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Lexikon der Anarchie: Sachthemen


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Die in New York von 1890 bis 1977 in jiddischer Sprache erschienene anarchistische "Fraye Arbayter Shtime" (Freie Arbeiter Stimme)

Vorbemerkung

Die während der verschiedenen Entwicklungsstufen des Judentums vorhandenen anarchistischen Gedankengänge und ideologische Strömungen können hier nicht berücksichtigt werden. Sowohl in der jüdischen Prophetie, wie auch in Bewegungen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, z.B. die jüdische Mystik (Kabbalah), und auch in gewissen Kreisen innerhalb des in Osteuropa sehr verbreiteten Chassidismus, gab es anarchistische Auffassungen. Unter den Juden/Jüdinnen bestand im zweiten Teil des 19. Jahrhunderts in verschiedenen Teilen Europas, den USA und anderen Ländern eine sich ziemlich schnell ausbreitende und sehr aktiv wirkende anarchistische Bewegung, die aber auch relativ schnell wieder verebbte.


Anarchismus unter Juden und Jüdinnen

In der Zeitspanne vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zwischen den beiden Weltkriegen gab es große Konzentrationen jüdischer anarchistischer Bewegungen in Osteuropa, besonders im zaristischen Rußland, in England, in den USA und auch in Argentinien.

Dies sind Länder, in denen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele Juden und Jüdinnen lebten, wobei in Betracht gezogen werden muss, dass das zaristische Rußland und die anderen Länder Osteuropas vor allem Ausgangsländer für die große jüdische Auswanderung in die Länder des Westens bildeten. Dies ist z.B. der Grund für die Entwicklung der sehr stark jüdisch bevölkerten Teile von Whitechapel in London und für die sehr große Ansiedlung von Juden und Jüdinnen an der East River Side in New York am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts.

Die Gründe für diese riesige Wanderungsbewegung ist die damalige politische, gesellschaftliche und kulturelle Situation der Juden und Jüdinnen in den Ländern Osteuropas. Die Juden und Jüdinnen wurden nicht als Bürger der verschiedenen Staaten anerkannt, sondern sie waren meist eine ungeliebte Minorität, d.h. von Emanzipation konnte schwerlich die Rede sein. Ihre wirtschaftliche Lage war im allgemeinen schlecht. Ein großer Teil von ihnen gehörte proletarischen Schichten oder dem armen Kleinbürgertum an. Der Antisemitismus wütete in diesen Ländern. Ein Beispiel hierfür sind die fast ununterbrochenen Verfolgungen und Pogrome, wie das sehr bekannte Pogrom von Kischinew (Rußland) im Jahre 1903. Die älteren Generationen der jüdischen Bevölkerung blieben meistens orthodox oder mindestens traditionalistisch eingestellt. Die Familie hatte noch weitgehend patriarchalischen Charakter, wenngleich auch hier in einzelnen Teilen Osteuropas schon Veränderungen begannen. Aber grosso modo hatte in dieser Schicht die Religion mit ihren sehr exakten Geboten noch einen sehr weitgehenden Einfluss. Noch bemühten sich die Eltern ihre Kinder in den Cheder (die Kinderschule vom dritten Lebensjahr an) und später in die Jeschiwah (die Talmudschule) zu schicken.

Die in Osteuropa im 19. Jahrhundert sehr verbreitete jüdische Aufklärungsbewegung machte natürlich große Anstrengungen, das jüdische Leben zu modernisieren. Diese Bewegung, Haskalah genannt, hatte große Auswirkungen in zwei Richtungen: Einerseits eine verstärkte Entfernung vom Traditionellen und ein Annähern an das moderne Leben; andererseits das Bemühen, die hebräische Kultur und Sprache von neuem zu fördern, was für die spätere Entwicklung in der zionistischen Bewegung eine große Rolle spielte. Dies führte natürlich auch zur Errichtung eines moderneren jüdischen Schulnetzes, besonders bei den Juden und Jüdinnen in Litauen und Polen. Dieser Modernisierungsprozess, der vor allem die jüngeren Generationen erfasste, brachte das Einströmen moderner politischer Gedanken wie z.B. die umfassende sozialistische Geisteswelt, moderne Philosophie und vieles anderes mit sich. Auch fiel in diese Jahre die Modernisierung der jiddischen Sprache und Kultur; auch das jiddische Schulwesen spielte eine entscheidende Rolle.

