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Christian Sigrist - Gedenkseite: Unterschied zwischen den Versionen

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Redaktion [http://graswurzel.net Graswurzelrevolution]<br>
 
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Münster, 3. März 2015
 
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==Christian Sigrist. Von Moema und Johannes Augel==
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Wir trauern um Christian Sigrist. Die Amílcar Cabral-Gesellschaft verliert mit Christian, wie schon vor etwas mehr als einem Jahr mit Ute Sigrist, zwei ihrer Gründungsmitglieder. Beiden sind wir dankbar für die Initiative zur Gründung der ACG und für kritische Begleitung seit ihren Anfängen 1975.
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Christian konnte hartnäckig sein. Bei den in den Mitgliederversammlungen sporadisch auftauchenden Diskussionen um die Auflösung des Vereins widersetzte er sich vehement solchen Vorschlägen. Als Idealist, der er war, glaubte er trotz entgegenstehender Evidenz an die Überzeugungen des antikolonialen Befreiungskampfs, die uns allen vor vierzig Jahren leichter über die Lippen gingen als heute. Ohne Christian Sigrist und seinen beharrlichen Glauben an eine bessere Zukunft für Guinea-Bissau und Kap Verde gäbe es die Amílcar Cabral-Gesellschaft wahrscheinlich seit vielen Jahren nicht mehr.
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Christian Sigrist hatte anfangs an eine enge politische Zusammenarbeit zwischen ACG und der Einheitspartei PAIGC gedacht. Das war wohl von vornherein zu optimistisch. Als es 1981 zur Krise, zum Putsch und zur Machtübernahme von Nino Vieira kam, waren viele Mitglieder des Vereins überzeugt, dass sich die Zielsetzungen der Amílcar Cabral-Gesellschaft nicht mehr angemessen verfolgen ließen. Christian und Ute haben sich damals ein wenig von der aktiven Teilnahme zurückgezogen. Vielleicht waren sie desillusioniert. Die Ereignisse in Guinea-Bissau unter der autokratischen Herrschaft von Nino Vieira und die nachfolgenden Wirren boten kein Klima mehr für politisches Engagement. Strategisch sah Christian die augenblickliche Ausrichtung der ACG auf Guinea-Bissau als nicht besonders sinnvoll an, da Kap Verde potenziell mehr Menschen interessiert.
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Im vergangenen Jahr zeigte sich Christian Sigrist sehr erfreut über eine Reihe neuer Aktivitäten der ACG in Guinea-Bissau. Obwohl er - auch aus gesundheitlichen Gründen - nicht aktiv teilnahm, war es ihm wichtig, sich über laufende Projekte zu informieren; der Verein lag ihm offensichtlich sehr am Herzen. Er regte an, anlässlich des vierzigjährigen Bestehens der ACG die Jahresversammlung 2015 mit einer wissenschaftlichen Tagung zu verbinden; er wollte einen Vortrag zur Geschichte der Amílcar Cabral-Gesellschaft halten und sich auch finanziell engagieren. Seine Zeit in Kap Verde scheint ihn besonders geprägt zu haben. In den Gesprächen mit Christian zeigte sich deutlich, wie sehr ihn der Tod seiner geliebten Frau Ute erschüttert hatte.
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In Nummer 288 der Zeitschrift "Das Argument" veröffentlichte Christian Sigrist 2010 einen Aufsatz über Amílcar Cabral. Er hat mit uns telefonisch Stunden lang seine Einschätzungen zu diesem Pionier der Befreiungsbewegungen ausgetauscht. In diesem Beitrag zeigt sich deutlich, weshalb nach Cabrals Tod und angesichts der zunehmend autokratischen Herrschaft in Guinea-Bissau auch Sigrist seine Hoffnungen und sein konkretes Engagement auf Cabo Verde richtete.
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Wir danken Christian und Ute Sigrist für ihre wissenschaftlichen und menschlichen Verdienste. Wir schließen in diesem Dank auch die Grüße von Freunden aus Guinea-Bissau ein. Wir teilen die Trauer ihrer Familie und der großen Zahl der Freunde und Weggefährten. Mehr als die Trauer um den Verlust ist es aber die Dankbarkeit, Christian und Ute gekannt zu haben; es sind ihre Visionen und ihr Engagement, die die Amílcar Cabral-Gesellschaft und auch uns persönlich beeinflusst und geprägt haben.
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Im Namen der [http://www.amilcar-cabral-gesellschaft.de/ Amílcar Cabral-Gesellschaft]
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Moema und Johannes Augel,<br>Bielefeld im Juni 2015
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Version vom 21. Juni 2015, 16:47 Uhr

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Christian Sigrist als Redner bei der Einweihung der Paul-Wulf-Skulptur "Münsters Geschichte von unten" am 5.9.2010 in Münster. Foto: Volker Pade (Freundeskreis Paul Wulf)

Christian Sigrist ist tot

Am 14. Februar 2015 ist in Münster der libertär-marxistische Ethnologe und Soziologe Christian Sigrist gestorben.

Christian Sigrist (geb. am 25. März 1935 in St. Blasien) promovierte 1965 mit einer Studie über Segmentäre Gesellschaften in Afrika und unternahm in der Folgezeit Feldforschungen in Afghanistan und Guiné-Bissau. Sigrists Forschung konzentrierte sich auf die Gebiete: Theorie der Übergangsgesellschaften, Befreiungsbewegungen, Agrar-, Rechts-, Entwicklungssoziologie, Anthropologie. Er veröffentlichte darüber hinaus zahlreichen Artikel und Reportagen zu Problemen der Dritten Welt.

Bekannt wurde Sigrist vor allem durch seine Studie "Regulierte Anarchie. Untersuchungen zum Fehlen und zur Entstehung politischer Herrschaft in segmentären Gesellschaften Afrikas", mit der er maßgeblich dazu beigetragen hat, dass die deutschsprachigen Anthropologie und Ethnologie in den 1960er und 1970er Jahren den Anschluss an die libertäre Schule der angloamerikanischen Social Anthropology gefunden hat.

Seit 1971 war Sigrist bis zu seiner Emeretierung im Jahr 2000 als Professor für Soziologie an der Universität in Münster tätig. Ab 1978 war er zudem als agrarsoziologischer Berater des kapverdischen Ministers für ländliche Entwicklung aktiv.

Wer seine Erinnerungen an Christian Sigrist mit uns teilen möchte, kann sie auf der Diskussions-Seite veröffentlichen. Wir übernehmen dann die Texte hier auf die Christian-Sigrist-Gedenkseite.

Falls jemand Probleme mit dem Schreiben auf der Diskussions-Seite haben sollte, der kann uns seinen Text und gerne auch Fotos zur Veröffentlichung auf der Gedenkseite per E-Mail schicken an: redaktion@dadaweb.de.

Jochen Schmück
Redaktion DadAWeb.de



Einladung zur Christian Sigrist-Gedenkveranstaltung

Liebe Freundinnen, Freunde und Weggefährten von Christian Sigrist,

hiermit lade ich Euch ganz herzlich zur Christian Sigrist-Gedenkveranstaltung ein. Die Feier findet am 15. Juni ab 18 Uhr in der Brücke (Wilmergasse, Münster) statt. Es würde mich sehr freuen, wenn Ihr kommt und Eure Erinnerungen an Christian mit uns teilt.

Damit ich einschätzen kann, wieviele Menschen ungefähr kommen, teilt mir bitte mit, ob Ihr teilnehmen wollt. Wenn Ihr einen Redebeitrag halten möchtet, teilt mir das bitte ebenfalls mit, damit ich das bei der Planung der Feier berücksichtigen kann.

Für den musikalischen Teil der Veranstaltung werden Nils Zurawski und Reinald Döbel sorgen, wie schon bei der sehr bewegenden Gedenkfeier für Ute Sigrist 2014.

Bis jetzt sind schon Nachrufe in der "jungen Welt", im "Freitag" und auf "iley" erschienen. Wolf-Dieter Narrs Nachruf auf Christian erscheint voraussichtlich im "Argument". Ich werde für die Graswurzelrevolution Nr. 398 einen Nachruf schreiben.

Es wäre schön, wenn Ihr Eure Nachrufe auf Christian, sowie Fotos und Erinnerungen an Jochen Schmück mailt, damit er die Texte und Bilder mit Quellenangabe [hier] auf der Gedenkseite veröffentlichen kann: [mailto: redaktion@dadaweb.de redaktion@dadaweb.de]

Christian wird am 16. April um 14 Uhr in Heidelberg beerdigt. Die Beerdigung wird auf Wunsch der Familie Sigrist im kleinen Kreis stattfinden.

Wir werden Christian nicht vergessen.

Alles Liebe,
Bernd Drücke
Redaktion Graswurzelrevolution
Münster, 3. März 2015



Christian Sigrist. Von Moema und Johannes Augel

Wir trauern um Christian Sigrist. Die Amílcar Cabral-Gesellschaft verliert mit Christian, wie schon vor etwas mehr als einem Jahr mit Ute Sigrist, zwei ihrer Gründungsmitglieder. Beiden sind wir dankbar für die Initiative zur Gründung der ACG und für kritische Begleitung seit ihren Anfängen 1975.

Christian konnte hartnäckig sein. Bei den in den Mitgliederversammlungen sporadisch auftauchenden Diskussionen um die Auflösung des Vereins widersetzte er sich vehement solchen Vorschlägen. Als Idealist, der er war, glaubte er trotz entgegenstehender Evidenz an die Überzeugungen des antikolonialen Befreiungskampfs, die uns allen vor vierzig Jahren leichter über die Lippen gingen als heute. Ohne Christian Sigrist und seinen beharrlichen Glauben an eine bessere Zukunft für Guinea-Bissau und Kap Verde gäbe es die Amílcar Cabral-Gesellschaft wahrscheinlich seit vielen Jahren nicht mehr.

Christian Sigrist hatte anfangs an eine enge politische Zusammenarbeit zwischen ACG und der Einheitspartei PAIGC gedacht. Das war wohl von vornherein zu optimistisch. Als es 1981 zur Krise, zum Putsch und zur Machtübernahme von Nino Vieira kam, waren viele Mitglieder des Vereins überzeugt, dass sich die Zielsetzungen der Amílcar Cabral-Gesellschaft nicht mehr angemessen verfolgen ließen. Christian und Ute haben sich damals ein wenig von der aktiven Teilnahme zurückgezogen. Vielleicht waren sie desillusioniert. Die Ereignisse in Guinea-Bissau unter der autokratischen Herrschaft von Nino Vieira und die nachfolgenden Wirren boten kein Klima mehr für politisches Engagement. Strategisch sah Christian die augenblickliche Ausrichtung der ACG auf Guinea-Bissau als nicht besonders sinnvoll an, da Kap Verde potenziell mehr Menschen interessiert.

