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Bernd Drücke, 7.9.2009
 
Bernd Drücke, 7.9.2009
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==Den Stock in der Hand, die Zigarre im Mund, den Enthusiasmus im Leib.  Nachruf von Marianne Enckell, CIRA==
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'''Horst gehörte zu den „Umtriebigen“, den unermüdlichen Propagandisten des Anarchismus.'''
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In Argentinien aufgewachsen, wo er seine ersten politischen Gehversuche machte, kehrte er zum Studium nach Deutschland zurück, gerade als dort eine neue anarchistische Bewegung im Entstehen war. Mit seinem Bruder Klaus stürzte er sich ins Druck- und Verlagswesen und gründete 1971 ein Dokumen¬tationszentrum, das er bei sich in Wetzlar unterbrachte, als Teil eines Kommuneprojekts. Er knüpfte rasch Kontakte in ganz Europa, veröffentlichte selbstgemachte Broschüren und Zeitschriften und nahm an internationalen Treffen teil. Nach Lausanne kam er zum ersten Mal 1972, um auf dem Kolloquium Gesellschaft und Gegengesell¬schaft über Deutschland zu sprechen, ein letztes Mal vor zwei Jahren, beim Treffen der FICEDL – dem internationalen Zusammenschluss der libertären Forschungs- und Dokumentationszentren –, anlässlich des CIRA-Jubiläums.
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Hindernisse waren für ihn auch immer eine Gelegenheit, Veränderungen vorzunehmen. Die Idee zum  „Projekt A“, die Ansiedlung einer Reihe von Kollektiven, die einen wirtschaftlich tragfähigen Bereich mit einer politischen Tätigkeit kombinieren, in einer Stadt mittlerer Größe, war seinem eigenen Leben entnommen, er, der im Verlagswesen und als Grafikdesigner arbeitete und gleichzeitig LeserInnen in seinem „AnArchiv“ empfing. Horst engagierte sich auch stark im Leben vor Ort, bei der Unterstützung spanischsprachiger ImmigrantInnen oder in der Wohnungsfrage. Schwierigkeiten und Konflikte blieben nicht aus, doch machte er nicht den Eindruck, als würden sie ihn allzu sehr belasten.
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Selbst als die Krankheit ihn zeitweilig zum Rückzug zwang, blieb er stets guten Mutes. Bis hin zu seinem letzten Projekt, Vision und Wirklichkeit in einem: dem kollektiven Ankauf und der Sanierung eines großen Komplexes historischer Häuser in der Nähe von Neustadt, dem Eilhardshof, als Stätte gemeinsamen Lebens und Arbeitens über die Generationsgrenzen hinweg, vom Kleinkind bis zum Greis – ein praktisches Beispiel gegenseitiger Hilfe.
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Sein erstes erfolgreiches Buch, Leben ohne Chef und Staat, ist im selben Geist des „Doppelprojekts“ geschrieben: Horst erzählt darin Episoden aus der Geschichte der Anarchisten, aus denen er Lehren für „Einsteiger“ zieht, eine Pädagogik der direkten Aktion und des Ethischen. Eines seiner letzten Bücher, mutig mit Anarchie! (2007) betitelt, stand in Deutschland mehrere Wochen auf der Liste der meistverkauf¬ten Sachbücher und war Gegenstand unermüdlicher Vortrags- und Veranstaltungsreisen.
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Eines der letzten Fotos des Bildbandes Ciao Anarchici über das internationale Treffen in Venedig im September 1984 zeigt Horst beim Tanzen, mit einer jungen Frau auf den Schultern, die die schwarze Fahne schwenkt – eine Reminiszenz des berühmten Fotos aus dem Pariser Mai 68.
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Marianne Enckell <ref><sub>Marianne Enckell (* 1944) ist Autorin, Bibliothekarin und Über¬setzerin. Seit über 40 Jahren betreut sie in Lausanne das CENTRE INTERNATIONAL DE RECHERCHES SUR L’ANARCHISME ([http://www.cira.ch www.cira.ch).</sub></ref>, CIRA
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(Übersetzung aus dem Französischen: Michael Halfbrodt)

