Vergesellschaftung seien "segmentär" möglich, was Pierre Clastre "Staatsfeinde" genannt hat.
Afghanistan - ich sehe immer noch Christians intensiven Blick und höre überzeugt seine überzeugende Sprache - war für ihn, von Popitz ermöglicht, das Tor zur "Feldforschung", das er allenfalls alters- und umständebedingt nicht mehr durchschritt. Noch unsere letzten Unterhaltungen, die jahrelang um ein leider nicht verwirklichtes Vorhaben über Afghanistan in Geschichte und Gegenwart kreisten - von der Zeitschrift Dialectical Anthropology schon zugesagt -, kritisierten den mehrfachen, sowjetischen, US-amerikanischen und nicht zuletzt historisch und habituell tief verwurzelten wilhelminischen und bundesdeutsch vereinigten Imperialismus aus der Tiefe nicht nur Afghanistan geltender primärer Erfahrung. Sie reichte von der Opposition und Kritik an der Bundesrepublik, die reich war an Prügeln, sie Christian in den Weg zu werfen, bis zu intimen Kenntnissen von China. Vor allem galt sie seinen systematischen Interessen und Einsichten in die neuerlich weltweite Tendenz, die überall gegebenen Agrarfragen in kapitalistischer, dazuhin bauern- und frauenfeindlich zu beantworten.
"Die Feldforschung war für mich eine prägende Erfahrung", berichtet Christian im oben genannten Interview im Gegensatz zu den meisten Akademikern, die sich in abstrakter Eitelkeit ihrer luftigen Kompetenzen rühmen. "Diese Zeit um 1967 war eine der schönsten Phasen meines Lebens. Ohne je eine Reitstunde in meinem Leben gehabt zu haben, ritt ich durch die Wüste und einen belebten Basar. Gleichzeitig war es auch eine sehr schwierige und gefährliche Zeit - in Zarauza (bei Urgun) gab es sogar Morddrohungen gegen mich. Damals wurde ich von einem bedeutenden Khan der Zadran als Ehrengast beherbergt und in die Tracht eines pashtunischen Kriegers gekleidet. Damals bereiste ich auch das afghanisch-deutsche Paktya-Projekt und schrieb eine Kritik dazu. Für mich war zu diesem Zeitpunkt schon ersichtlich, dass die Volksrepublik Afghanistan kommen würde, was viele jedoch nicht glauben wollten."
Kein Leben, es sei denn, es wurde primär herrschaftlich erzwungen, ist gänzlich langweilig. Christians prickelnd vor lebendiger Spannung. Auch in den vergleichsweise ruhigen Perioden als unangepasster Ordinarius ethnologischer und soziologischer Zuspitzung. Allein die Zahl und Qualität ungewöhnlicher Dissertationen, seine selbstständigen Schülerrinnen und Schüler machen darauf aufmerksam. Dort, wo es studentenbewegt und konfliktreich zuging, mischte er am Rande von Disziplinarverfahren mit. Dort trat er "unmöglicher" Weise für angegriffene Leute ein, wo diese falsch - wie Ulrike Meinhof - oder überzogen belangt oder durch das "Berufsverbot" deutsche Konventionen fortsetzend repressiv "selektiert" (pardon für das nazibeliebte Fremdwort) und zugerichtet wurden. Allein das erwähnte politische Interesse, von der immer erneut gewaltsam, je mörderisch zugespitzten sog. Flüchtlingsfrage zu schweigen, steht dafür.
Davon und von anderem mehr, auch die nötige, jedoch unterlassene oder in nutzlosem Streit endende Verbindung und habituelle Mischung von Marxismus und Anarchie, nicht zuletzt die Notwendigkeit human überschaubarer, in diesem Sinne zeitgenössischer segmentärer Gesellschaften, wird mit Christian Sigrists Gedanken, so hoffe ich, bald schon und kritisch die Rede sein. Gedanken und Kritik, verbunden mit der Intelligenz und dem Liebreiz von Ute.