Im vergangenen Jahr zeigte sich Christian Sigrist sehr erfreut über eine Reihe neuer Aktivitäten der ACG in Guinea-Bissau. Obwohl er - auch aus gesundheitlichen Gründen - nicht aktiv teilnahm, war es ihm wichtig, sich über laufende Projekte zu informieren; der Verein lag ihm offensichtlich sehr am Herzen. Er regte an, anlässlich des vierzigjährigen Bestehens der ACG die Jahresversammlung 2015 mit einer wissenschaftlichen Tagung zu verbinden; er wollte einen Vortrag zur Geschichte der Amílcar Cabral-Gesellschaft halten und sich auch finanziell engagieren. Seine Zeit in Kap Verde scheint ihn besonders geprägt zu haben. In den Gesprächen mit Christian zeigte sich deutlich, wie sehr ihn der Tod seiner geliebten Frau Ute erschüttert hatte.

In Nummer 288 der Zeitschrift "Das Argument" veröffentlichte Christian Sigrist 2010 einen Aufsatz über Amílcar Cabral. Er hat mit uns telefonisch Stunden lang seine Einschätzungen zu diesem Pionier der Befreiungsbewegungen ausgetauscht. In diesem Beitrag zeigt sich deutlich, weshalb nach Cabrals Tod und angesichts der zunehmend autokratischen Herrschaft in Guinea-Bissau auch Sigrist seine Hoffnungen und sein konkretes Engagement auf Cabo Verde richtete.

Wir danken Christian und Ute Sigrist für ihre wissenschaftlichen und menschlichen Verdienste. Wir schließen in diesem Dank auch die Grüße von Freunden aus Guinea-Bissau ein. Wir teilen die Trauer ihrer Familie und der großen Zahl der Freunde und Weggefährten. Mehr als die Trauer um den Verlust ist es aber die Dankbarkeit, Christian und Ute gekannt zu haben; es sind ihre Visionen und ihr Engagement, die die Amílcar Cabral-Gesellschaft und auch uns persönlich beeinflusst und geprägt haben.

Vielen Dank!

Im Namen der Amílcar Cabral-Gesellschaft

Moema und Johannes Augel,
Bielefeld im Juni 2015




Schneller denken. Erinnerungen an Christian Sigrist. Von Ralf Syring

"Griechischer Professor lehrt in Deutschland Faschismus, verfolgt wird ein anderer" - so schrieb nach einem Artikel in der "Zeit" vom 11. März 1977 eine griechische Zeitung. Der andere war Christian Sigrist. Damals hatte das Wissenschaftsministerium von Nordrhein-Westfalen - Wissenschaftsminister war Johannes Rau - ein Disziplinarverfahren gegen Christian eingeleitet wegen seiner Gutachten für Studentinnen und Studenten der Ruhr-Universität Bochum und ihre Aktionen gegen den Soziologie-Professor Johannes Papalekas, der sich als Anhänger der griechischen Militärjunta zu erkennen gegeben hatte. Ich weiß nicht mehr sicher, ob es im Zusammenhang der Aktionen gegen Papalekas war oder aus einem anderen Anlaß, daß Christian zu einem Vortrag in der Evangelischen Studenten-Gemeinde in Bochum war. Die ESG Bochum war weithin bekannt als aktiver Teil der Studentenbewegung und ihrer Folgen, auch ESG/ML genannt, was je nach politischer Opportunität mit "Martin Luther" oder "marxistisch-leninistisch" ausgeschrieben werden konnte. Christian dozierte in seiner bekannt schnellen, etwas hastig wirkenden Redeweise. Ein Student, schüchtern aber mutig, unterbrach ihn und bat höflich: "Würden Sie bitte etwas langsamer sprechen". Christian blickte irritiert auf und antwortete: "Nein. Da müssen Sie eben schneller denken."

Viele haben versucht, ihn nicht zum langsameren Sprechen, sondern zum Schweigen zu bringen. Es ist ihnen nicht gelungen.

Ich erinnere mich noch daran, wie ich den schweren Papierstapel der Telefonnachschriften von der Überwachung des Telefons von Christian und Ute in Händen hielt. Das Telefon wurde damals abgehört, als Christian einer Beteiligung an der Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback verdächtigt wurde. Christian war damals Vorsitzender der Amílcar Cabral Gesellschaft, einer Organisation, die nach der Erringung der Unabhängigkeit der beiden ehemaligen portugiesischen Kolonien Kapverde und Guinea-Bissau die Solidaritätsarbeit mit beiden Ländern fortsetzte. Wir hatten einen französischen Arzt auf die guineische Insel Bubaque entsandt. Es gab allerlei Probleme im Zusammenhang mit der Arbeit dieses Arztes, die Christian zu zahlreichen Telefongesprächen mit den zuständigen Behörden in Guinea-Bissau nötigten. Da war somit immer wieder von Bubaque die Rede. Zwischen Bubaque und Buback zu differenzieren, war für die Schützer der Verfassung der BRD zu schwierig.

Es drohte ihm damals Berufsverbot, und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft diskutierte in ihrem Landesvorstand den Gewerkschaftsausschluß aufgrund der Unvereinbarkeitsbeschlüsse des DGB, der, wäre er denn durchgeführt worden, den Weg zum Berufsverbot erleichtert hätte. Die Angriffe, denen er fortgesetzt ausgesetzt war, haben ihn, der ja eine klare Analyse des herrschenden Systems hatte, nicht überrascht. Er hat ihnen widerstanden, jedoch geschah das keineswegs gleichmütig. Immer wieder sah er sich in seiner Würde beschädigt und hat psychosomatisch darauf reagiert.

Christian war der erste Vorsitzende der Amílcar Cabral Gesellschaft, die 1975 gegründet wurde, ein Amt, in dem ich ihm dann nachfolgte. Damals hatten wir große Hoffnungen im Blick auf die Möglichkeiten der beiden Länder Guinea-Bissau und Kapverde. Sie gründeten zum einen auf dem wegweisenden Werk Amílcar Cabrals, zum anderen auf der Einschätzung, daß zum Beispiel Guinea-Bissau für den Imperialismus so wenig bedeutend sei, daß das Land die Chance einer unabhängigen Entwicklung haben könnte. Während wir Wege suchten, Solidarität praktisch werden zu lassen, erreichten uns bald die ersten Nachrichten, die Zweifel aufkommen ließen daran, ob das, was Amílcar Cabral konzipiert hatte, Wirklichkeit werden konnte. Die Diskussionen waren schwierig. So gab es Stimmen, die der Meinung Ausdruck gaben, daß Christian als Berater des Landwirtschaftsministers von Kapverde weit weniger kritisch war, als wir es von ihm hierzulande gewohnt waren. Viele von uns haben damals gelernt, daß der wissenschaftliche Diskurs und der politische ihren jeweiligen Kontext reflektieren müssen und darin Grenzen haben.

Anfang der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts haben wir an der Herausgabe eines Teils der Schriften von Amílcar Cabral in deutscher Sprache zu arbeiten angefangen. 1983 konnten wir schließlich den Band "Die Theorie als Waffe. Schriften zur Befreiung in Afrika" beim CON-Verlag in Bremen herausgeben. Christian und ich schrieben gemeinsam ein Vorwort. Lange haben wir diskutiert über die These von Cabral, die Kleinbourgeoisie, die zwar unter den gegebenen Bedingungen die Rolle des revolutionären Subjekts übernehmen müsse, jedoch wegen ihres schwankenden Charakters die Revolution nicht zu Ende führen könne, müsse als Klasse Selbstmord begehen. Christian war der Meinung, daß dies von Cabral ironisch gemeint sei, und so steht es schließlich im gedruckten Vorwort. Ich habe mich dieser Meinung nie so recht anschließen können, mich aber schließlich seiner Autorität gebeugt.

Christian, Ute und ich haben einander zuletzt gesehen, als ich Anfang 2009 aus dem Gaza-Streifen zurückkam, wo ich als Mitglied einer medizinischen Expertenkommission die Auswirkungen der Angriffe der israelischen Armee auf das Gesundheitswesen und die Gesundheit der Menschen dort untersucht hatte. Wir waren einander jahrelang nicht begegnet, hatten auch keinen Kontakt miteinander gehabt. Doch es war eine jener Begegnungen, die erscheinen, als sei ein Nachdenken, eine Arbeit, ein Projekt nur kurzzeitig unterbrochen gewesen und werde nun fortgesetzt. Wir begegneten einander mit Neugier, Christian wie immer intellektuell fordernd und sogleich solidarisch unterstützend, als er erfuhr, daß ich gleich anschließend eine Arbeit in Kongo-Kinshasa antreten würde.

Christian Sigrist fehlt uns als kritischer, fordernder, nie opportunistischer und immer solidarischer radikaler Mensch.

Juni 2015, Ralf Syring




Ein Soziologe im Minenfeld. Von Bernd Drücke

Bubaque – ein Nachruf. Erinnerungen an meinen lieben Freund, Genossen, Doktorvater und Mentor Christian Sigrist


Als meine Liebste und ich am 14. Februar 2015 in der Uni-Klinik Münster eintrafen, kamen wir zu spät. Ein Arzt trat uns aus Christians Patientenzimmer entgegen: „Professor Sigrist ist vor einer halben Stunde gestorben.“ Christian war einige Tage zuvor zu Hause die Treppe heruntergefallen und lag mehrere Stunden lang auf dem Boden, bevor ihn morgens eine seiner Assistentinnen fand und ins Krankenhaus brachte. Am 25. März 2015 wäre er achtzig Jahre alt geworden.

Wir hatten nicht damit gerechnet, dass er so plötzlich sterben könnte.


Wer war Christian Sigrist?

Geboren am 25. März 1935 im süddeutschen St. Blasien, hatte Christian eine traumatische Kindheit, die ihn sein Leben lang prägte und auch seine bisweilen befremdlich wirkenden Marotten erklären kann.

Christians Vater war nach der Schließung des Internats auf Schloss Salem wegen „jüdischer Versippung“ mit einem Berufsverbot belegt. 1935 wurde er am Kolleg St. Blasien als Philologe angestellt und dort „schamlos ausgenutzt“, erzählte Christian.