Version vom 4. Oktober 2009, 19:43 Uhr

Die Trauerreden

Am 30. August 2009 ist der anarchistische Schriftsteller Horst Stowasser im Alter von 58 Jahren in einem Krankenhaus in Ludwigshafen an einer Sepsis gestorben. Am 7. September 2009 wurde er in Neustadt an der Weinstraße beerdigt. Knapp 300 Menschen nahmen an der bewegenden Trauerfeier teil. Im folgenden veröffentlichen wir die Trauerreden von Bernd Elsner (Projekt A) , Lutz Schulenburg (Edition Nautilus) , Andreas Hohmann (FAU/Verlag Edition AV), Dieter vom Eilhardshof sowie von Bernd Drücke (Graswurzelrevolution-Koordinationsredakteur):

Trauerrede von Bernd Drücke: "Ein beharrlicher Säer anarchistischer Ideen"

Liebe Familie Stowasser, liebe Freundinnen und Freunde, liebe Genossinnen und Genossen, wir haben uns heute hier versammelt, um Abschied zu nehmen von einem lieben und geliebtem Menschen, dem großartigen Schriftsteller und Anarchisten Horst Stowasser.

Klaus von der FAU Neustadt hat mich gebeten hier über Horst zu sprechen, als Freund, als jemand, der in den letzten Jahren viel mit Horst zu tun hatte, und auch als Redakteur der Monatszeitung Graswurzelrevolution.

Ich erinnere mich gerne an Horst. Seit ich vor acht Tagen die Nachricht von seinem Tod erhalten habe, bin ich erschüttert und schlafe schlecht. Sein Tod macht mich traurig. Es ist unfassbar, dass er zu plötzlich und für uns alle unerwartet gestorben ist.

Er stand mitten im Leben. Vor wenigen Tagen haben wir noch ausgiebig telefoniert: Horst wollte eine Rezension für die Libertären Buchseiten und einen weiteren Artikel für die November-Ausgabe der Graswurzelrevolution schreiben, über das generationsübergreifende Wohnprojekt „Eilhardshof“, das er hier in Neustadt mit vielen Freundinnen und Freunden ins Leben gerufen hat.

Gemeinsam wollten wir auch das etwas angestaubte Layout der Graswurzelrevolution überarbeiten. Er steckte voller Lebenskraft und Tatendrang – seiner Kinderlähmung zum Trotz. Seine große Menschenfreundlichkeit und sein Optimismus waren mitreißend. Er war ein unermüdlicher Säer libertärer Utopien. Ein toleranter, genießender und großherziger Mensch. Sektierertum und Dogmatismus waren ihm fremd. Stattdessen begegnete er allen Menschen mit einer großen Offenheit, unabhängig von ihrer Weltanschauung. Er konnte gut zuhören, reden, diskutieren, Menschen integrieren und begeistern. Ganz im Sinne Gustav Landauers war Anarchie für ihn keine Sache der Forderungen, sondern des Lebens.

Horst wird uns fehlen

Ilka, Bernd Drücke und Horst Stowasser beim „35 Jahre Graswurzelrevolution“-Kongress (31.8. -2.9.2007) in Könnern. Foto: ChD (GWR-Archiv)

Er war seit den 70er Jahren durch die von ihm mitgeprägten Bewegungszeitungen, durch seine Vorträge und Bücher der wohl einflussreichste Anarchist in Deutschland.

Auch bei meiner persönlichen Politisierung spielte er eine große Rolle. Als Jugendlicher, Anfang der 80er Jahre, habe ich das vor allem von ihm verfasste „Was ist eigentlich Anarchie?“ aus dem Karin Kramer Verlag gelesen. Seitdem verstehe ich mich als Anarchist. Als ich sein Standardwerk „Leben ohne Chef Staat“ zum ersten Mal gelesen habe, war ich 20 und begeistert. So lebendig und klar, ohne verschwurbelte Fachtermini, ohne soziologenchinesische Tendenzen – so wie Horst schreiben leider nur wenige AnarchistInnen.