Quelle: DAS ARGUMENT, Nr. 321 (erscheint im 2. Quartal 2015)
Christian Sigrist (1935-2015)
Mitte Februar 2015 verstarb Christian Sigrist plötzlich infolge eines häuslichen Unfalls. Wir trauern um einen ungewöhnlichen Menschen, der immer wieder wichtige Impulse zu kritischem Denken gegeben hat, an dem sich sicher auch viele gerieben haben. Vor allem war Christian Sigrist ein Exponent radikaler kritischer Soziologie und Anthropologie. Dies kam vor allem in seiner konsequenten Kritik an Vorstellungen der Unvermeidlichkeit und Universalität der Herrschaft von Menschen über Menschen zum Ausdruck.
Zutiefst geprägt durch die Erfahrung der Diskriminierung und existenziellen Gefährdung unter dem NS-Regime, verband Christian Sigrist seit seinen Studienjahren in Freiburg i.Br. die Leidenschaft für sozialwissenschaftliche Forschung und Theoriebildung mit einem politischen Engagement, das manche aus seinem Umkreis gelegentlich auch überforderte. Vor dem Hintergrund der Begegnung mit der social anthropology am Institut für Soziologie und Ethnologie in Heidelberg entstand seine Dissertation, zugleich sein opus magnum: Regulierte Anarchie. Den auf Émile Durkheim zurückgehenden theoretischen Ansatz verband Christian Sigrist mit der komparativen Analyse vorliegender Studien über akephale Gesellschaften, zumal in Afrika, die sich angesichts des Fehlens oder gar der bewussten Vermeidung einer Zentralinstanz als herrschaftsfrei erwiesen. Wie Sigrist später präzisierte, schloss dies deutliche Machtgefälle vor allem aufgrund der Geschlechterverhältnisse, aber auch entlang von Altersstufen, freilich nicht aus. Zunächst führte ihn die Frage nach der andauernden Realität solcher Verhältnisse nach Afghanistan und auf die Geheimnisse des paschtunischen Rechts- und Ehrenkodex, des Pashtunwali. Diese Forschung begründete eine lebenslange Faszination und ein persönliches Engagement.
Der Aufbruch der Student*innen-Bewegung versprach dann völlig neue Chancen der politischen und gesellschaftlichen Veränderung auch in der Bundesrepublik Deutschland. Auf das Scheitern des Versuchs, die ambivalenten Ansätze in Heidelberg in ein institutionalisiertes kritisches Wissenschaftsprogramm zu überführen, folgten die Berufung nach Münster im Jahr 1971 und intensive Auseinandersetzungen um Formen und Perspektiven einer linken Soziologie. Die praktische Kritik an Herrschaftsinstitutionen, die Unterstützung des Protests gegen einen faschistischen Professor in Bochum, die Teilnahme an der Kampagne gegen die Isolationshaft politischer Häftlinge und endlich das Insistieren, dass der Tod eines Prozessbeobachters in Duisburg während eines Polizeieinsatzes aufgeklärt werden müsse, führten zu Straf- und Disziplinarverfahren, die während seiner kreativsten Jahre Lebensfreude und Energie raubten. Dennoch nutzte er die Chancen, die der Sieg nationaler Befreiungsbewegungen vor allem in Guiné-Bissau und Kapverde ab 1974 zu bieten schien, um sich aktiv an den erhofften gesellschaftlichen Veränderungen zu beteiligen, vor allem an der Agrarreform in Kapverde. Nach dem Ende der sowjetischen Besetzung forschte Christian Sigrist wieder in Afghanistan. Daneben setzte er sich intensiv und kritisch mit der zeitgenössischen soziologischen Theorie auseinander, die dies verdiente, so namentlich jener Niklas Luhmanns. Bis in die letzte Zeit erhob er öffentlich Protest an den vielen Stellen, wo ihm dies notwendig erschien.