Schüler in St. Blasien

Ab September 1946 war Christian Schüler in diesem Eliteinternat, bis er im Dezember 1947 rausgeschmissen wurde, weil er nach Ansicht des Rektors die „Internatsdisziplin untergraben“ habe. In einem Artikel in der „Neuen Rheinischen Zeitung“ beschrieb Christian im April 2010 das Klima in diesem jesuitischen Internat, das von Gewalt, Antisemitismus, Unterdrückung und Prüderie geprägt war:

„Physische und psychische Misshandlung war das Problem jener Jahre. Die schärfste physische Sanktion war der ‚Hosenspanner‘, eine auf einem eigens dafür konstruierten Pult mit dem Rohrstock vollzogene Prügelstrafe, ausgeführt vom Generalpräfekten, der anschließend die Tränen des Delinquenten mit einem speziell dafür vorgesehenen Taschentuch auffing. Hinzu kamen spontane Misshandlungen didaktisch überforderter Lehrer in den Klassenräumen. Trotz dieses repressiven Klimas waren wir alle stolz darauf, Kollegschüler zu sein, zumal selbst uns kleinen Schülern immer wieder gesagt wurde, wir sollten die künftige deutsche Elite werden. … Obwohl wir damals eigentlich ganz andere Sorgen hatten, z. B. Mangelernährung, wurde uns 11- bis 13-Jährigen an einem Abend ein … Vortrag über die Gefahren der islamischen Expansion geboten. Ich war zwar verwundert, aber nicht sonderlich betroffen. Ganz anders sah es dagegen mit den unglaublichen Äußerungen antijüdischer Gesinnung aus – zwei Jahre nach der Befreiung von Auschwitz. Der Mathematikunterricht wurde durch die verzweifelte Prügeldidaktik von Pater Kathold so chaotisiert, dass der Rektor, ein promovierter Theologe mit autoritärer Ausstrahlung, mit seinem Brevier im Klassenraum erschien und sagte: ‚Wir sind hier doch nicht in einer Judenschule!‘ Ich traute meinen Ohren nicht. Er wusste, dass ich ‚Vierteljude‘ war. Am Ende der Quinta, im Sommer 1947, wurden in den letzten Tagen anstelle des regulären Unterrichts Geschichten vorgelesen und Lieder gesungen. Höhepunkt war das mehrstrophige Lied ‚Freut euch des Lebens, Großmutter wird mit der Sense rasiert!‘ Es wurde auch folgende Strophe gesungen:

‚Zwei Juden badeten in einem Fluss/ weil jedes Schwein einmal baden muss./ Der eine ist ersoffen/ vom andern wollen wir’s hoffen.‘

Dieses Lied wurde vom Klassenlehrer und der gesamten Klasse mitgegrölt. Auch ich sang mit im Bewusstsein der Ungeheuerlichkeit. Aber es wäre unmöglich gewesen, da auszuscheren.

Ich habe diesen Moment als schwere Demütigung und Selbsterniedrigung bis heute im Gedächtnis.“ (1)


Zwischen Akademie und Anarchie

Christian Sigrist war libertär-marxistischer Regimekritiker und von 1971 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2000 Soziologieprofessor an der Westfälischen-Wilhelms-Universität (WWU) Münster. Sein Hauptwerk „Regulierte Anarchie“ wurde fünfmal neu aufgelegt und gilt als „ein Meilenstein der Rekonstruktion antistaatlicher Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens“, wie 1997 die anarchistische Zeitschrift „Schwarzer Faden“ Nr. 60 konstatierte.

Christian war ein brillanter Theoretiker und auch Gegenspieler unter anderem zum etatistischen Systemtheoretiker Niklas Luhmann.

In einem in den „Westfälischen Nachrichten“ und online veröffentlichten Nachruf der Uni Münster heißt es unter anderem: „Christian Sigrist … gehört zu jenen kritischen Intellektuellen und Unruhegeistern im Nachkriegsdeutschland, die sich Zeit ihres Lebens der Kritik der Herrschaft von Menschen über Menschen sowie der tätigen Intervention im Dienste der Wahrheit auch als Wissenschaftler unbedingt verpflichtet fühlten. So stand im Zentrum seines wissenschaftlichen Werkes die Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten der Herrschaftslosigkeit oder Akephalie, entwickelt an den Befunden der social anthropology in segmentären Gesellschaften Afrikas. Sein theoretisches Konzept der Regulierten Anarchie (1967) fand breite wissenschaftliche Anerkennung und erwies sich über die Fachgrenzen hinaus als fruchtbar. Erhärtet wurde dieses Konzept in seinen Feldforschungen zu den Stammesgesellschaften in Afghanistan und ihrem Ehr- und Rechtskodex. Auch regte es interdisziplinäre Forschungen u.a. zum Alten Testament und zur Vor- und Frühgeschichte Israels an. Zugleich beteiligte Christian Sigrist sich an intensiven Auseinandersetzungen über die Rolle einer Kritischen Soziologie an deutschen Universitäten, die ihn bis zu seinem Lebensende nicht losließen.“ (2)

Dezent verschwiegen wird in diesem offiziellen Nachruf der Westfälischen-Wilhelms-Universität, dass sich Christian mit großen Teilen der WWU überworfen hat, unter anderem weil als „linksextrem“ stigmatisierte Soziologen (mich eingeschlossen) vor die Tür gesetzt wurden und sich die Unileitung bis heute starrköpfig weigert, endlich den „Wilhelm“ in ihrem Namen zu tilgen. Jahrzehntelang hatte sich Christian Sigrist dafür engagiert, dass endlich die nach dem Kriegsverbrecher und antisemitischen Kaiser Wilhelm II. benannte Westfälische-Wilhelms-Universität umbenannt wird.

Dass das gegen den Widerstand reaktionärer ProfessorInnen zu seinen Lebzeiten nicht durchsetzbar war, ärgerte Christian maßlos. Er konnte sehr nachtragend sein. Sein Nachlass sollte auf seinen Wunsch hin nicht an die WWU gehen und wird stattdessen in den nächsten Monaten im Duisburger Archiv für alternatives Schrifttum (afas) für die Nachwelt zugänglich gemacht.

Auf der Dadaweb-Gedenkseite für Christian (3) finden sich bewegende Nachrufe, unter anderem von Wolf-Dieter Narr und den „iley“- und „Peripherie“-Redaktionen. Auch der in der „jungen Welt“ am 21. März 2015 veröffentlichte Artikel „Anarchie im gelobten Land. Christian Sigrists Beitrag zur Religionswissenschaft“ von Rüdiger Haude findet sich hier.

Christians wissenschaftliche Bedeutung wird dort ausgiebig gewürdigt. Deshalb möchte ich mich als Ergänzung zu den bereits veröffentlichen Nachrufen primär auf persönliche Erlebnisse beschränken, die ich mit Christian und seiner Lebensgefährtin Ute haben durfte.


Persönliche Erlebnisse

Ich habe Christian erst spät kennengelernt. Als Soziologiestudent besuchte ich im Wintersemester 1993 eines seiner Hauptseminare über „Ethnizität“. Es fing skurril an. Christian ließ in der ersten, sehr gut besuchten Sitzung den übel gelaunten Stinkstiefel heraushängen, bezeichnete sich einerseits als Anarchist, legte aber zugleich die Hürden für seine Scheinvergabe hoch: „Wenn ich eine Hausarbeit lese und auf der ersten Seite sind schon Tippfehler, dann lese ich gar nicht erst weiter. Es sei denn derjenige ist nicht in Deutschland geboren… Ein guter Soziologe muss erst einmal durch ein Minenfeld gegangen sein, um begreifen zu können, was soziale Wirklichkeit bedeuten kann. Linke müssen in diesem System mehr leisten, um zu bestehen.“

Nach diesem elitär wirkenden Hochlegen der Messlatte kamen ab der nächsten Sitzung nur noch wenige StudentInnen ins Sigrist-Seminar. Aber die, die geblieben sind, haben es nicht bereut.

Die Referate waren durchweg interessant und die ReferentInnen kamen zu einem großen Teil aus Afrika, Asien und Lateinamerika. Ich referierte über Kurdistan und berichtete mit einem Diavortrag über die krassen Erlebnisse, die ich im Sommer 1993 als Mitglied einer Menschenrechtsdelegation im türkisch-kurdischen Kriegsgebiet hatte. Einige Wochen später, nachdem Christian meine Kurdistan-Hausarbeit gelesen hatte, rief er mich an und bat um ein Gespräch in seinem Büro. Er war begeistert von der Arbeit und bot mir deshalb eine Direktpromotion an, zu Kurdistan. Ich lehnte aufgrund meiner nur ungenügenden kurdischen Sprachkenntnisse ab, schlug stattdessen aber vor, zu einem Thema zu promovieren, zu dem ich als Umweltzentrum-Archivar und anarchistischer Zeitungsmacher schon seit den 1980er Jahren arbeitete: „Anarchistische Presse in Deutschland“. Christian stimmte zu und hakte nach: „Gibt es die ‚Befreiung‘ eigentlich noch?“. „Nein, die wurde unter anderem aufgrund der Repression 1978 eingestellt, nach 31 Erscheinungsjahren. Die Abodatei der ‚Befreiung‘ ging dann aber an die anarchosyndikalistische ‚Direkte Aktion‘, die bis heute erscheint.“

Hier hatten sich zwei „Freaks“ gefunden. Ab jetzt war ich Sigrist-Doktorand und besuchte seine Doktorandenkolloquien. Christian versammelte hier spannende Persönlichkeiten und angehende WissenschaftlerInnen aus aller Welt. Er hatte einen internationalen Ruf und sprach etliche Sprachen fließend.


Ute Sigrist

Die Kolloquien waren großartig, die Seminare spannend. Oft nahm auch seine Frau teil. Die beiden waren ein Kollektiv und lebten seit 1960 zusammen. Ute wurde am 19. März 1936 in Mannheim geboren (4). Ich erinnere mich gerne daran, wie ich sie kennengelernt habe, im Sommersemester 1994 im Sigrist-Seminar zum Thema „Soziologie der Polizei“. Das Seminar war brisant, auch weil sich Christian durch eine entschiedene Intervention gerade wieder bei vielen Polizeibeamten unbeliebt gemacht hatte. Reaktionäre Kreise im Polizeiapparat und am Institut für Soziologie wollten das IfS damals mit der Polizeiführungsakademie Hiltrup verbändeln. Das konnte Christian letztlich verhindern, indem er öffentlichkeitswirksam unter anderem darauf hinwies, dass eine solche Verstrickung dazu führen werde, dass beispielsweise soziologische Feldstudien im Drogenmilieu zukünftig undenkbar wären, weil kein Drogenabhängiger den SoziologInnen noch Auskünfte geben würde, wenn diese mit der Polizei unter einer Decke stecken.

Mehrere Polizeibeamte nahmen am „Soziologie der Polizei“-Seminar teil und ein Polizeioberkommissar hielt ein unglaublich unkritisches Referat zur Geschichte des Polizeiapparates.

Nachdem der Polizist seinen Vortrag gehalten hatte, meldete ich mich zu Wort: „Es ist interessant, dass ein Polizeibeamter in einem Uni-Seminar ein Referat hält. Wir haben jetzt Ihre Position zur Kenntnis nehmen können. Nun sollten Sie und Ihre Kollegen aber dieses Seminar verlassen, damit wir hier ohne Schere im Kopf und unbeobachtet von der Polizei kritische Soziologie betreiben können.“

Der Beamte war außer sich vor Wut und beschwerte sich anschließend bei Christian über diesen „linksextremen Studenten“. Gleichzeitig kam Ute zu mir und äußerte sich begeistert: „Das war super. Genau richtig!“

Dies war der Beginn unserer Freundschaft.