Das u.a.m. ist auch die Grundlage des Erwachens der verschiedenen politischen Bewegungen innerhalb des osteuropäischen Judentums, so auch das einer jüdisch-anarchistischen Bewegung in Osteuropa. Mit der großen Immigrationswelle, die in den westeuropäischen Ländern, besonders in England und dann später in den USA, vor allem in den östlichen Städten, ankam, sind die Grundlagen, besonders in der ersten Phase der Existenz der Juden und Jüdinnen in den verschiedenen Ländern, geschaffen worden, in denen sich jüdische Arbeiterbewegungen und so auch die jüdisch-anarchistischen Bewegungen entwickeln konnten. Der Immigrationsprozess brachte eine sehr weitgehende Proletarisierung mit sich. Die meisten jüdischen Einwanderer arbeiteten in der damals besonders in New York und anderen Städten sehr verbreiteten Konfektionsindustrie. Die Arbeitsbedingungen waren sehr hart und somit, wie schon angedeutet, den politischen und damit auch der anarchistischen Bewegung förderlich. Hier ist zu beachten, dass außer diesen proletarischen jüdischen Schichten auch Gruppen junger jüdischer Intellektueller in all diesen fortschrittlichen Bewegungen eine entscheidende Rolle spielten. Dies trifft sowohl für die Auswanderungsländer (Osteuropa), als auch für die verschiedenen Einwanderungsländer zu. Auch in dem damaligen von England beherrschten Südafrika bildete sich eine ziemlich große jüdische Konzentration von aus Osteuropa eingewanderten Juden und Jüdinnen. Es gab hier unter den Juden und Jüdinnen ebenfalls die oben erwähnten politischen Gruppierungen, wenngleich die Entwicklung des südafrikanischen Judentums, infolge der in diesem Lande gegebenen Bedingungen, vielfach anders verlief. In dem damaligen Erez Israel (Palästina) war am Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Einwanderung von Juden und Jüdinnen noch sehr gering.

England

1885 wurde in London von einigen Intellektuellen, um die sich eine Anzahl Arbeiter geschart hatte, die jiddische Zeitschrift „Der Arbayter Fraynd (Der Arbeiterfreund)"“ gegründet. Der erste Redakteur war Philipp Kranz. Ende der neunziger Jahre wurde dieses Blatt ausgesprochen anarchistisch. Es war Saul Yanowski, der das Blatt in diese Richtung lenkte. Innerhalb der jüdisch-sozialistischen Kreise war die anarchistische Bewegung die stärkste. Unter Juden und Jüdinnen dominierte der kommunistische Anarchismus. Sie wurden besonders von den Ideen Peter Kropotkins beeinflusst. „Der Arbeter Fraind“ stellte im Jahre 1894 sein Erscheinen ein; unter der Redaktion von William Wess und später Abraham Frumkin erschien das Blatt dann erneut. Im Jahre 1898 übernahm Rudolf Rocker die Redaktion. R. Rocker war deutscher Nichtjude, der sich der anarchistischen Bewegung angeschlossen hatte, jiddisch gelernt und im Laufe der Jahre zu einem der Sprecher des Anarchismus und auch des jüdischen Anarchismus in England wurde. Wir finden ihn im Laufe der Jahre in allen Ländern, in denen sich jüdische anarchistische Bewegungen befanden. Er redigierte das Blatt und leitete die englisch-jüdische Bewegung bis zum Ausbruch des I. Weltkrieges. Der „Arbayter Fraynd “, wie auch andere jiddische Zeitungen dieser Zeit, befanden sich auf einem sehr hohen, man könnte sagen, kosmopolitischen Niveau.

Die von Rudolf Rocker herausgegebene anarchistische Monatszeitschrift Zsherminal (Germinal).