Vor allem aber war Christian Sigrist für viele Studierende ein manchmal sperriger, aber ungemein anregender und anstoßender Lehrer, wenn sie sich einmal auf ihn eingelassen hatten. Das gilt nicht nur für diejenigen, die heute an deutschen und internationalen Hochschulen lehren und forschen, sondern – vielleicht wichtiger – für die viel Zahlreicheren, die im Schuldienst kritische Impulse weitertragen. Auch diese Zeitschrift hätte es vermutlich nie gegeben, hätte Christian Sigrist nicht entscheidend dabei mitgearbeitet, eine umfassende, Gesellschaftsgrenzen überschreitende Sozialforschung und Gesellschaftstheorie voranzutreiben. Ganz praktisch sorgte er dafür, dass am Institut für Soziologie in Münster Freiräume bestanden, die gerade für die Anfangsphase der PERIPHERIE entscheidend wichtig waren. Als Beiratsmitglied war er dem Projekt lange Jahre bis zuletzt verbunden. Viele der früheren und heutigen Mitglieder unseres Redaktionskreises waren seine Schüler, haben zeitweise eng mit ihm kooperiert und sehen sich bis heute seinem Programm verpflichtet, für das er stand. Dass dessen institutionelle Verankerung nicht in der einmal erhofften Form und in dem einmal möglich erscheinenden Ausmaß gelungen ist, gehört zur Problematik seiner Generation. Diese Perspektive immer neu zu denken und voranzutreiben, bleibt sein Vermächtnis.
Wir verlieren mit Christian Sigrist einen stets kritischen Wegbegleiter und langjährigen Unterstützer und Freund.
Aus: Peripherie. Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt, Nr. 137 (2015)
Zum Tod von Prof. Dr. Christian Sigrist – Bis zuletzt gegen Wilhelm II. Von Jörg Rostek
Der Soziologe Christian Sigrist war nicht nur ein kritischer Intellektueller und engagierter Lehrer und Wissenschaftler, wie die Westfälische Wilhelms-Universität heute in einer Pressemitteilung schreibt; er war einer der größten Kritiker der Benennung der Wilhelms-Universität Münster nach Kaiser Wilhelm II. und lehnte diesen Namen bis zuletzt ab. So führte Christian Sigrist im Jahr 1997 in der Debatte um die Umbenennung der Westfälischen Wilhelms- Universität als Mitglied einer entsprechenden Universitätkommission in einer Vorlage („Wilhelm II. Und der Antisemitismus – Vorlage für die Universitätskommission: Namensänderung der WWU?“, hier als pdf) aus, dass durch die Person Wilhelm II. eine antisemitische und rassenideologische Gesinnung “die Machtmittel hatte, die aus dem Rassenwahn hervorgehenden Vernichtungsphantasien wenigstens in den afrikanischen Kolonien zu realisieren“. Rassistische Ideologie und Militärismus hätten sich, so Sigrist, in der wilhelminischen Kolonialpolitik “verhängnisvoll kombiniert.”
Christian Sigrist macht in seiner Schrift Wilhelm II. direkt für den „versuchten Genozid an den Herero und den versuchten Ethnozid an den Nama im deutschen Schutzgebiet Südwestafrika“ verantwortlich. Erst auf Drängen des damaligen Reichskanzlers Bülow, sei Wilhelm II. überredet worden, den „Ausrottungsbefehl“ abzumildern. Laut Schätzungen, schreibt Sigrist, hätten nur ein Drittel der Herero die Vernichtung überlebt.
„Dass der Krieg die Herero als Nation nicht definitiv auslöschen konnte, ändert nichts daran, dass dieses Ziel verfolgt und vom Kaiser selbst gebilligt wurde. Auch das schlechte Beispiel, das andere Kolonialmächte gaben, z.B. die Briten im Burenkrieg, mindert die persönliche Schuld des Kaisers nicht“, so Sigrist und schließt seine Schrift mit dem Satz: „Dass diese Phantasien zur vernichtenden Gewalt wurden in einer den Kaiser mit Schuld beladenden Weise schließt aus, dass die Universität Münster im Bewusstsein dieser Zusammenhänge weiterhin seinen Namen trägt.“
Keine Frage, dass dieser Satz heute noch gilt. Traurige Tatsache: Die Universitätskommission zur Umbenennung der Universität Münster sprach sich mit 6:4 Stimmen für die Umbenennung aus (siehe iley-Artikel). Die Entscheidung darüber ließ der Senat jedoch im Sande verlaufen, “bis das Rektorat die Sache endgültig für erledigt erklärte”.