Bubaque und der Terror des Staates

Ute und Christian waren starke Persönlichkeiten. Auch die Repressionen, denen sie vor allem in der Zeit der sogenannten Terroristenhysterie ausgesetzt waren, haben sie nicht gebrochen. Nach der Ermordung von Bundesanwalt Buback durch die RAF 1977 stand die Polizei ohne Vorankündigung frühmorgens in ihrem Schlafzimmer und Christian plötzlich unter Mordverdacht. Der Hintergrund dieser Geschichte ist realsatirisch: Christian war damals in Guinea-Bissau an einem entwicklungssoziologischen Projekt beteiligt, auf der Insel Bubaque. Am Telefon hatte er deshalb oft vom „Bubaque-Projekt“ geredet. Aufgrund seines politischen Engagements wurde Christians Telefon vom Verfassungsschutz abgehört. Immer wenn er das Wort „Bubaque“ sprach, ging also bei den Herren des Morgengrauens die rote Lampe an.

In dieser repressiven Zeit wurden Christian und Ute als vermeintliche „RAF-Sympathisanten“ massiv unter Druck gesetzt. Der Direktor des Gymnasiums in Münster-Wolbeck, an dem Ute seit 1971 als Oberstudienrätin arbeitete, forderte sie auf, sich von ihrem „linksextremen Ehemann“ zu trennen. Vor diesem Hintergrund ist auch verständlich, dass Christian das Direktorium des Wolbecker Gymnasiums zur bewegenden Trauerfeier für Ute ausdrücklich nicht eingeladen hat.

Christian war seit Anfang der 1970er Jahre massiv von Berufsverbot bedroht. Aufgrund seines menschenrechtlichen Engagements in den Anti-Folter-Komitees und seiner herrschaftsfeindlichen Kritiken, drohte ihm der Entzug seiner Professur. Ermittlungs- und Disziplinarverfahren handelte er sich ein, beispielsweise weil er die Haftbedingungen der RAF-Gefangenen als „Isolationsfolter“ bezeichnete.


Der Fall Routhier

Sein Engagement für die Aufklärung des „Fall Routhier“ sorgte für jahrelange Ermittlungsverfahren und Prozesse, unter denen Christian auch gesundheitlich zu leiden hatte.

Der Frührentner Günter Routhier kam durch eine Polizeiaktion im Juni 1974 ums Leben. Mehr als tausend Menschen, die aus Empörung über die Todesumstände die Polizei des Mordes beschuldigten, wurden strafrechtlich verfolgt.

Die politische Abteilung der Duisburger Polizei erstattete in jedem Einzelfall Strafanzeige gegen VerbreiterInnen des Mordvorwurfs. Das prominenteste Opfer der Verfolgungsmaßnahmen war Christian.

1980 schrieb der SPIEGEL über Routhier: „Die unaufgeklärten Umstände seines Todes haben Staatsverdrossenheit hervorgebracht. Inzwischen sind im gesamten Bundesgebiet wohl mehr als tausend Strafverfahren gegen diejenigen durchgeführt worden, die sich mit den offiziellen Erklärungen der Polizei zum Tod Routhiers nicht zufriedengegeben und behauptet haben, er sei einem Mord zum Opfer gefallen. Das hat auch Professor Christian Sigrist, geschäftsführender Direktor des Instituts für Soziologie an der Universität Münster, auf einer am 5. Mai 1976 vom Goethe-Institut und der Universität in Stockholm durchgeführten Podiumsdiskussion getan, die vom WDR ausgestrahlt worden ist.

Professor Sigrist ist dafür am 24. Oktober 1978 vom Schöffengericht Münster wegen Verunglimpfung des Staates in Tateinheit mit Beleidigung zu einer Geldstrafe von 45 Tagessätzen zu je 120 Mark verurteilt worden. Er hat Berufung gegen das Urteil eingelegt. Und nun endlich hat sich ein Gericht der Mühe unterzogen, in sechzehn Verhandlungstagen das aufzuklären, was Gegenstand der Behauptung war. Von einem vorsätzlichen, einem geplanten Mord kann keine Rede mehr sein, aber die Beweisaufnahme hat auch ergeben, daß einige Polizeibeamte alles getan haben, um die Umstände des Todes von Günter Routhier zu vertuschen.“

In den bürgerlichen Medien wurde unter Schlagzeilen wie „Professor wegen Verunglimpfung der Bundesrepubilik vor Gericht“ (Münstersche Zeitung, 13.1.1981) über Christian berichtet. Bilduntertitel: „Stand zu dem, was er gesagt hatte: Professor Sigrist.“

Am 31. März 1982 wurde Christian im Berufungsverfahren vom Landgericht Münster wegen „Verunglimpfung des Staates“ zu einer Geldstrafe von 3.600 DM (= 30 Tagessätze) verurteilt, dazu kamen 2/3 der Verfahrens- und 4/5 der Anwaltskosten. „Das alles zusammen kostet ihn ca. 60.000 DM“, so die Szenezeitung „Knipperdolling“ im Mai 1982. Bundesweit solidarisierten sich viele Menschen und linke Initiativen mit Christian. Der Liedermacher Walter Mossmann widmete Christian die „Ballade vom zufälligen Tod in Duisburg“ (5).

Ein Berufsverbot konnte letztlich abgewendet werden.

Der „Fall Routhier“ hat bis Mitte der 1980er Jahre bundesweit Aufsehen erregt und das Leben der Familie Sigrist schwer belastet.


Der Fall Nachtwei

Mit Beginn des NATO-Angriffskriegs 1999 gegen Jugoslawien begann der „Fall Nachtwei“, der für Ute und Christian ebenfalls eine große seelische Belastung war. Christian war ein Universalgelehrter, Menschenrechtsaktivist und Kriegsgegner. Nachdem ich 1998 bei ihm promoviert hatte und zum GWR-Koordinationsredakteur gewählt wurde, unterstützte Christian mich beratend, durch eigene Artikel (6), viele Gespräche und immer wieder auch durch großzügige Spenden an den Förderverein für Freiheit und Gewaltlosigkeit. Er war in gewisser Weise ein Mentor für mich.

Ähnlich war sein Verhältnis über viele Jahre zu Winfried Nachtwei, der 1975 bei Christian sein Examen gemacht hatte. Als sich Nachtwei 1998 für ein Bundestagsmandat bewarb und sich gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr einsetzte, unterstütze Christian ihn durch einen Wahlaufruf. Kaum war Nachtwei Mitglied des Bundestages und die Grünen Teil der neuen Regierung, änderte der Politiker schlagartig seine Position und wurde zu einem Propagandisten des NATO-Angriffskrieges gegen die damalige Bundesrepublik Jugoslawien.

Christian war empört. Nachdem er bei einer Podiumsdiskussion der Münsteraner Bundestagsabgeordneten den Grünen beschimpft hatte, rief er mich an: „Noch nie habe ich einen Schüler von mir öffentlich so verflucht.“ Christian war in Tränen aufgelöst. In dem Interview, das ich am nächsten Tag mit ihm für die Graswurzelrevolution geführt habe, ging es auch um Nachtwei und dessen Wandel vom Mitglied der Friedensbewegung zum Propagandisten des NATO-Angriffskrieges gegen Jugoslawien.

Christian erklärte: „Nachtwei hat bei mir ein sehr gutes Examen gemacht, aber mir fiel auf, daß er taktiert hat. Wer in die Politik will, muß taktieren. Nachtwei hat in Münster jahrelang die Friedens AG der Grünen Alternativen Liste geleitet, und dann sagt so jemand ‚Keine Alternative‘. Das ist Unsinn, Alternativen gibt es, es gibt gute, schlechte, ... aber einfach dieses alternativlose Denken von Anfang an, man kann das nicht anders interpretieren als mit ‚Regierungsfähigkeit‘. Die Gefahr des Zerbrechens der rot-grünen Koalition, raus aus dem Regierungsgeschäft, eventuell Neuwahlen und dann das Mandat weg. Es ist das Kleben an der Macht. MMB - Macht macht blöd. Auf der unteren Stufe heißt es Mandat macht blöd, selbst kluge Leute. So kann man das erklären. Bei Nachtwei ist es der Wandel vom Taktierer zum Opportunisten. Er versucht auch heute noch einerseits dazuzugehören, seine Position im Verteidigungsausschuß, und gleichzeitig will er sich den Rückhalt in der Basis erhalten. Das ist ein ‚Rumeiern. Da kommen die absurdesten Argumente, die unter seinem intellektuellen Niveau sind. Ich halte den Mann nicht rückwirkend für dumm, aber dieses Kleben an der Macht. Außerdem: Das Leben im Bundestag, das ist eine Art Raumschiff, das ist ein Realitätsverlust.“ (7)

Das Interview erschien im Juni 1999 auf der Titelseite der GWR Nr. 240. Ein Nachdruck wurde Ende März 2000 in dem im LIT-Verlag von Christine Idems und Matthias Schoormann herausgegebenen Buch „Soziologie im Minenfeld. Zum 65. Geburtstag von Christian Sigrist“ abgedruckt.

Während Nachtwei auf das Sigrist-Interview in der GWR noch mit einem (in der GWR 241 veröffentlichten) Leserbrief reagiert hat, zog der Verteidigungspolitische Sprecher der grünen Bundestagsfraktion nun alle Register, um diese Festschrift zu Sigrists Emeritierung aus dem Verkehr zu ziehen.

Nachtwei forderte über seinen Anwalt den LIT-Verlag auf, das Buch aus dem Handel zu nehmen. Der Verlag solle dazu eine Verpflichtungserklärung abgeben, bei Zuwiderhandlung ausgestattet mit einem Betrag von 10.000 DM. Sein ehemaliger Hochschullehrer Sigrist habe ihn in dem Interview diffamiert, behauptete Nachtwei. Als Hebel gegen die weitere Verbreitung des Buches diente Nachtwei folgende Passage aus dem Sigrist-Interview: „Ich hab mich gewundert, dass er (Nachtwei) auf dem Münsteraner Luftwaffenball war. Der Luftwaffenball als solcher ist obszön.“

Nachtwei beteuerte nun, er sei nicht auf dem Luftwaffenball gewesen und deshalb dürfe das Buch so nicht verbreitet werden. Tatsächlich dürfte Nachtwei wohl eher die treffende Analyse seines Ex-Lehrers gestört haben, als die möglicherweise nicht richtige Aussage zu seiner Teilnahme am Luftwaffenball.

Der LIT-Verlag knickte ein und nahm das Buch aus dem Handel.