Im Jahre 1903 bildete sich in London die „Föderation der jiddisch sprechenden Anarchisten“. Zu ihr gehörten dreizehn Gruppen und sie hatte Verbindungen mit ähnlichen Gruppen in Leicester, Birmingham, Liverpool, Manchester, Glasgow und Edinburgh. Neben dem „Arbeter Fraind“ erschien unter der Redaktion von R. Rocker auch die anarchistische Monatsschrift „Zsherminal (Germinal]" (1900-1909). Der Einfluss dieser Gruppen auf die englische Arbeiterbewegung war nicht gering. Mit den damals in London lebenden russischen Anarchisten wie P. Kropotkin, Nicholas Tschaikowsky und Varlaam Tscherkesoff hatten sie enge Beziehungen. R. Rocker wurde bei Ausbruch des I. Weltkrieges interniert und die Redaktion ging an Alexander Schapiro über, der den „Arbayter Fraynd“ bis 1916 redigierte. In diesem Jahre wurde das Blatt durch die englische Regierung verboten. Nach dem I. Weltkrieg erschien die Zeitung unter der Redaktion von Jakob Meir Salkind erneut. Die anarchistische Bewegung in England wurde aber schwächer. R. Rocker und andere wurden aus England ausgewiesen. R. Rocker kehrte nach Deutschland zurück, wo er bis 1933 blieb. Andere jüdische Anarchisten gingen nach Polen und Rußland. Viele glaubten, nach der Russische Revolution | Russischen Revolution]] in Rußland wieder ein neues Tätigkeitsfeld zu finden. Mehr oder weniger endete mit dieser Auswanderung die Geschichte der anarchistischen jüdischen Bewegung in England.

Rußland

Die jüdisch-anarchistische Bewegung bildete sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Rußland. Vermutlich waren es Mitglieder des „Jüdischen Arbeiterbundes“ (allg. kurz genannt der „Bund“), die mit den anarchistischen Ideen in Ländern außerhalb Russlands vertraut wurden und dieselben nach Rußland brachten. Das zaristische Regime verfolgte diese Gruppen wie alle anderen revolutionären Gruppierungen. Jüdisch-anarchistische Gruppen bestanden in Bialystok, Grodno, Wilna, Kowno, Warschau und Odessa.

An allen russischen Revolutionen der kommenden Jahre, 1905 und 1917, nahmen sie teil. Sowohl die zaristische als auch später die sowjetische Regierung verfolgten jede Art von Anarchismus s. Machno-Bewegung in der Ukraine oder die Erhebung der Matrosen in Kronstadt, die durch die Sowjetregierung als anarchistisch denunziert wurde. Auch die Rückkehr von P. Kropotkin in das sowjetische Rußland war nicht von Erfolg gekrönt.

Alles in allem sahen die Bolschewiki in der anarchistischen Bewegung eine konterrevolutionäre Strömung, die zu bekämpfen war.

USA

Die anarchistische Bewegung unter den jiddisch sprechenden Einwanderern in den USA bildete sich in den Jahren nach der Chicagoer Haymarket-Affäre (1886/87). Wohl gab es schon vorher jüdische Anarchisten wie z.B. lsidor Stein, der aus Deutschland kam, und der in dem deutschsprachigen Flügel der allgemeinen anarchistischen amerikanischen Bewegung aktiv war. Er war Sekretär der in New Haven bestehenden Gruppe der „International Working People's Association”. Zu dem englischsprachigen Flügel der anarchistischen Bewegung gehörten Emma Goldman und Alexander Berkman.

Die jiddisch sprechende anarchistische Bewegung war sehr groß. Nach der Haymarket-Affäre entstand in New York die Gruppe der „Pioniere der Freiheit“ (jiddisch: Pionire der Frayhait), die hauptsächlich unter den jüdischen Immigranten der New Yorker Lower East Side aktiv war. In diesen ersten anarchistischen Gruppierungen fanden etwas später ausgezeichnete jüdische Intellektuelle ihren Platz. So z.B. Saul Yanowski, Roman Lewis, Hillel Solotaroff, Mosche Katz, I. A. Marison, David Edelstadt. Die erste Aktion dieser „Pioniere“ war der Versuch, ihre Freunde in Chicago vor dem Galgen zu retten. Ohne Erfolg.