Jörg Rostek, 26. Februar 2015
Rüdiger Haude: Anarchie im gelobten Land
Christian Sigrists unverhoffter Beitrag zur Religionswissenschaft
Das Schlagwort von der Interdisziplinarität muss keine leere Hülse sein - das zeigt das wissenschaftliche Wirken von Christian Sigrist, der die ethnologische Einsicht in die Möglichkeit, ohne Befehl und Gehorsam zusammenzuleben, in die Soziologie einspeiste. Damit konnte man sich Gedanken darüber machen, wie der Abbau von Herrschaft in der Gegenwart möglich ist - anthropologische Hindernisse standen dem jedenfalls nicht entgegen. Sigrists wichtigstes Buch - die "Regulierte Anarchie" von 1967 - schlug ironischerweise aber in noch einem ganz anderen Fach die höchsten Wellen: in der Religionswissenschaft.
Sigrist hatte die heidnischen "segmentären Gesellschaften" Afrikas untersucht, bei denen die Verwandtschaftsstruktur das politische Regulativ lieferte, das andernorts durch herrschaftliche Gewalt ersetzt wurde. Diese segmentären Gesellschaften hatten, wie sich zeigte, eine recht genaue Analogie in den zwölf "Stämmen" Israels, von denen die Bibel berichtet, dass sie eine ganze Weile im "gelobten Land" lebten, bevor sie sich ungefähr 1000 Jahre vor unserer Zeitrechnung zum ersten Mal einen König gaben.
Nicht, dass eine solche Analogiebildung 1967 ganz neu gewesen wäre. Schon der französische Soziologe Émile Durkheim, der den Begriff "segmentäre Gesellschaft" um die vorletzte Jahrhundertwende geprägt hatte, hatte die "Hebräer" diesem segmentären Typus zugeschlagen, bei dem die Familien "in freier Selbständigkeit nebeneinander" lebten. Und zur gleichen Zeit hatte in Deutschland der protestantische Theologe Julius Wellhausen eben diese Hebräer als Parallelfall behandelt, als er die Araber seiner Zeit als "Ein Gemeinwesen ohne Obrigkeit" beschrieb.
Die britischen Ethnologen, auf die Sigrist sich in der "Regulierten Anarchie" hauptsächlich bezog, haben in ihren Lehrveranstaltungen die Bibel ständig als Mittel zur Veranschaulichung herangezogen. Namentlich Edward E. Evans-Pritchard, der in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts die Nuer im Südsudan erforschte, versicherte, bei diesen fühle sich der Ethnologe und der Missionar wie in alttestamentlichen Zeiten. Was ihm bei den Nuer außerdem auffiel, fasste er in die Worte: "Die geordnete Anarchie, in der sie leben, passt gut zu ihrem Charakter, denn es ist unmöglich, unter den Nuer zu leben und sich vorzustellen, dass Herrscher über sie herrschen". Der logische Rückschluss auf politische Verhältnisse und "Charakter" der Menschen in alttestamentlichen Zeiten musste nur noch ausdrücklich vollzogen werden. Und dies geschah in einer Zeit, als man auch begann, die biblischen Mythologien mit dem Instrumentarium der strukturalistischen Ethnologie zu analysieren. Die Begegnungsgeschichte von Bibelwissenschaft und Ethnologie hat der Theologe Bernhard Lang 1984 in einem Aufsatz mit dem Titel "Spione im gelobten Land" dargestellt. Christian Sigrist spielt darin eine wichtige Rolle.
Sigrists Leistung besteht einerseits darin, die Arbeiten der britischen "social anthropologists" dahingehend systematisiert zu haben, dass er die politische Rolle des Verwandtschaftssystems in den segmentären staatslosen Gesellschaften präzise bestimmte und mit kulturellen Phänomenen wie dem ausgeprägten Gleichheitsbewusstsein, oder mit ökonomischen Bestimmungen wie egalitären Erbrechtsregelungen in Zusammenhang brachte. Er beschrieb kulturvergleichend die politisch exponierten Rollen ("Instanzen") in diesen Kulturen, die Arbeitsteilung und andere Dimensionen der Ungleichheit, und zeigte, wie diese davon abgehalten wurden, in verfestigte Befehl-Gehorsams-Strukturen abzugleiten. Außerdem analysierte er Widerstandsbewegungen, die sich als Folge einer Staatsentstehung herausbildeten, solange das vorstaatliche "Gleichheitsbewußtsein" noch nicht zurückgedrängt war. Mit dem aus der politischen Soziologie Max Webers entlehnten Konzept der "Regulierten Anarchie" verpasste er den Einsichten der "social anthropologists" eine fruchtbare politische Zuspitzung.