Daraufhin bat mich der damalige Münster-taz-Chefredakteur um einen Gastkommentar. Die Münster-taz erschien zu dieser Zeit wöchentlich, als Extrablatt der tageszeitung. Sie wurde überall in Münster ausgelegt. Am 28. September 2000 brachte sie das Thema Nachtwei als Aufmacher. Dort hatte ich unter anderem geschrieben, dass es Nachtwei meines Erachtens nicht um den Luftwaffenball an sich ging, weil er als Verteidigungspolitischer Sprecher ständig bei solchen und ähnlichen Veranstaltungen dabei war, „seien es die Soldatenspaziergänge in Münster, sei es der Große Zapfenstreich auf dem Hindenburgplatz am 20. März 2000, wo früher die Wehrmacht ihre Zapfenstreiche abgehalten hat“.

Nachtwei hat daraufhin behauptet, ich hätte ihn verleumdet. Er wäre nicht beim Großen Zapfenstreich gewesen. Und überhaupt, dieser, so Nachtwei, „Pauschalantimilitarismus der Graswurzler“! Daraufhin brachte die nächste Münster-taz eine ganze Seite mit Leserbriefen, mit Überschriften wie „Echt widerlich, Herr Dr. Drücke“, „Ein Armutszeugnis für die Soziologie“. In den Briefen stellten die grünen SchreiberInnen den Sigrist-Schüler Drücke als Verleumder an den Pranger.

Uta Klein, die auch bei Christian studiert hatte, warf mir in ihrem Leserbrief vor, ich würde „wissenschaftliche und politische Arbeit nicht trennen“. Sie war damals Professorin am IfS, stand in der Uni-Hierarchie also höher als ein Lehrbeauftragter wie ich.

Mir wurde vorgeworfen, ich hätte, „wie zuvor schon Sigrist“, Nachtwei verleumdet, denn der wäre gar nicht beim Großen Zapfenstreich gewesen. Der Clou war aber, dass wir gegen das Militärspektakel „Großer Zapfenstreich“ demonstriert und viele Nachtwei auf der Tribüne gesehen hatten.

Danach rief ich beim Grünen-Politiker Stefan Riese an: „Wie könnt ihr das behaupten?! Ich habe Nachtwei da gesehen.“ Darauf Riese sinngemäß: Ja, ein Bekannter habe ihn auch schon angerufen und Nachtwei ebenfalls beim Zapfenstreich gesehen. Riese rief nun in Nachtweis Bundestagsbüro an und sprach mit Büroleiter Michael Schlickwei, dem Lebensgefährten von Uta Klein. Schlickwei teilte Nachtwei mit, dass der Politiker von mehreren Menschen gesehen worden und der Zapfenstreich in seinem Terminkalender vermerkt sei. Nachtwei musste nun einräumen, dass er doch da gewesen ist.

Daraufhin habe ich ein Fax an Nachtweis Büro geschickt und gefordert, dass die gegen mich gerichtete Verleumdung richtiggestellt werden müsse, ansonsten würde ich rechtliche Schritte erwägen. Ich stand am Pranger, eine Woche lang ging ich als vermeintlicher „Verleumder“ in „mein“ Institut. Andere DozentInnen schnitten mich als „Nestbeschmutzer“.

Gut getan hat mir die Solidarität von Christian, Ute und anderen Freundinnen und Freunden. Viele, die Nachtwei auf dem damaligen Hindenburgplatz gesehen haben, schrieben Leserbriefe, die in der Münster-taz klein oder gar nicht abgedruckt wurden. Nachtweis Richtigstellung erschien in der nrw taz Nr. 24. Seine Versuche, Christian und mich zu diskreditieren, waren gescheitert. Christian hat danach nie wieder ein Wort mit Nachtwei gesprochen.

Ich bin froh, dass Christian mir nie die Freundschaft aufgekündigt hat. Auch dann nicht, als er mit einer Entscheidung des GWR-HerausgeberInnenkreises nicht einverstanden war.

Christian und Ute habe ich unglaublich viel zu verdanken. Die Beiden haben durch ihre Unterstützung auch dazu beigetragen, dass unser Freundeskreis Paul Wulf 2010 die Wiederaufstellung der Paul-Wulf-Skulptur und 2012 die Umbenennung des nach einem Naziarzt benannten Jötten-Wegs in Paul-Wulf-Weg durchsetzen konnten. (8)


„Klasse Lehrerin“ - (Inschrift auf Utes Grab)

Als ich am 17. Februar 2014 mit Edo Schmidt ins Hospiz ging, um Ute dort zu besuchen, kamen wir erstmals zu spät. Sie war gerade für immer friedlich eingeschlafen. Am Totenbett saß Uli, der Sohn von Ute und Christian.

Als Christian eintraf, brach er zusammen und weinte bitterlich. Seine große Liebe war gestorben. Ein Jahr später folgte er ihr.


„Kluger Querkopf“ - (Inschrift auf Christians Grab)

Christians Beerdigung auf dem Bergfriedhof Heidelberg fand am 16. April 2015 auf Ulis Wunsch hin im engsten Freundes- und Familienkreis statt.


Webers Nachbar

Bei Utes Beerdigung hatte Christian erwähnt, dass auch Max Weber hier liege. Damals war mir das Weber-Grab nicht aufgefallen. Als wir mit zwanzig Menschen nun am gemeinsamen Grab von Ute und Christian standen, entdeckten wir das Grab von Max Weber. Es liegt direkt nebenan.

Christian hatte Sinn für schwarz-roten Humor. Er war weder uneitel noch ein Anhänger übertriebener Bescheidenheit. Dass er nun direkt neben dem „großen Soziologen Weber“ liegt, weckt die Assoziation, dass er posthum mit Weber über die „Regulierte Anarchie“ streiten will.

Ich habe Christian und Ute geliebt und werde sie nicht vergessen.


Bernd Drücke, Münster im Mai 2015
Quelle: Graswurzelrevolution Nr. 400, Sommer 2015


Anmerkungen

1) www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=14946

2) www.uni-muenster.de/Soziologie/personen/sigrist.shtml

3) www.dadaweb.de/wiki/Christian_Sigrist_-_Gedenkseite

4) Gedenkseite für Ute Sigrist (1936 – 2914)

5) Text; Musik

6) Beiträge von Christian Sigrist in der Graswurzelrevolution: Der „Siegfrieden“ der NATO – Bernd Drücke im Gespräch mit Christian Sigrist, GWR Nr. 240/1999, S. 1, 3 ; Die afghanische Tragödie (Teil 1), GWR 263/2001, S. 14-15 ; Die afghanische Tragödie (Teil 2), GWR 267/2002, S. 14-15 ; Opfer einer wissenschaftlich abwegigen Genetik - Gedanken anlässlich der Einweihung der Paul-Wulf-Skulptur „Münsters Geschichte von unten“ am 05.09.2010, GWR 353/2010, S.14 ; Großer Zapfenstreich für ein in Afghanistan gescheitertes Korps - Vortrag gehalten am 25.09.2013 am Rande des Münsteraner Schlossplatzes als Beitrag zur Demonstration gegen die vom 1. Deutsch-Niederländischen Korps aufgeführte Farce (ISAF), GWR 385/2014, S. 14-15 ; Gedanken zum Mauerfall-Fest 2014, GWR 394/2014, S. 4

7) www.graswurzel.net/240/sigrist.shtml

8) Siehe: www.uwz-archiv.de ; Redebeitrag von Christian Sigrist, gehalten anlässlich der Wiederaufstellung der Skulptur „Münsters Geschichte von unten“, die an den 1938 von den Nazis zwangssterilisierten Anarchisten Paul Wulf (1921-1999) erinnert: www.uwz-archiv.de/uploads/pics/gwr353_Paul-Wulf-RedeSigristDruck1.jpg und www.uwz-archiv.de/uploads/pics/gwr353_Paul-Wulf-RedeSigristDruck2.jpg




Nachruf auf Ute und Christian Sigrist von Wolf-Dieter Narr

Grabstein von Ute und Christian Sigrist auf dem Bergfriedhof in Heidelberg, auf dem Christian Sigrist am 16. April 2015 beigesetzt wurde. Das Grab liegt nur 10 Meter von Max Webers Grab entfernt. Foto: Bernd Drücke.

Am Anfang ist der gleiche Rang. Er ist gleich am Ende. Und bleibt. Wie lebendige Erinnerung - so Menschen gleich empfinden. Also verbindet den Nach- ein gleichrangiger Vorruf auf das im Leben kaum getrennte, verschieden zusammen gewachsene Paar, Ute und Christian. Und also begrenzt und überwindet den Tod die dauernde Aufgabe, täglich zu erneuern, anarchisch zu leben: dem gelebten gleichen Rang unter den auf diese Weise identisch werdenden ungleichen Menschen in ihrer schwankenden Vielfalt. Hyperions Schicksals-Lied endet mit dieser Botschaft und hebt desgleichen an.

Wie kann Christians Tod erinnert werden? Seinem, Ohnmacht schaffenden Sturz hätte Ute, die zarte, die zähe, die immer präsente, fallend gewehrt. Sie war freilich wenig zuvor von Christian und Freunden ihrerseits verabschiedet worden. Das Gedicht, in Ute Person geworden.

Über Christian kann man sich mit ihm jetzt nicht mehr austauschen, selbst gesprächsmunter, wie er lebte, lebte er wie Kropotkin, Marcel Mauss und andere, die den Beginn des gesellschaftlichen Umgangs als Gabe-Beziehung ausgemacht haben. Darum zählt "Feldforschung" im Umgang mit Anderen, mit Fremden naher Erkundung an erster Stelle. Sie wurde von Christian zuerst in Afghanistan mitlebend erprobt. Dürfte ein an-archisch Lebender segmentäre Andersartigkeiten, andere Kulturen und ihre Umgangsformen anders als an sich selbst zu Wort kommen lassen? Als existenziell Anderes, als darum Besonderes und Individuelles. Deshalb gilt, was Goethe an Lavater, den Physiognomiker, geschrieben hat: "Kennst du schon das große Wort, individuum est ineffabile." Das Individuelle kann man nicht identifizieren. Unter den vor-politischen Spezifika zählen die Mit- und Zusammenerlebnisse.

Mikrologische Einzelheiten und Feinheiten ohne entsprechende gesellschaftliche Zusammenhänge waren Christians Sache nicht über bedeutsam feine institutionelle Muster hinaus. Gleichheiten inmitten immer präsenter, auch gefährlicher Ungleichheiten. Darüber hat Christian Sigrist in einem mit Dieter Haller geführten Interview 2011, mich mitlehrend, Auskunft gegeben. Die Frage, "wie alles anfing", hat er zunächst mit einer informationsreich ausgeführten Antwort versehen: "Mein Anfang war wirklich pluriethnisch."