Die jüdisch-anarchistische Bewegung bildete auch in anderen Städten im Osten der USA Gruppen, in denen sich große Konzentrationspunkte jiddisch sprechender Einwanderer befanden. So entstanden Gruppen in Baltimore, Boston, Providence, Chicago und Philadelphia. In Philadelphia organisierte sich die Gruppe der „Knights of Liberty“ (jiddisch: Ritter der Frayhait), ähnlich der ersten New Yorker Gruppe. Im Anfangsstadium dieser Organisierung mischten sich sehr oft anarchistische und sozialistische Gruppen und in beiden Richtungen ging ein Kristallisierungsprozess vor sich. Innerhalb der sozialistisch eingestellten Gruppen gab es auch schon solche, die zionistisch-sozialistisch waren und die deshalb für alle anderen Gruppen eine besondere Herausforderung darstellten.

In der jüdischen anarchistischen Bewegung hatte der deutsche Nichtjude Johann Most einen sehr entscheidenden Einfluss, ähnlich dem von R. Rocker in London. Die Verbindungen zwischen den amerikanischen und den Londoner Gruppen waren sehr eng. So lasen die amerikanischen jüdischen Anarchisten den Londoner „Arbeter Fraind“ oder sie lasen auch, wenn sie genügend englisch konnten, Benjamin R. Tucker's „Liberty“. Im Jahre 1889 begann in New York eine anarchistische jiddische Wochenzeitung „Die Wahrheit“ (jiddisch: Die Varhayt) zu erscheinen. In dieser Zeitung finden wir in jiddisch Artikel von J. Most, P. Kropotkin, Gedichte von David Edelstadt und Abdrucke aus Emile Zolas „Germinal“. Eine Extra-Ausgabe war der Pariser Kommune gewidmet. Diese Wochenzeitung wurde später durch die Tageszeitung „Die freie Arbeiterstimme“ (jiddisch: Die Fraye Arbeter Shtime) ersetzt. Diese Zeitung bestand, außer einer kurzen Unterbrechung, siebenundachtzig Jahre.

Außer ihren wichtigen journalistischen Tätigkeiten entwickelte die Bewegung noch andere kulturelle Aktivitäten, z.B. die Herausgabe von Literatur aus allen politischen und kulturellen Gebieten in Jiddisch.

Hier müssen wir auch kurz auf einen besonderen Aspekt eingehen: die ausgesprochen atheistische und antireligiöse Einstellung und Aktivität der jüdischen Anarchisten. Hierzu gab es eine Anzahl von Aktionen, wie die z.B. absichtlich abgehaltenen Jom Kippur-Bälle – Jom Kippur, dieser Versöhnungstag, ist der höchste Feier- und Fasttag des Judentums; bzw. die Veröffentlichung einer anarchistischen Hagadaherzählung am Pesach-Fest. Dieses Fest zeichnet sich durch die Erzählung (Hagadah) des Auszuges der Juden aus Ägypten aus, die am Vorabend des Festes am Familientisch vorgelesen und gefeiert wird. Die antireligiöse Aktivität hatte, wie es scheint, die gleiche Wichtigkeit wie die Kritik an Staat und Regierung. Es ist verständlich, dass diese antireligiösen Aktivitäten in weiten jüdischen Kreisen großen Unmut erregte, denn der Einfluss der Religion in verschiedensten Formen war innerhalb der jüdischen Einwanderer noch bedeutend und es war für sie nicht leicht, sich von der Tradition vollkommen zu lösen.

Wie schon ausgeführt, spielte das Zeitungswesen in der anarchistischen wie in allen politischen Bewegungen eine sehr entscheidende Rolle. So ist es nicht verwunderlich, dass die Gründung der „Freien Arbeiterstimme“ ein Markstein in der Entwicklung der anarchistischen Bewegung war. Sie wurde am 4. Juli 1890 gegründet und erschien bis Dezember 1977. Die Reihe der Herausgeber und Redakteure dieser Zeitung war lang. Die entscheidendste Epoche der Zeitung, und damit auch für die anarchistische jüdische Bewegung in den USA, war wohl die des Herausgebers und Redakteurs S. Yanowski (Oktober 1899 bis 1919). S. Yanowski war derjenige, der der Zeitung den eindeutig anarchistischen Charakter gab.