Andererseits ist für die Rezeptionsgeschichte auch wichtig, dass Sigrist die Einsichten der britischen Ethnologen in den deutschsprachigen Diskurs übersetzte. So waren sie für die deutschen Theologen der 70er und 80er Jahre greifbar, die schwerlich eine Sprach- und eine Disziplingrenze zugleich überwunden hätten.
Der israelische Religionshistoriker Abraham Malamat hat 1973 die Parallelität der biblischen mit afrikanischen Genealogien aufgezeigt, wobei er sich auf genau dieselben Ethnien bezog wie Sigrist. Malamats Arbeit war den deutschen Theologen bekannt. Aber das explosive politische Potenzial, das in der Soziologisierung der Bibelexegese steckte, musste noch entdeckt werden. In den USA wurde dieses Potenzial einige Jahre später durch Forscher wie Norman Gottwald mit der Theorie entfaltet, das alte Israel sei aus einer sozialrevolutionären Bewegung von Bauern entstanden. Als durch die Verarbeitung von Eisen und weitere technologische Entdeckungen das palästinische Hochland landwirtschaftlich erschließbar wurde, seien in der schon lange unruhigen Region die Bauern den kanaanäischen Stadtkönigen schlicht ins Gebirge davongelaufen, um dort ihr eigenes, königloses Gemeinwesen zu errichten - vielleicht unterstützt von einer kleinen "Mose-Schar" entlaufener ägyptischer Fronarbeiter, die den Gründungsmythos der Befreiung mitbrachten. (Israel wäre insofern vergleichbar mit den "maroon societies" geflohener Sklaven in den Amerikas der Neuzeit - diese strukturelle Analogie ist nach meiner Kenntnis noch nicht systematisch untersucht worden.)
In Deutschland, wo man bei der Methode der "kritisch-historischen" Bibelexegese traditionell weltweit führend war, unternahm es der Alttestamentler Frank Crüsemann 1978 zum ersten Mal, die herrschaftsfeindlichen Texte des Alten Testaments durch Rückgriff auf Sigrists Ansatz zu analysieren. In seinem Buch "Der Widerstand gegen das Königtum" liest er sowohl die biblisch überlieferten Zentralisierungsprozesse als auch die Zeugnisse antiherrschaftlichen Widerstands durch die Brille der "Regulierten Anarchie", deren sechstes Kapitel sich mit ebensolchen Vorgängen im ethnografischen Befund beschäftigte. Er sehe, schrieb Crüsemann, "keinen einzigen Punkt, wo sich ein Sigristsches Theorem durch das Material in Israel falsifizieren lässt".
An Crüsemann schloss 1983 Christa Schäfer-Lichtenberger mit ihrer Untersuchung israelitischer Städte an. Nicht nur betrachtete sie die dörflichen Siedlungen der Israeliten in der vorstaatlichen Richterzeit als "Regulierte Anarchie", sondern fand auch einen Idealtyp israelitischer Städte, der dem Modell einer "primitiven Demokratie" folgte, wo also Entscheidungen von Volksversammlungen und Ältestenräten gefällt wurden.
Für den Rest des 20. Jahrhunderts war die Annahme, beim vorstaatlichen ("richterzeitlichen") Israel habe es sich um eine "Regulierte Anarchie" im Sinne Sigrists gehandelt, das dominierende Paradigma. Nicht nur im deutschsprachigen Diskurs: In Dublin resümierte der Alttestamentler A.D.H. Mayes 1989: "Es ist jetzt üblich geworden, das vormonarchische Israel als eine segmentäre Gesellschaft zu denken." Dass dies auf der Arbeit von Sigrist beruhte, machte er dabei deutlich. Den Impuls der "Regulierten Anarchie" trieben in Deutschland Theologen wie Rainer Albertz oder Rainer Neu weiter. Albertz betonte, dass die Abwesenheit von Herrschaftsinstanzen im biblischen Buch der Richter nicht länger als Mangel, sondern nur noch als Folge intentionalen Handelns verstanden werden könne. Neu führte vor allem die nomadischen Traditionen des Alten Testaments zur Stützung der These von Israel als einer segmentären Gesellschaft an.