Kund wird in dieser Antwort, warum Freundschaft und fachliche Nähe, wichtiger noch der durchgängige, jede Herrschaft umkrempelnde Elan mit ebenso überall prägenden herrschafts- und staatskritischen Absichten und Verhaltensweisen erst spät Freundschaft formten. Im Unterschied zur landschaftlichen Nähe wuchs der trauernde Berichterstatter, mitten in der nazistischen Gefahr, wie ein zwei Jahre jüngerer Bruder Christians ethnisch, soweit überhaupt möglich, schwäbisch homogen, ja der herrschen Ideologie und ihrer tödlichen diskriminierenden Praxis zu so etwas wie einem naziherrschaftlich behüteten Nazi-Kind heran. Der Bruch erfolgte erst und allmählich. Lange nach 1945. Dann aber fundamental. Ob, und wenn ja, welche Differenzen bei dem erwachsenen Ethnologen und dem bald unwilligen Politologen festzustellen sind, bleibe dahin gestellt. Habituell hält sie seit den sechziger Jahren die nur in Akzenten verschieden vertretene Anarchie als gesellschaftskritisches Muster nötiger nichtherrschaftlicher Gleichheit zusammen. Afghanistan und die Kritik westlich imprägnierter, im Sinne von Edward W. Said kolonial zivilisatorisch geprägter, westlich imperialer Welt.

Nach seiner Freiburger Dissertation beim ungewöhnlichen Nachkriegssoziologen Heinrich Popitz, nachdem Sigrist sich vom Heidelberger Wilhelm Mühlmann u. a. infolge von dessen aufgedeckter Vergangenheit überworfen hatte, vertrat Christian bald den Lehrstuhl Ralf Dahrendorfs in Konstanz. Das waren die Jahre Ende Sechzig, Anfang Siebzig, da wir uns näher kamen. Er, von seinen jahrlangen afghanischen Erfahrungen, angeregt von der Lebensweise "seiner" Pashtunen, erhellte mit einer von weither und fremd hergeholten Fackel gänzlich anderer, europäisch abgelehnter und systemisch gefährdeter Lebensweise koloniale, in der BRD erst postfaschistisch gelernte, kapitalistisch prätentiöse Liberalität. Seinerzeit griff Sigrist Dahrendorfs dürftig belegte These im von ihm mit herausgegebenen Europäischen Archiv für Soziologie als unhistorisch, belegarm und falsch an. Dahrendorf, der von Gesellschaft pauschal behauptete, sie sei "eine ärgerliche Tatsache" (im Homo Sociologicus), suchte sie aus dürftiger US-amerikanischer Quelle in ewiger, vom "Westen" und seiner kapitalistisch etatistisch formierten "Modernisierungstheorie" und ihren "Werten" zu begründen ("Amba und Amerikaner. Bemerkungen zur These der Universalität von Herrschaft", 1964). Ohne dass Sigrist die eigene opportune Chance an der Uni Konstanz wahrgenommen hätte, sich universitär zu etablieren, begründete er seine herrschaftsfreien Gesellschaften aus verallgemeinerter teilnehmender Beobachtung. Damit behauptete er nicht, Herrschaftsfreiheit unter frühen Gesellschaften sei durchgehend gegeben. Eine solche herrschaftsfreie Vergesellschaftung unterstellte er nie. Wohl aber nahm er an, nicht hierarchisch, nicht kapitalistisch in einem fort zementierte Formen der Vergesellschaftung seien "segmentär" möglich, was Pierre Clastre "Staatsfeinde" genannt hat.

Afghanistan - ich sehe immer noch Christians intensiven Blick und höre überzeugt seine überzeugende Sprache - war für ihn, von Popitz ermöglicht, das Tor zur "Feldforschung", das er allenfalls alters- und umständebedingt nicht mehr durchschritt. Noch unsere letzten Unterhaltungen, die jahrelang um ein leider nicht verwirklichtes Vorhaben über Afghanistan in Geschichte und Gegenwart kreisten - von der Zeitschrift Dialectical Anthropology schon zugesagt -, kritisierten den mehrfachen, sowjetischen, US-amerikanischen und nicht zuletzt historisch und habituell tief verwurzelten wilhelminischen und bundesdeutsch vereinigten Imperialismus aus der Tiefe nicht nur Afghanistan geltender primärer Erfahrung. Sie reichte von der Opposition und Kritik an der Bundesrepublik, die reich war an Prügeln, sie Christian in den Weg zu werfen, bis zu intimen Kenntnissen von China. Vor allem galt sie seinen systematischen Interessen und Einsichten in die neuerlich weltweite Tendenz, die überall gegebenen Agrarfragen in kapitalistischer, dazuhin bauern- und frauenfeindlich zu beantworten.

"Die Feldforschung war für mich eine prägende Erfahrung", berichtet Christian im oben genannten Interview im Gegensatz zu den meisten Akademikern, die sich in abstrakter Eitelkeit ihrer luftigen Kompetenzen rühmen. "Diese Zeit um 1967 war eine der schönsten Phasen meines Lebens. Ohne je eine Reitstunde in meinem Leben gehabt zu haben, ritt ich durch die Wüste und einen belebten Basar. Gleichzeitig war es auch eine sehr schwierige und gefährliche Zeit - in Zarauza (bei Urgun) gab es sogar Morddrohungen gegen mich. Damals wurde ich von einem bedeutenden Khan der Zadran als Ehrengast beherbergt und in die Tracht eines pashtunischen Kriegers gekleidet. Damals bereiste ich auch das afghanisch-deutsche Paktya-Projekt und schrieb eine Kritik dazu. Für mich war zu diesem Zeitpunkt schon ersichtlich, dass die Volksrepublik Afghanistan kommen würde, was viele jedoch nicht glauben wollten."

Kein Leben, es sei denn, es wurde primär herrschaftlich erzwungen, ist gänzlich langweilig. Christians prickelnd vor lebendiger Spannung. Auch in den vergleichsweise ruhigen Perioden als unangepasster Ordinarius ethnologischer und soziologischer Zuspitzung. Allein die Zahl und Qualität ungewöhnlicher Dissertationen, seine selbstständigen Schülerrinnen und Schüler machen darauf aufmerksam. Dort, wo es studentenbewegt und konfliktreich zuging, mischte er am Rande von Disziplinarverfahren mit. Dort trat er "unmöglicher" Weise für angegriffene Leute ein, wo diese falsch - wie Ulrike Meinhof - oder überzogen belangt oder durch das "Berufsverbot" deutsche Konventionen fortsetzend repressiv "selektiert" (pardon für das nazibeliebte Fremdwort) und zugerichtet wurden. Allein das erwähnte politische Interesse, von der immer erneut gewaltsam, je mörderisch zugespitzten sog. Flüchtlingsfrage zu schweigen, steht dafür.

Davon und von anderem mehr, auch die nötige, jedoch unterlassene oder in nutzlosem Streit endende Verbindung und habituelle Mischung von Marxismus und Anarchie, nicht zuletzt die Notwendigkeit human überschaubarer, in diesem Sinne zeitgenössischer segmentärer Gesellschaften, wird mit Christian Sigrists Gedanken, so hoffe ich, bald schon und kritisch die Rede sein. Gedanken und Kritik, verbunden mit der Intelligenz und dem Liebreiz von Ute.

Quelle: DAS ARGUMENT, Nr. 321 (erscheint im 2. Quartal 2015)



Christian Sigrist (1935-2015)

Buchcover der letzten (4. erweiterten) Ausgabe von Christian Sigrists Studie "Regulierte Anarchie", Münster 2010.

Mitte Februar 2015 verstarb Christian Sigrist plötzlich infolge eines häuslichen Unfalls. Wir trauern um einen ungewöhnlichen Menschen, der immer wieder wichtige Impulse zu kritischem Denken gegeben hat, an dem sich sicher auch viele gerieben haben. Vor allem war Christian Sigrist ein Exponent radikaler kritischer Soziologie und Anthropologie. Dies kam vor allem in seiner konsequenten Kritik an Vorstellungen der Unvermeidlichkeit und Universalität der Herrschaft von Menschen über Menschen zum Ausdruck.

Zutiefst geprägt durch die Erfahrung der Diskriminierung und existenziellen Gefährdung unter dem NS-Regime, verband Christian Sigrist seit seinen Studienjahren in Freiburg i.Br. die Leidenschaft für sozialwissenschaftliche Forschung und Theoriebildung mit einem politischen Engagement, das manche aus seinem Umkreis gelegentlich auch überforderte. Vor dem Hintergrund der Begegnung mit der social anthropology am Institut für Soziologie und Ethnologie in Heidelberg entstand seine Dissertation, zugleich sein opus magnum: Regulierte Anarchie. Den auf Émile Durkheim zurückgehenden theoretischen Ansatz verband Christian Sigrist mit der komparativen Analyse vorliegender Studien über akephale Gesellschaften, zumal in Afrika, die sich angesichts des Fehlens oder gar der bewussten Vermeidung einer Zentralinstanz als herrschaftsfrei erwiesen. Wie Sigrist später präzisierte, schloss dies deutliche Machtgefälle vor allem aufgrund der Geschlechterverhältnisse, aber auch entlang von Altersstufen, freilich nicht aus. Zunächst führte ihn die Frage nach der andauernden Realität solcher Verhältnisse nach Afghanistan und auf die Geheimnisse des paschtunischen Rechts- und Ehrenkodex, des Pashtunwali. Diese Forschung begründete eine lebenslange Faszination und ein persönliches Engagement.

Der Aufbruch der Student*innen-Bewegung versprach dann völlig neue Chancen der politischen und gesellschaftlichen Veränderung auch in der Bundesrepublik Deutschland. Auf das Scheitern des Versuchs, die ambivalenten Ansätze in Heidelberg in ein institutionalisiertes kritisches Wissenschaftsprogramm zu überführen, folgten die Berufung nach Münster im Jahr 1971 und intensive Auseinandersetzungen um Formen und Perspektiven einer linken Soziologie. Die praktische Kritik an Herrschaftsinstitutionen, die Unterstützung des Protests gegen einen faschistischen Professor in Bochum, die Teilnahme an der Kampagne gegen die Isolationshaft politischer Häftlinge und endlich das Insistieren, dass der Tod eines Prozessbeobachters in Duisburg während eines Polizeieinsatzes aufgeklärt werden müsse, führten zu Straf- und Disziplinarverfahren, die während seiner kreativsten Jahre Lebensfreude und Energie raubten. Dennoch nutzte er die Chancen, die der Sieg nationaler Befreiungsbewegungen vor allem in Guiné-Bissau und Kapverde ab 1974 zu bieten schien, um sich aktiv an den erhofften gesellschaftlichen Veränderungen zu beteiligen, vor allem an der Agrarreform in Kapverde. Nach dem Ende der sowjetischen Besetzung forschte Christian Sigrist wieder in Afghanistan. Daneben setzte er sich intensiv und kritisch mit der zeitgenössischen soziologischen Theorie auseinander, die dies verdiente, so namentlich jener Niklas Luhmanns. Bis in die letzte Zeit erhob er öffentlich Protest an den vielen Stellen, wo ihm dies notwendig erschien.

