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Diskussion:Fritz Scherer - Gedenkseite: Unterschied zwischen den Versionen

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'''Der alte Fritz von Neukölln und die Junganarchos'''
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Was mich in meiner Erinnerung und im Abstand eines Vierteljahrhunderts an Fritz Scherer am meisten beeindruckte, war die scheinbar ungebrochene Verbindung aus politischer Haltung und Alltagsleben. Fritz Scherer (Jahrgang 1903) war ein Veteran anarchosyndikalistischer Polit-Geschichte und zugleich Mitglied des Alpenvereins. Damit war er für uns Junganarchos Mitte der 1970er Jahre eine Art personifizierter Kulturschock. Diese Kombination aus politischer Radikalität und heimattreuer Naturverbundenheit beschreibt drastisch den vermeintlichen kulturellen Spagat, den Fritz zeitlebens in den Augen von Subkulturanarchos vollzogen haben muss. Doch für Fritz war das alles ganz normal und er war alles andere als ein kaputter Typ. Eher war er lebensfroh und es schien ihm nie in den Sinn gekommen zu sein, politisch etwas anderes als Anarchist zu sein. Jedoch war das, was man als Junger an ihm akzeptieren wollte, viel weniger, als das, was seine Persönlichkeit in Wirklichkeit ausmachte. Ich kann mir vorstellen, und das erst mit dem Abstand von Jahrzehnten, dass er deshalb auch einsam war. Die letzte Zeit bis zu seinen Tod im Jahr 1988 verbrachte er schließlich, wie ein „normaler“ Rentner, im Seniorenheim. Dort soll er auch eine Freundin gehabt haben (Es heißt, die Frauen seien dem vitalen Kerl zeitlebens sehr zugetan gewesen).
 
Betrachtet man ein altes Foto mit ihm aus den 1920er Jahren und sieht Denselben als alten Mann in den 1970ern, erscheint einem die Ähnlichkeit und Zeitlosigkeit geradezu verblüffend. Auf dem alten Foto: Ein junger Mann mit langem, in der Mitte gescheiteltem Haar, lockere Leinenkleidung, lange Shorts und die Füße lebensreformerisch barfüßig. An der Bluse das Abzeichen mit den zerbrochenen Gewehr der Gewaltlosigkeit. Ungefähr sechzig Jahre später begrüßt ein lang- und weißhaariger drahtiger Achtzigjähriger – mit dem besagten zerbrochenen Gewehr an der Brust – den jungen Besucher an der Tür in der Karlsgartenstraße in Berlin-Neukölln. In der Gegend hat er übrigens schon einmal als junger Mann gelebt. Seine Wohnung wirkte aufgeräumt, war aber vollgestopft mit Büchern aller Interessensgebiete, die Anarchoklassiker durchweg schwarzrot eingebunden (Fritz war gelernter Buchbinder). Immer ein aktuelles Buch aufgeschlagen, las er mindestens so viel wie wir. Auch wenn er bei seiner Lektüre unterbrochen wurde, freute er sich über den spontanen Besuch. Er erörterte das soeben gelesene und man diskutierte darüber.
 
Aber dieser berlinernde Arbeiter, der sich am Telefon als „Fritze Scherer“ meldete, wirkte auch irgendwie fremd auf die jungen antiautoritären und kulturell gebrochenen Polithippies: Sein Optimismus erschien ein wenig naiv, angesichts seines zeitlebens ungebrochenen Glaubens an „die Freiheit“.
 
Doch – und es muss wiederholt werden – er war froh über die Junggenossen, die ihn ab den frühen 1970er Jahren besuchten. Und die staunten nicht schlecht über diesen authentischen Vertreter einer politisch (selbst-)bewussten Arbeiterklasse, mit all ihren „kleinbürgerlichen“ Alltagsattributen.
 
Regelmäßig machte der braungebrannte drahtige Nichtraucher noch seine Wanderreisen und kletterte in den steilen Bergen herum. Wir dagegen rauchten wie die Schlote (nicht nur Tabak), tranken Unmengen Alkohol und bewegten uns nur dann, wenn es unvermeidlich war, nämlich auf Demonstrationszügen. Der ehemalige Hüttenwart der Bakuninhütte im Thüringischen verteilte gerne die kleinen Souvenir-Blechschildchen der Bakuninhütte für Wanderstöcke an uns. Wir bestaunten dieses Andenken aus der großen Zeit des Deutschen Anarchosyndikalismus, das über National- und Realsozialismus gerettet worden war und hüteten es wie einen Schatz, obwohl wir so etwas „biederes“ wie einen Wanderstock nie spazieren geführt hätten.  
 
Ich sehe den Menschen noch vor mir, wie er uns zeigte, mit echtem Handwerkszeug eines Buchbinders umzugehen und uns eifrig dabei half, die Schuber für die gesammelten „anarchistischen texte“ - erschienen im Libertad Verlag - zusammenzukleben.
 
Seine Beerdigungsfeier symbolisierte vielleicht den großen durchgängigen Konflikt seines Lebens: Dort – auf der einen Seite – die Familie und hier – und mit einem gewissen Abstand – die Genossen.
 
 
 
Rolf Raasch im September 2009
 

Version vom 12. November 2009, 07:51 Uhr

Lieber Rolf, vielen Dank für den Beitrag "Der alte Fritz von Neukölln und die Junganarchos". Wir haben ihn auf die Hauptseite übernommen. Uwe B