Sein „Projekt-A-Buch“ wurde konspirativ verbreitet. Es hatte aber dennoch einschlagende Wirkungen. Auch in meiner Wahlheimatstadt Münster spielte es z.B. bei der Gründung libertärer Zentren und Projekte eine große Rolle.

Die bundesweiten, szeneinternen Konflikte um das Projekt A führten allerdings dazu, dass sich Horst ab 1995, nach Erscheinen seines „Freiheit pur“-Wälzers, 10 Jahre lang enttäuscht aus der libertären Szene zurückzog. Er arbeitete viel und verdiente zeitweise gutes Geld. Aber er verfasste 10 Jahre lang keine Artikel für anarchistische Zeitungen und er schrieb keine Bücher mehr.

Als ich in den 90er Jahren meine Doktorarbeit über Anarchistische Presse geschrieben habe, konnte ich zig Bewegungs-Archive in Europa besuchen und dort libertäre Schätze auftun. Natürlich habe ich zu jener Zeit auch mehrfach Horst Stowasser angeschrieben, um das von ihm 1971 gegründete, legendäre „AnArchiv“ zu besuchen. Ich bekam damals keine Antwort. Es war die Zeit, in der Horst die Schnauze voll hatte von der anarchistischen Szene.

Trotzdem habe ich in den anderen Bewegungsbibliotheken 500 verschiedene Periodika gefunden und auswerten können, darunter auch viele, an denen Horst in den 70er und 80er Jahren beteiligt war – z.B. die anarchosyndikalistische „direkte aktion“, die 1977 ins Leben gerufen worden war und heute immer noch alle zwei Monate als bundesweites Sprachrohr der Freien ArbeiterInnen Union (FAU) erscheint. „Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht?“, der als Frage formulierte Titel der 1998 veröffentlichten Buchfassung meiner Dissertation, bezieht sich auf eine These von Horst. In „Freiheit pur“ hatte er geschrieben, der Anarchismus in Deutschland bewege sich „seit 20 Jahren im Wesentlichen nur zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht“. Diese These habe ich in meiner Studie verworfen. Und letztlich tat das auch Horst. Nicht zuletzt inspiriert auch durch seine Werke, entstanden nämlich viele Projekte, darunter Kommunen, libertäre Zentren und Wohnprojekte, wie der generationsübergreifende Eilhardshof hier in Neustadt.

Im November 2005 habe ich ein einstündiges Radiointerview mit Horst geführt. Es wurde im Bürgerfunk auf Antenne Münster ausgestrahlt, erschien gekürzt in der Graswurzelrevolution und 2006 in einer überarbeiteten, längeren Version in dem Interviewband „ja! Anarchismus. Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert“. In vielen Gesprächen und bei gemeinsamen Veranstaltungen entwickelte sich eine tiefe Freundschaft.

Ich bin stolz darauf, dass ich Horst dazu motivieren konnte Artikel für die Graswurzelrevolution zu schreiben und sein Standardwerk „Freiheit pur“ zu aktualisieren und um weitere Kapitel zu ergänzen. „Freiheit pur“ heißt jetzt „Anarchie!“. Es ist das wohl beste Buch zum Anarchismus, das im Deutschland des 21. Jahrhunderts bisher erschienen ist. Während „Der kleine Stowasser“ ein Buch ist, mit dem seit Generationen Latein-Schülerinnen und Schüler gequält werden, ist „Der große Stowasser“ ein Werk, das Generationen von Anarchie-Begeisterten hervorbringen wird.

Horst ist gestorben. Aber sein Traum von einer herrschaftslosen Gesellschaft, von einem Leben ohne Chef und Staat, ist lebendig.

Wir sollten alles tun, damit dieser Traum Wirklichkeit wird.