Vor allem aber war Christian Sigrist für viele Studierende ein manchmal sperriger, aber ungemein anregender und anstoßender Lehrer, wenn sie sich einmal auf ihn eingelassen hatten. Das gilt nicht nur für diejenigen, die heute an deutschen und internationalen Hochschulen lehren und forschen, sondern – vielleicht wichtiger – für die viel Zahlreicheren, die im Schuldienst kritische Impulse weitertragen. Auch diese Zeitschrift hätte es vermutlich nie gegeben, hätte Christian Sigrist nicht entscheidend dabei mitgearbeitet, eine umfassende, Gesellschaftsgrenzen überschreitende Sozialforschung und Gesellschaftstheorie voranzutreiben. Ganz praktisch sorgte er dafür, dass am Institut für Soziologie in Münster Freiräume bestanden, die gerade für die Anfangsphase der PERIPHERIE entscheidend wichtig waren. Als Beiratsmitglied war er dem Projekt lange Jahre bis zuletzt verbunden. Viele der früheren und heutigen Mitglieder unseres Redaktionskreises waren seine Schüler, haben zeitweise eng mit ihm kooperiert und sehen sich bis heute seinem Programm verpflichtet, für das er stand. Dass dessen institutionelle Verankerung nicht in der einmal erhofften Form und in dem einmal möglich erscheinenden Ausmaß gelungen ist, gehört zur Problematik seiner Generation. Diese Perspektive immer neu zu denken und voranzutreiben, bleibt sein Vermächtnis.

Wir verlieren mit Christian Sigrist einen stets kritischen Wegbegleiter und langjährigen Unterstützer und Freund.

Aus: Peripherie. Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt, Nr. 137 (2015)



Zum Tod von Prof. Dr. Christian Sigrist – Bis zuletzt gegen Wilhelm II. Von Jörg Rostek

Christian Sigrist bei einer antimilitaristischen Veranstaltung der Grünen in Marl am 15.02.2012: Thema war die Militarisierung der Hochschulen. Foto: Jörg Rostek

Der Soziologe Christian Sigrist war nicht nur ein kritischer Intellektueller und engagierter Lehrer und Wissenschaftler, wie die Westfälische Wilhelms-Universität heute in einer Pressemitteilung schreibt; er war einer der größten Kritiker der Benennung der Wilhelms-Universität Münster nach Kaiser Wilhelm II. und lehnte diesen Namen bis zuletzt ab. So führte Christian Sigrist im Jahr 1997 in der Debatte um die Umbenennung der Westfälischen Wilhelms- Universität als Mitglied einer entsprechenden Universitätkommission in einer Vorlage („Wilhelm II. Und der Antisemitismus – Vorlage für die Universitätskommission: Namensänderung der WWU?“, hier als pdf) aus, dass durch die Person Wilhelm II. eine antisemitische und rassenideologische Gesinnung “die Machtmittel hatte, die aus dem Rassenwahn hervorgehenden Vernichtungsphantasien wenigstens in den afrikanischen Kolonien zu realisieren“. Rassistische Ideologie und Militärismus hätten sich, so Sigrist, in der wilhelminischen Kolonialpolitik “verhängnisvoll kombiniert.”

Christian Sigrist macht in seiner Schrift Wilhelm II. direkt für den „versuchten Genozid an den Herero und den versuchten Ethnozid an den Nama im deutschen Schutzgebiet Südwestafrika“ verantwortlich. Erst auf Drängen des damaligen Reichskanzlers Bülow, sei Wilhelm II. überredet worden, den „Ausrottungsbefehl“ abzumildern. Laut Schätzungen, schreibt Sigrist, hätten nur ein Drittel der Herero die Vernichtung überlebt.

„Dass der Krieg die Herero als Nation nicht definitiv auslöschen konnte, ändert nichts daran, dass dieses Ziel verfolgt und vom Kaiser selbst gebilligt wurde. Auch das schlechte Beispiel, das andere Kolonialmächte gaben, z.B. die Briten im Burenkrieg, mindert die persönliche Schuld des Kaisers nicht“, so Sigrist und schließt seine Schrift mit dem Satz: „Dass diese Phantasien zur vernichtenden Gewalt wurden in einer den Kaiser mit Schuld beladenden Weise schließt aus, dass die Universität Münster im Bewusstsein dieser Zusammenhänge weiterhin seinen Namen trägt.“

Keine Frage, dass dieser Satz heute noch gilt. Traurige Tatsache: Die Universitätskommission zur Umbenennung der Universität Münster sprach sich mit 6:4 Stimmen für die Umbenennung aus (siehe iley-Artikel). Die Entscheidung darüber ließ der Senat jedoch im Sande verlaufen, “bis das Rektorat die Sache endgültig für erledigt erklärte”.

Jörg Rostek, 26. Februar 2015


Rüdiger Haude: Anarchie im gelobten Land

Christian Sigrists unverhoffter Beitrag zur Religionswissenschaft

Das Schlagwort von der Interdisziplinarität muss keine leere Hülse sein - das zeigt das wissenschaftliche Wirken von Christian Sigrist, der die ethnologische Einsicht in die Möglichkeit, ohne Befehl und Gehorsam zusammenzuleben, in die Soziologie einspeiste. Damit konnte man sich Gedanken darüber machen, wie der Abbau von Herrschaft in der Gegenwart möglich ist - anthropologische Hindernisse standen dem jedenfalls nicht entgegen. Sigrists wichtigstes Buch - die "Regulierte Anarchie" von 1967 - schlug ironischerweise aber in noch einem ganz anderen Fach die höchsten Wellen: in der Religionswissenschaft.

Sigrist hatte die heidnischen "segmentären Gesellschaften" Afrikas untersucht, bei denen die Verwandtschaftsstruktur das politische Regulativ lieferte, das andernorts durch herrschaftliche Gewalt ersetzt wurde. Diese segmentären Gesellschaften hatten, wie sich zeigte, eine recht genaue Analogie in den zwölf "Stämmen" Israels, von denen die Bibel berichtet, dass sie eine ganze Weile im "gelobten Land" lebten, bevor sie sich ungefähr 1000 Jahre vor unserer Zeitrechnung zum ersten Mal einen König gaben.

Nicht, dass eine solche Analogiebildung 1967 ganz neu gewesen wäre. Schon der französische Soziologe Émile Durkheim, der den Begriff "segmentäre Gesellschaft" um die vorletzte Jahrhundertwende geprägt hatte, hatte die "Hebräer" diesem segmentären Typus zugeschlagen, bei dem die Familien "in freier Selbständigkeit nebeneinander" lebten. Und zur gleichen Zeit hatte in Deutschland der protestantische Theologe Julius Wellhausen eben diese Hebräer als Parallelfall behandelt, als er die Araber seiner Zeit als "Ein Gemeinwesen ohne Obrigkeit" beschrieb.

Die britischen Ethnologen, auf die Sigrist sich in der "Regulierten Anarchie" hauptsächlich bezog, haben in ihren Lehrveranstaltungen die Bibel ständig als Mittel zur Veranschaulichung herangezogen. Namentlich Edward E. Evans-Pritchard, der in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts die Nuer im Südsudan erforschte, versicherte, bei diesen fühle sich der Ethnologe und der Missionar wie in alttestamentlichen Zeiten. Was ihm bei den Nuer außerdem auffiel, fasste er in die Worte: "Die geordnete Anarchie, in der sie leben, passt gut zu ihrem Charakter, denn es ist unmöglich, unter den Nuer zu leben und sich vorzustellen, dass Herrscher über sie herrschen". Der logische Rückschluss auf politische Verhältnisse und "Charakter" der Menschen in alttestamentlichen Zeiten musste nur noch ausdrücklich vollzogen werden. Und dies geschah in einer Zeit, als man auch begann, die biblischen Mythologien mit dem Instrumentarium der strukturalistischen Ethnologie zu analysieren. Die Begegnungsgeschichte von Bibelwissenschaft und Ethnologie hat der Theologe Bernhard Lang 1984 in einem Aufsatz mit dem Titel "Spione im gelobten Land" dargestellt. Christian Sigrist spielt darin eine wichtige Rolle.

Sigrists Leistung besteht einerseits darin, die Arbeiten der britischen "social anthropologists" dahingehend systematisiert zu haben, dass er die politische Rolle des Verwandtschaftssystems in den segmentären staatslosen Gesellschaften präzise bestimmte und mit kulturellen Phänomenen wie dem ausgeprägten Gleichheitsbewusstsein, oder mit ökonomischen Bestimmungen wie egalitären Erbrechtsregelungen in Zusammenhang brachte. Er beschrieb kulturvergleichend die politisch exponierten Rollen ("Instanzen") in diesen Kulturen, die Arbeitsteilung und andere Dimensionen der Ungleichheit, und zeigte, wie diese davon abgehalten wurden, in verfestigte Befehl-Gehorsams-Strukturen abzugleiten. Außerdem analysierte er Widerstandsbewegungen, die sich als Folge einer Staatsentstehung herausbildeten, solange das vorstaatliche "Gleichheitsbewußtsein" noch nicht zurückgedrängt war. Mit dem aus der politischen Soziologie Max Webers entlehnten Konzept der "Regulierten Anarchie" verpasste er den Einsichten der "social anthropologists" eine fruchtbare politische Zuspitzung.

Andererseits ist für die Rezeptionsgeschichte auch wichtig, dass Sigrist die Einsichten der britischen Ethnologen in den deutschsprachigen Diskurs übersetzte. So waren sie für die deutschen Theologen der 70er und 80er Jahre greifbar, die schwerlich eine Sprach- und eine Disziplingrenze zugleich überwunden hätten.

Der israelische Religionshistoriker Abraham Malamat hat 1973 die Parallelität der biblischen mit afrikanischen Genealogien aufgezeigt, wobei er sich auf genau dieselben Ethnien bezog wie Sigrist. Malamats Arbeit war den deutschen Theologen bekannt. Aber das explosive politische Potenzial, das in der Soziologisierung der Bibelexegese steckte, musste noch entdeckt werden. In den USA wurde dieses Potenzial einige Jahre später durch Forscher wie Norman Gottwald mit der Theorie entfaltet, das alte Israel sei aus einer sozialrevolutionären Bewegung von Bauern entstanden. Als durch die Verarbeitung von Eisen und weitere technologische Entdeckungen das palästinische Hochland landwirtschaftlich erschließbar wurde, seien in der schon lange unruhigen Region die Bauern den kanaanäischen Stadtkönigen schlicht ins Gebirge davongelaufen, um dort ihr eigenes, königloses Gemeinwesen zu errichten - vielleicht unterstützt von einer kleinen "Mose-Schar" entlaufener ägyptischer Fronarbeiter, die den Gründungsmythos der Befreiung mitbrachten. (Israel wäre insofern vergleichbar mit den "maroon societies" geflohener Sklaven in den Amerikas der Neuzeit - diese strukturelle Analogie ist nach meiner Kenntnis noch nicht systematisch untersucht worden.)