Von den Autorinnen dieser Zeitung sind besonders erwähnenswert P. Kropotkin, H. Solotaroff, J. Most, R. Rocker, Max Nettlau, Abraham Frumkin, E. Goldman, die Lyriker David Edelstadt, Josef Bovshover, Morris Rosenfeld, Morris Vinchevsky und die amerikanische Anarchistin Voltairine de Cleyre. Die Letztere lernte in den Ghettos Jiddisch. In den Jahren unter der Leitung von S. Yanowski erschienen in der „Freien Arbeiterstimme“ Übersetzungen aus Schriften von August Strindberg, Henrik lbsen, Bernard Shaw, Octave Mirabeau und Bernard Lazare. Der Anarchismus machte in diesen Jahren am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine interessante Entwicklung durch: Von einer Bewegung der „Tat“, die entscheidend von den Gedanken J. Mosts beeinflusst wurde und manchmal auch utopische und eschatologische Züge trug und selbstverständlich den Kampf für persönliche Freiheit und gegen Unterdrückung auf ihre Fahne schrieb – ohne dass diese Einstellung später verschwand –, entwickelte sich der jüdische Anarchismus in den USA zu einer mehr und mehr konstruktiv eingestellten Bewegung, die in Erziehungsaufgaben, Gewerkschaftsarbeit und in der Errichtung von Kooperativen jeglicher Art sowie auch in der Etablierung von Verlagen ihre Aufgabe sah.

Diese Entwicklung ist ungefähr parallel zu den Jahren 1899 bis 1919, in denen S. Yanowski als Redakteur der „Freien Arbeiterstimme“ einer der einflussreichsten Personen der jüdischen anarchistischen Bewegung war. Die Zeitung hatte ihre größte Verbreitung in den Jahren kurz vor dem I. Weltkrieg: täglich erschienen 20.000 Exemplare.

Die Jahre 1894/95 waren eine Krisenzeit in der Entwicklung des jüdischen Anarchismus in den USA. Die Zeitung stellte vorübergehend ihr Erscheinen ein. Aber gleichzeitig wurde ein kulturell-politisches Monatsblatt, „Die Freie Gesellschaft“ (Jiddisch: Di Fraye Geselshaft) herausgegeben, das in dieser Zeit des Niedergangs eine wichtige Rolle spielte. Der Redakteur dieses Blattes ist Leontieff. Auch in ihm erscheinen Übersetzungen von P. Kropotkin, Jean Grave, Elisée Reclus und Sébastian Faure.

Aber gerade diese Jahre sind auch die Jahre in der jüdischen Geschichte, in denen sich in Osteuropa die Pogrome gegen Juden und Jüdinnen ereignen (sowohl 1903 als auch 1906). Diese schwerwiegenden Ereignisse gingen auch an den jüdischen Anarchisten nicht spurlos vorüber. In ihren Kreisen begannen sich nationale Einstellungen bemerkbar zu machen. Einige unter ihnen schlössen sich der „Am Olam“-Bewegung (Das Ewige Volk) an. Dies kam u.a. auch in der Kooperation mit anderen jüdischen Organisationen zum Ausdruck. In der gleichen Zeit erschienen eine größer und größer werdende Anzahl von neuen anarchistischen Zeitungen und Zeitschriften. Die Buchverlage vermehrten sich. So z.B. entstand der „Freie Arbeiter Verlag“ (Fraie Arbeter Verlag) in Newark oder die „Germinal Publishing Association” in Brooklyn. Vor allem wurden P. Kropotkins Schriften auf jiddisch veröffentlicht. Aber es wurden auch Herbert Spencers Verteidigungsrede für die russische Anarchistin Matryona Priszniashjuk, die zum Tode verurteilt wurde und ihrem Leben in der Gefängniszelle ein Ende machte (1909), gedruckt. In der Zeit der Russischen Revolution von 1905 gründeten die jüdischen Anarchisten ein „anarchistisches Rotes Kreuz“, das Hilfsaktionen für die Anarchisten in Rußland organisierte. Aber gleichzeitig intervenierten sie auch für japanische Anarchisten, die vom Tode bedroht waren (1911). Ein wichtiger Markstein in der Geschichte der anarchistischen Bewegung war der 70. Geburtstag von P. Kropotkin (1912). Bei dieser Gelegenheit wurde eine „Kropotkin Literatur Geselshaft" (jiddisch) gegründet, die anarchistische und auch andere sozialistische Schriften herausgab. Vor und bei Ausbruch des I. Weltkrieges begann eine scharfe Diskussion über die Verantwortung für den Krieg und die Einstellung zu ihm und seinen Folgen. Ebenso kam es zu einer scharfen Auseinandersetzung hinsichtlich der Bolschewistischen Revolution. In Folge dieser Kontroversen resignierte S. Yanowski.