Norbert Lohfink, als Jesuit eine katholische Stimme in diesem sonst hauptsächlich protestantischen Konzert, steuerte das Argument bei, dass der biblische Gedanke eines "Gottesreichs" Ausdruck der Staatsablehnung gewesen sei. Gott sollte herrschen, damit sich kein Mensch auf den Thron setzen konnte. So rief der israelitische "Richter" Gideon, dem laut Bibel das Königtum angetragen wurde, aus: "Nicht ich will über euch herrschen, und mein Sohn soll auch nicht über euch herrschen, sondern Jahweh soll über euch herrschen." Solche religiöse Absicherung der Abwesenheit menschlicher Regierung hatte schon im 17. Jahrhundert der portugiesisch-niederländische Philosoph Baruch de Spinoza in seinem "Theologisch-politischen Traktat" als "Theokratie" bezeichnet, aus der völlige politische Gleichheit folge. Nun, Ende des 20. Jahrhunderts, wurde dieser Begriff durch den Ägyptologen Jan Assmann, der sich ebenfalls an der bibelbezogenen Sigrist-Rezeption beteiligte, weiter differenziert: Die Theokratie, von der Lohfink und Spinoza sprachen, sei eine "identitäre Theokratie"; sie könne in eine "repräsentative Theokratie" umschlagen, bei der die Herrschaft Gottes wieder durch Menschen vermittelt sei; statt Regulierter Anarchie hätten wir dann wieder einen, womöglich despotischen, Staat.
Assmannn lieferte auch den interessanten Gedanken, dass die "politische Theologie" des richterzeitlichen Israel in Abgrenzung von der ägyptischen Weltanschauung gedacht werden müsse. In dem "Bund", den Gott mit Israel schließt, ist der Pharao in zwei Richtungen negiert: als Vertragspartner der Gottheit wird er durch das Volk ersetzt; als Herrschaftsinstanz durch Gott. Die "Herausführung aus dem Sklavenhause" Ägypten ist der Gründungsmythos Israels. Dieser herrschaftsfeindliche Impuls ist eine ebenso starke Herausforderung für unerbittliche Religionskritik wie für jahrtausendelang erlernte staatstreue Frömmigkeit.
Im 21. Jahrhundert ebbte das Paradigma vom alten Israel als "Regulierter Anarchie" wieder ab. Ich selbst habe zu dieser Zeit Analysen zur Rolle der Schriftlichkeit im herrschaftsfreien Kontext, zur Frage der Geschlechterverhältnisse und ihrer Dynamik beim Übergang zum Staat, und zur politischen Funktion biblischer Mythen (wie der Jona-Erzählung oder der Geschichte vom Turmbau zu Babel) vorlegen können. Dabei durfte ich nicht nur auf persönliche theoretische Anregungen, sondern auch auf praktische Unterstützung durch Christian Sigrist zurückgreifen. Daran denke ich heute, nach seinem überraschenden Tod, dankbar zurück.
Es wurde aber zunehmend schwerer, diesem Ansatz Gehör zu verschaffen. Einleuchtende Gründe dafür, dass man das vormonarchische Israel nun nicht mehr als segmentäre Gesellschaft betrachten solle, habe ich kaum vernommen - auch wenn nicht jedes Detail, das die britischen "social anthropologists", wie auch die Sigrist-Schule der Geschichtsforschung zum alten Israel, vorgetragen haben, heute noch Bestand hat. Kulturhistorische Theorien sind offenbar nur in passenden Gegenwarts-Kontexten denkbar, und in Zeiten des amoklaufenden Neoliberalismus fällt es wohl zunehmend schwer, Staatsabbau und politisch-ökonomische Gleichheit in einem Gedanken zu vereinen.
Christian Sigrist hat sich über die unerwartete Wirkung seiner "Regulierten Anarchie" im Felde der Religionswissenschaft gefreut. Dies bedeute, so schrieb er im Vorwort der dritten Auflage des Buchs im Jahre 1994, "daß das Anarchie-Thema in einen religiösen Kontext eingebracht und so von der Wissenschaft her die hergebrachte enge Sichtweise der Verbindung von Thron und Altar aufgebrochen wird". Zusammen mit Rainer Neu brachte er 1989 und 1997 zwei Anthologien "Ethnologische Texte zum Alten Testament" heraus, die den Theologen Handwerkszeug bei der Arbeit mit der Theorie der "Regulierten Anarchie" bieten. Ich benutze hier den Präsens, denn einer Anknüpfung an dieses Paradigma steht aus wissenschaftlicher Sicht nichts entgegen.