Hortus Deliciarum, Moses führt das Volk Israel durch das Rote Meer. Circa 1180

In Deutschland, wo man bei der Methode der "kritisch-historischen" Bibelexegese traditionell weltweit führend war, unternahm es der Alttestamentler Frank Crüsemann 1978 zum ersten Mal, die herrschaftsfeindlichen Texte des Alten Testaments durch Rückgriff auf Sigrists Ansatz zu analysieren. In seinem Buch "Der Widerstand gegen das Königtum" liest er sowohl die biblisch überlieferten Zentralisierungsprozesse als auch die Zeugnisse antiherrschaftlichen Widerstands durch die Brille der "Regulierten Anarchie", deren sechstes Kapitel sich mit ebensolchen Vorgängen im ethnografischen Befund beschäftigte. Er sehe, schrieb Crüsemann, "keinen einzigen Punkt, wo sich ein Sigristsches Theorem durch das Material in Israel falsifizieren lässt".

An Crüsemann schloss 1983 Christa Schäfer-Lichtenberger mit ihrer Untersuchung israelitischer Städte an. Nicht nur betrachtete sie die dörflichen Siedlungen der Israeliten in der vorstaatlichen Richterzeit als "Regulierte Anarchie", sondern fand auch einen Idealtyp israelitischer Städte, der dem Modell einer "primitiven Demokratie" folgte, wo also Entscheidungen von Volksversammlungen und Ältestenräten gefällt wurden.

Für den Rest des 20. Jahrhunderts war die Annahme, beim vorstaatlichen ("richterzeitlichen") Israel habe es sich um eine "Regulierte Anarchie" im Sinne Sigrists gehandelt, das dominierende Paradigma. Nicht nur im deutschsprachigen Diskurs: In Dublin resümierte der Alttestamentler A.D.H. Mayes 1989: "Es ist jetzt üblich geworden, das vormonarchische Israel als eine segmentäre Gesellschaft zu denken." Dass dies auf der Arbeit von Sigrist beruhte, machte er dabei deutlich. Den Impuls der "Regulierten Anarchie" trieben in Deutschland Theologen wie Rainer Albertz oder Rainer Neu weiter. Albertz betonte, dass die Abwesenheit von Herrschaftsinstanzen im biblischen Buch der Richter nicht länger als Mangel, sondern nur noch als Folge intentionalen Handelns verstanden werden könne. Neu führte vor allem die nomadischen Traditionen des Alten Testaments zur Stützung der These von Israel als einer segmentären Gesellschaft an.

Norbert Lohfink, als Jesuit eine katholische Stimme in diesem sonst hauptsächlich protestantischen Konzert, steuerte das Argument bei, dass der biblische Gedanke eines "Gottesreichs" Ausdruck der Staatsablehnung gewesen sei. Gott sollte herrschen, damit sich kein Mensch auf den Thron setzen konnte. So rief der israelitische "Richter" Gideon, dem laut Bibel das Königtum angetragen wurde, aus: "Nicht ich will über euch herrschen, und mein Sohn soll auch nicht über euch herrschen, sondern Jahweh soll über euch herrschen." Solche religiöse Absicherung der Abwesenheit menschlicher Regierung hatte schon im 17. Jahrhundert der portugiesisch-niederländische Philosoph Baruch de Spinoza in seinem "Theologisch-politischen Traktat" als "Theokratie" bezeichnet, aus der völlige politische Gleichheit folge. Nun, Ende des 20. Jahrhunderts, wurde dieser Begriff durch den Ägyptologen Jan Assmann, der sich ebenfalls an der bibelbezogenen Sigrist-Rezeption beteiligte, weiter differenziert: Die Theokratie, von der Lohfink und Spinoza sprachen, sei eine "identitäre Theokratie"; sie könne in eine "repräsentative Theokratie" umschlagen, bei der die Herrschaft Gottes wieder durch Menschen vermittelt sei; statt Regulierter Anarchie hätten wir dann wieder einen, womöglich despotischen, Staat.

Assmannn lieferte auch den interessanten Gedanken, dass die "politische Theologie" des richterzeitlichen Israel in Abgrenzung von der ägyptischen Weltanschauung gedacht werden müsse. In dem "Bund", den Gott mit Israel schließt, ist der Pharao in zwei Richtungen negiert: als Vertragspartner der Gottheit wird er durch das Volk ersetzt; als Herrschaftsinstanz durch Gott. Die "Herausführung aus dem Sklavenhause" Ägypten ist der Gründungsmythos Israels. Dieser herrschaftsfeindliche Impuls ist eine ebenso starke Herausforderung für unerbittliche Religionskritik wie für jahrtausendelang erlernte staatstreue Frömmigkeit.

Im 21. Jahrhundert ebbte das Paradigma vom alten Israel als "Regulierter Anarchie" wieder ab. Ich selbst habe zu dieser Zeit Analysen zur Rolle der Schriftlichkeit im herrschaftsfreien Kontext, zur Frage der Geschlechterverhältnisse und ihrer Dynamik beim Übergang zum Staat, und zur politischen Funktion biblischer Mythen (wie der Jona-Erzählung oder der Geschichte vom Turmbau zu Babel) vorlegen können. Dabei durfte ich nicht nur auf persönliche theoretische Anregungen, sondern auch auf praktische Unterstützung durch Christian Sigrist zurückgreifen. Daran denke ich heute, nach seinem überraschenden Tod, dankbar zurück.

Es wurde aber zunehmend schwerer, diesem Ansatz Gehör zu verschaffen. Einleuchtende Gründe dafür, dass man das vormonarchische Israel nun nicht mehr als segmentäre Gesellschaft betrachten solle, habe ich kaum vernommen - auch wenn nicht jedes Detail, das die britischen "social anthropologists", wie auch die Sigrist-Schule der Geschichtsforschung zum alten Israel, vorgetragen haben, heute noch Bestand hat. Kulturhistorische Theorien sind offenbar nur in passenden Gegenwarts-Kontexten denkbar, und in Zeiten des amoklaufenden Neoliberalismus fällt es wohl zunehmend schwer, Staatsabbau und politisch-ökonomische Gleichheit in einem Gedanken zu vereinen.

Christian Sigrist hat sich über die unerwartete Wirkung seiner "Regulierten Anarchie" im Felde der Religionswissenschaft gefreut. Dies bedeute, so schrieb er im Vorwort der dritten Auflage des Buchs im Jahre 1994, "daß das Anarchie-Thema in einen religiösen Kontext eingebracht und so von der Wissenschaft her die hergebrachte enge Sichtweise der Verbindung von Thron und Altar aufgebrochen wird". Zusammen mit Rainer Neu brachte er 1989 und 1997 zwei Anthologien "Ethnologische Texte zum Alten Testament" heraus, die den Theologen Handwerkszeug bei der Arbeit mit der Theorie der "Regulierten Anarchie" bieten. Ich benutze hier den Präsens, denn einer Anknüpfung an dieses Paradigma steht aus wissenschaftlicher Sicht nichts entgegen.

Aus: "junge welt". Der Text ist mit der veränderten Überschrift "Anarchie im Alten Testament" am 21. März 2015 in der jw erschienen (Beilage "faulheit & arbeit", S.6f).



Erinnerungen an Christian Sigrist. Von Abdulkader Saleh Mohammad

Mein Name ist Dr. Abdulkader Saleh Mohammad aus Eritrea. Ich kam auf abenteuerlichen Wegen aus meinem Heimatland nach Münster, wo ich 1974 als Student der Soziologie Prof. Sigrist kennenlernte. Er begleitete mich bis zu meiner Promotion 1984 durch mein gesamtes Studium am Institut für Soziologie.

Meine KommilitonInnen und ich kannten Prof. Sigrist als kritischen Soziologen in der damaligen konservativen Bundesrepublik Deutschland. Er sympathisierte mit Befreiungsbewegungen in Afrika, vor allem mit den ehemaligen portugiesischen Kolonien wie Guinea-Bissau und auch mit Simbabwe. In seinen Vorlesungen übte er klare Kritik an diktatorischen Regierungen, wie im Iran und Afghanistan. Wegen seiner kritischen Einstellung wurde er vom Verfassungsschutz 'beschattet' und seine damaligen Doktoranden wurden als Revolutionäre betrachtet. Die meisten von ihnen kamen aus Afrika, Iran, Lateinamerika und Südeuropa. Er hat sich sehr für seine Studenten engagiert und half ihnen, ihre persönlichen Probleme zu bewältigen.

Ich traf Prof. Sigrist zum letzten Mal bei einem Alumni-Treffen an der WWU Münster im Dezember 2013. Er fragte mich, warum ich wieder zurück nach Europa gekommen bin, da ich an der Uni Oslo in Norwegen arbeitete, und wir unterhielten uns lange über die Lage in meinem Heimatland. Ich habe ihm mitgeteilt, dass die ehemaligen marxistischen 'Befreier' sich in Diktatoren verwandelt haben, worüber er lachen musste. Ich werde ihn stets als humorvollen, freundlichen und engagierten Menschen in Erinnerung behalten.

Mit freundlichen Grüßen,

Prof. Abdulkader Saleh Mohammad,
Senior Advisor
International Law and Policy Institute
Parkveien 37, 0258 Oslo, Norway



Werke (eine Auswahl)

  • Macht und Herrschaft (Hg.) (2004)
  • Ethnologische Texte zum Alten Testament, Teil 2.: Die Entstehung des Königtums.
  • Regulierte Anarchie. Untersuchungen zum Fehlen und zur Entstehung politischer Herrschaft in segmentären Gesellschaften Afrikas (1967).
  • Das Rußlandbild des Marquis de Custine. Von der Civilisationskritik zur Russlandfeindlichkeit (1990).
  • Wissenschaft, Widerstand und Autorität (1981)
  • Wissenschaftsfreiheit heute. Zensur und Kriminalisierung? am Beispiel des Soziologen Prof. Christian Sigrist. (1980)
  • Indien. Bauernkämpfe: die Geschichte einer verhinderten Entwicklung, von 1756 bis heute
  • Probleme des demokratischen Neuaufbaus in Guinea-Bissao und auf den Kapverdischen Inseln (1977)

Im Verlag Syndikat hat er zusammen mit Fritz Kramer herausgegeben:

  • Gesellschaften ohne Staat. Bd. 1: Gleichheit und Gegenseitigkeit; Bd. 2: Genealogie und Solidarität (beide 1978)

Zu Sigrists 65. Geburtstag erschienen Ende März 2000 die Festschriften

  • "Soziologie im Minenfeld" als sechster Band der wissenschaftlichen Buchreihe "Kulturelle Identität und politische Selbstbestimmung in der Weltgesellschaft".
  • "Subjekte und Systeme. Soziologische und anthropologische Annäherungen" .


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