Es begannen Deportationen lästiger Ausländer aus den USA. Unter ihnen waren auch E. Goldman und A. Berkman. In den USA grassierte die Furcht vor allem, was des „Kommunismus“ verdächtig erschien.

Josef Cohen wurde der Nachfolger von S. Yanowski als Redakteur der „Freien Arbeiterstimme“. Außer seiner großen schriftstellerischen Fähigkeit war er auch einer der Förderer und Mitbegründer der „Stelton Kolonie“ in New Jersey und später der „Sunrise Kolonie“ in Michigan (1933 bis 1938). In diesem Zeitraum blieb das Jiddische nicht mehr die einzige Sprache der jüdischen Anarchisten. So erschien unter J. Cohens Ägide vorrübergehend eine englische Ausgabe der „Freien Arbeiterstimme“, wie auch Schriften von M. Nettlau und A. Berkman in englisch. Dies waren auch die Jahre der Sacco und Vanzetti-Affäre. Die jüdische anarchistische Bewegung war mit in diesem leider erfolglosen Ringen um das Leben von Sacco und Vanzetti engagiert. Die Zusammenarbeit mit sozialistischen und liberalen Gruppen wurde dabei immer enger. In den 30er Jahren, während des Spanischen Bürgerkrieges (1936-1939), erlebte die anarchistische Bewegung einen Aufschwung. Nach diesen Ereignissen, vor allem aber nach dem II. Weltkrieg, begann dennoch der Niedergang des jüdischen Anarchismus in den USA. Das Erscheinen der „Freien Arbeiterstimme“ und anderer anarchistischer Zeitungen in Jiddisch wie auch der allgemeinen jiddischen Literatur (Bücher und Zeitungen) wurde eingeschränkt. Die jiddische Sprache, wie auch die anarchistischen Ideen verflüchtigten sich, so dass in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts fast ein Verschwinden der anarchistischen Bewegung festgestellt werden muss.

Argentinien

Eine besondere jüdische anarchistische Bewegung bestand in Argentinien nicht. Auch dort konzentrierten sich die jüdischen Einwanderer in den großen Städten. Sie errichteten im Laufe der Jahre Schulen und Verlage etc. Selbstverständlich auch eigene Parteien. Aber die jüdischen Anarchisten organisierten sich nicht in einer gesonderten jüdisch-anarchistische Bewegung, sondern waren in der anarchistischen Bewegung des Landes, z.B. der FORA, integriert. Nur in der anarchistischen Zeitung „La Protesta“ erschien für einige Zeit, von 1906 an, eine Zeitungsseite in Jiddisch, die es den nicht spanisch sprechenden Mitgliedern der anarchistischen Bewegung ermöglichte, sich zu informieren.


Deutschland

Eine jüdisch-anarchistische Bewegung wie sie in England oder den USA bestand, gab es in Deutschland nicht. In der sehr kleinen anarchistischen Bewegung Deutschlands traten Denker, wie Gustav Landauer und Erich Mühsam hervor. Auch Ernst Toller stand dieser Strömung nahe.

Israel (Erez Israel)