Ich schließe mit einem Zitat des 1934 von den Nazis ermordeten Anarchisten Erich Mühsam: „Wollt ihr denen Gutes tun, die der Tod getroffen, Menschen, lasst die Toten ruhn und erfüllt ihr Hoffen.“

Bernd Drücke, 7.9.2009


Den Stock in der Hand, die Zigarre im Mund, den Enthusiasmus im Leib. Nachruf von Marianne Enckell, CIRA

Horst gehörte zu den „Umtriebigen“, den unermüdlichen Propagandisten des Anarchismus.

In Argentinien aufgewachsen, wo er seine ersten politischen Gehversuche machte, kehrte er zum Studium nach Deutschland zurück, gerade als dort eine neue anarchistische Bewegung im Entstehen war. Mit seinem Bruder Klaus stürzte er sich ins Druck- und Verlagswesen und gründete 1971 ein Dokumen¬tationszentrum, das er bei sich in Wetzlar unterbrachte, als Teil eines Kommuneprojekts. Er knüpfte rasch Kontakte in ganz Europa, veröffentlichte selbstgemachte Broschüren und Zeitschriften und nahm an internationalen Treffen teil. Nach Lausanne kam er zum ersten Mal 1972, um auf dem Kolloquium Gesellschaft und Gegengesell¬schaft über Deutschland zu sprechen, ein letztes Mal vor zwei Jahren, beim Treffen der FICEDL – dem internationalen Zusammenschluss der libertären Forschungs- und Dokumentationszentren –, anlässlich des CIRA-Jubiläums.

Hindernisse waren für ihn auch immer eine Gelegenheit, Veränderungen vorzunehmen. Die Idee zum „Projekt A“, die Ansiedlung einer Reihe von Kollektiven, die einen wirtschaftlich tragfähigen Bereich mit einer politischen Tätigkeit kombinieren, in einer Stadt mittlerer Größe, war seinem eigenen Leben entnommen, er, der im Verlagswesen und als Grafikdesigner arbeitete und gleichzeitig LeserInnen in seinem „AnArchiv“ empfing. Horst engagierte sich auch stark im Leben vor Ort, bei der Unterstützung spanischsprachiger ImmigrantInnen oder in der Wohnungsfrage. Schwierigkeiten und Konflikte blieben nicht aus, doch machte er nicht den Eindruck, als würden sie ihn allzu sehr belasten.

Selbst als die Krankheit ihn zeitweilig zum Rückzug zwang, blieb er stets guten Mutes. Bis hin zu seinem letzten Projekt, Vision und Wirklichkeit in einem: dem kollektiven Ankauf und der Sanierung eines großen Komplexes historischer Häuser in der Nähe von Neustadt, dem Eilhardshof, als Stätte gemeinsamen Lebens und Arbeitens über die Generationsgrenzen hinweg, vom Kleinkind bis zum Greis – ein praktisches Beispiel gegenseitiger Hilfe.

Sein erstes erfolgreiches Buch, Leben ohne Chef und Staat, ist im selben Geist des „Doppelprojekts“ geschrieben: Horst erzählt darin Episoden aus der Geschichte der Anarchisten, aus denen er Lehren für „Einsteiger“ zieht, eine Pädagogik der direkten Aktion und des Ethischen. Eines seiner letzten Bücher, mutig mit Anarchie! (2007) betitelt, stand in Deutschland mehrere Wochen auf der Liste der meistverkauf¬ten Sachbücher und war Gegenstand unermüdlicher Vortrags- und Veranstaltungsreisen.

Eines der letzten Fotos des Bildbandes Ciao Anarchici über das internationale Treffen in Venedig im September 1984 zeigt Horst beim Tanzen, mit einer jungen Frau auf den Schultern, die die schwarze Fahne schwenkt – eine Reminiszenz des berühmten Fotos aus dem Pariser Mai 68.

Marianne Enckell [1], CIRA

(Übersetzung aus dem Französischen: Michael Halfbrodt)
  1. Marianne Enckell (* 1944) ist Autorin, Bibliothekarin und Über¬setzerin. Seit über 40 Jahren betreut sie in Lausanne das CENTRE INTERNATIONAL DE RECHERCHES SUR L’ANARCHISME ([http://www.cira.ch www.cira.ch).