Aus: "junge welt". Der Text ist mit der veränderten Überschrift "Anarchie im Alten Testament" am 21. März 2015 in der jw erschienen (Beilage "faulheit & arbeit", S.6f).
Erinnerungen an Christian Sigrist. Von Abdulkader Saleh Mohammad
Mein Name ist Dr. Abdulkader Saleh Mohammad aus Eritrea. Ich kam auf abenteuerlichen Wegen aus meinem Heimatland nach Münster, wo ich 1974 als Student der Soziologie Prof. Sigrist kennenlernte. Er begleitete mich bis zu meiner Promotion 1984 durch mein gesamtes Studium am Institut für Soziologie.
Meine KommilitonInnen und ich kannten Prof. Sigrist als kritischen Soziologen in der damaligen konservativen Bundesrepublik Deutschland. Er sympathisierte mit Befreiungsbewegungen in Afrika, vor allem mit den ehemaligen portugiesischen Kolonien wie Guinea-Bissau und auch mit Simbabwe. In seinen Vorlesungen übte er klare Kritik an diktatorischen Regierungen, wie im Iran und Afghanistan. Wegen seiner kritischen Einstellung wurde er vom Verfassungsschutz 'beschattet' und seine damaligen Doktoranden wurden als Revolutionäre betrachtet. Die meisten von ihnen kamen aus Afrika, Iran, Lateinamerika und Südeuropa. Er hat sich sehr für seine Studenten engagiert und half ihnen, ihre persönlichen Probleme zu bewältigen.
Ich traf Prof. Sigrist zum letzten Mal bei einem Alumni-Treffen an der WWU Münster im Dezember 2013. Er fragte mich, warum ich wieder zurück nach Europa gekommen bin, da ich an der Uni Oslo in Norwegen arbeitete, und wir unterhielten uns lange über die Lage in meinem Heimatland. Ich habe ihm mitgeteilt, dass die ehemaligen marxistischen 'Befreier' sich in Diktatoren verwandelt haben, worüber er lachen musste. Ich werde ihn stets als humorvollen, freundlichen und engagierten Menschen in Erinnerung behalten.
Mit freundlichen Grüßen,
Prof. Abdulkader Saleh Mohammad,
Senior Advisor
International Law and Policy Institute
Parkveien 37, 0258 Oslo, Norway
Werke (eine Auswahl)
- Macht und Herrschaft (Hg.) (2004)
- Ethnologische Texte zum Alten Testament, Teil 2.: Die Entstehung des Königtums.
- Regulierte Anarchie. Untersuchungen zum Fehlen und zur Entstehung politischer Herrschaft in segmentären Gesellschaften Afrikas (1967).
- Das Rußlandbild des Marquis de Custine. Von der Civilisationskritik zur Russlandfeindlichkeit (1990).
- Wissenschaft, Widerstand und Autorität (1981)
- Wissenschaftsfreiheit heute. Zensur und Kriminalisierung? am Beispiel des Soziologen Prof. Christian Sigrist. (1980)
- Indien. Bauernkämpfe: die Geschichte einer verhinderten Entwicklung, von 1756 bis heute
- Probleme des demokratischen Neuaufbaus in Guinea-Bissao und auf den Kapverdischen Inseln (1977)
Im Verlag Syndikat hat er zusammen mit Fritz Kramer herausgegeben:
- Gesellschaften ohne Staat. Bd. 1: Gleichheit und Gegenseitigkeit; Bd. 2: Genealogie und Solidarität (beide 1978)
Zu Sigrists 65. Geburtstag erschienen Ende März 2000 die Festschriften
- "Soziologie im Minenfeld" als sechster Band der wissenschaftlichen Buchreihe "Kulturelle Identität und politische Selbstbestimmung in der Weltgesellschaft".
- "Subjekte und Systeme. Soziologische und anthropologische Annäherungen" .
Weblinks
- Der beste Mann für Afghanistan. Von Michael Billig, in: inley.de - Onlinemagazin, KULTUR | NACHRUF, 03.03.2015.