Schon in der Frühzeit des Zionismus und sogar noch vorher finden wir Denker, die durch anarchistische Ideen stark beeinflusst waren. Erwähnen wir hier nur Moses Hess, B. Lazare, Martin Buber, Franz Oppenheimer u.a.m. In diesen Zusammenhang gehört auch Gustav Landauer, der Freund M. Bubers, der sich ähnlich wie B. Lazare, auch zionistischen Gedanken nähert. Hier ist festzustellen, dass Anarchismus und Nationalismus kein Paradox sein müssen. Im Gegenteil: Es gibt anarchistische Denker, die der Meinung sind, dass ohne eine nationale Grundlage eine anarchistische Bewegung nicht entstehen kann. Was Erez Israel betrifft, scheint es zuzutreffen, dass in der dritten Einwanderungswelle, gleich nach dem I. Weltkrieg, auch anarchistisches, vielleicht anarchosyndikalistisches Gedankengut in die jetzt entstehenden ersten Kwuzoth und den Gedud Awoda (Die Legion der Arbeit) eingedrungen sind, das sich aber später großenteils verflüchtigte ( Kibbuzbewegung). Auch in den 1930er Jahren bestanden anarchistische Gruppen in Erez Israel. Während der Zeit des Spanischen Bürgerkrieges organisierten diese zusammen mit anderen politischen Gruppen eine Hilfsorganisation für die Spanische Republik und es gab auch einige Freiwillige, die nach Spanien gingen, um für die Republik zu kämpfen.

Nach dem II. Weltkrieg kamen sowohl aus der Sowjetunion, Polen, wie auch aus den Konzentrationslagern Anarchisten nach Israel. Unter ihnen z.B. Aba Gordin, der einige wichtige anarchistische Schriften ins Hebräische übertrug. Eine der wichtigsten Leistungen dieser Zeit ist die Herausgabe der jiddischen Zweimonatszeitschrift „Probleme“ (bis 1989), die die brillante Tradition anderer jiddischer Zeitschriften der anarchistischen Bewegung fortsetzt. Ihr Redakteur ist Josef Luden, der außerdem eine kurze Geschichte des Anarchismus (1985) herausgegeben hat.

Autor: Chaim Seeligmann


Literatur und Quellen: Bibliographien

  • Jüdisches Lexikon: Bd l., Berlin, 1927
  • Encyclopaedia Judaica: Bd. l, Berlin 1931;
  • "Antisemit, das geht nicht unter Menschen". Anarchistische Positionen zu Antisemitismus, Zionismus und Israel, 2 Bände, herausgegeben von Jürgen Mücken und Siebert Wolf, Verlag Edition AVLich 2013.f.
  • P. Avrich: Anarchist Portraits, Princeton U. Press 1988, Chapter 13: „Jewish Anarchism in the United States”
  • J. J. Cohen: The Quest of Heaven, The Story oft he Sunrise Cooperative Farm Community, New York 1957
  • W. S. Fishman: East End Jewish Radicals 1875-1914, London 1975
  • L. P. Gartner: The Jewish Immigrant in England 1870-1914, London 1960
  • E. Goldman: Living my Life. In Two Volumes, New York 1970
  • M. Goncharok, Ashes from our fires. Historical Survey of the Yiddish Anarchist Movement. Jerusalem 2002. [in russ. Sprache]
  • J.-M. Izrine: Les Libertaires dans l'Affaire Dreyfus, Alternative Libertaire Paris 2012.
  • W. Portmann/S. Wolf: "Ja, ich kämpfte." Von 'Luftmenschen', Kindern des Schtetls und der Revolution. Biographien radikaler Jüdinnen und Juden. Münster 2006.
  • G. Landauer: Philosophie und Judentum. (= Gustav Landauer: ausgewählte Schriften Band 5), herausgegeben von Siebert Wolf, Verlag Edition AV Sich 2012.
  • M. Rischin: The promised City, New York 1970
  • R. Rocker: London Years, London 1956
  • A. Wechsler: Emma Goldman. An Intimate Life, London 1984
  • R. Weisbrot: The Jews of Argentina, Philadelphia 1979

Hebräische und jiddische Literatur

  • Encyclopedia Lemadae Chewra; Encyctopedia lvrith; Allgemene Encyclopedie (Jiddisch), Paris 1937
  • J. Luden: Takzir Haraion Haanarchisti (Kurze Darstellung der Entwicklung der anarchistischen Idee), Tel Aviv 1985


Quelle: Dieser Artikel erschien erstmals in: Lexikon der Anarchie: Encyclopaedia of Anarchy. Lexique de l'anarchie. - Hrsg. von Hans Jürgen Degen. - Bösdorf: Verlag Schwarzer Nachtschatten, 1993-1996 (5 Lieferungen). - Loseblattsammlung in 2 Ringbuchordnern (alph. sortiert, jeder Beitrag mit separater Paginierung). Für die vorliegende Ausgabe wurde er überarbeitet.

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