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Siegbert Wolf hat in den von ihm herausgegebenen und im Verlag Edition AV erscheinenden „Ausgewählten Schriften“ Gustav Landauers einen weiteren Band vorgelegt. Es ist der vierte Band der insgesamt auf acht Bände angelegten Edition. Wie bereits in den bisher erschienenen Bänden beginnt auch dieser Band mit einer kenntnisreichen Einleitung des Herausgebers. In ihr beschäftigt sich Wolf eingehend mit den Themenschwerpunkten dieses Bandes: Nation, Krieg und Revolution.  
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Seit 1995 erscheinen im Karin Kramer Verlag die von Wolfgang Eckhardt herausgegebenen „Ausgewählten Schriften“ Michael Bakunins. Die auf 12 Bände angelegte, kommentierte Bakunin-Werkausgabe ist mit Abstand eines der ambitioniertesten libertären Publikationsprojekte der letzten Jahrzehnte. Die erste deutschsprachige Veröffentlichung einer Bakunin-Schrift, „Die Reaction in Deutschland“, datiert aus dem Jahre 1842. Seitdem sind unzählige weitere Schriften Bakunins auch in deutscher Sprache publiziert worden, aber es hat nur wenige ernst zu nehmende Versuche zu einer Werkausgabe seiner Schriften gegeben. Hierzu gehören sicherlich die in den Jahren 1921 bis 1924 veröffentlichtem „Gesammeltem Werke“ in drei Bänden von Max Nettlau, der als einer der besten Bakunin-Kenner seiner Zeit gelten kann. So verdienstvoll jedoch die von Nettlau herausgegebene Bakunin-Werkausgabe für die Begründung einer deutschsprachigen Bakuninforschung gewesen ist, so fragmentarisch blieb über Jahrzehnte das in deutscher Sprache vorliegende Oeuvre Bakunins. Wolfgang Eckhardt schätzt, dass bislang lediglich 45% der Schriften und 20% der Korrespondenz Bakunins ins Deutsche übersetzt wurden. Es ist also eine gewaltige Aufgabe, die sich Eckhardt mit der von ihm betreuten Bakunin-Edition gestellt hat.  
  
In den Jahren unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg hatte Gustav Landauer gegenüber dem zunehmenden Nationalismus und Militarismus in Deutschland eine ausgesprochen kritische Position bezogen. So schrieb er 1908:
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Inzwischen ist der sechste Band der „Ausgewählten Schriften“ Bakunins erschienen, und das Publikationsvorhaben hat damit sozusagen seine Halbzeit erreicht. Ebenso wie Band 5 widmet sich der in zwei Teilbänden erschienene sechste Band dem Konflikt zwischen Karl Marx und Michail Bakunin.  
  
''„Die (…) Unbeliebtheit des Deutschen im Ausland kommt daher: wir sind ein unberechenbares Volk, weil wir folgsam sind, weil wir nicht Volk, sondern Gefolge sind. Die Ausländer wissen, dass ein paar Millionen Deutsche bereit wären, sofort über sie herzufallen, wenn es einmal ein paar Regierenden belieben sollte, es zu befehlen. […] Unsere Unfreiheit wirkt nach außen als Ungeschliffenheit, als Rohheit; wir machen den Eindruck eines tölpligen Riesenbengels, der nicht weiß, was er will, dieses Nichtwollen aber mit einer schweren Keule verteidigt und so als gewaltsam und angriffslustig erscheint.
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Bakunin und Marx waren erstmals 1844 in Paris zusammengetroffen, und bis in die 1860er Jahre herrschte zwischen ihnen ein distanziertes, jedoch nicht feindliches Verhältnis. Doch seit dem Eintreten Bakunins 1868 in die Genfer Sektion der Internationale Arbeiterassoziation (1864-1877) hatte sich ihre Beziehung zunehmend verschlechtert. In seiner ausführlichen 670 Seiten umfassenden Einleitung beschreibt Eckhardt detailliert den Verlauf und den politischen Kontext des Konfliktes zwischen Marx und Bakunin, der schließlich zum Niedergang der Ersten Internationale und letztlich zur Entstehung des „Marxismus“ auf der einen Seite und des „Bakunismus“ und in seiner Nachfolge des sozialrevolutionären Anarchismus auf der anderen Seite geführt hat.  
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Der Dokumententeil enthält zahlreiche erstmals ins Deutsche übersetzte oder unbekannte Materialien, unter anderem zu den internationalen Diskussionen über die Resolutionen der Londoner Konferenz von 1871 und über die Revision der Statuten der Internationale. Den Schwerpunkt der Quellensammlung bildet die Dokumentation über den 1872 abgehaltenen Haager Kongress der Internationale mit Materialien zu Hintergrund, Ablauf und den internationalen Reaktionen des Kongresses. Dabei berücksichtigt die Dokumentation erstmals alle relevanten Archivalien, die noch bis zum Ende der Sowjetunion unzugänglich in Moskauer Parteiarchiven lagerten.
Ebenso kritisch stand Landauer dem sog. „nationalen Selbstbestimmungsrecht der Völker“ gegenüber, das für ihn „nichts mit Sozialismus und Anarchismus“ zu tun hatte. Stattdessen entwickelte er ein Nationenkonzept jenseits von Nationalstaatlichkeit, Nationalismus und Ethnizität:
 
  
''„Was man Nationen […] nennt, beruht wohl von Hause aus am wenigsten auf Unterschieden in der Blutmischung, dem körperlichen Bau und den physiologischen Funktionen. Viel beträchtlicher ist die gemeinsame Sprach-, Sitten- und Geistesgemeinschaft. Völkervermischungen und Abstammungen kommen auch dazu; aber wie man nicht recht sagen kann, ob die Völker voneinander nehmen, weil sie verwandt sind, oder ob sie verwandt werden, weil sie lange voneinander genommen haben, so lässt sich meist nicht entscheiden, ob die nationale Zugehörigkeit von der leiblich seelischen Ähnlichkeit kommt oder sie schafft. Das Wesentliche ist: Diese Ähnlichkeit, die Gleichheit im Ungleichen, diese verbindende Eigenschaft zwischen den Volksgenossen, dieser Gemeingeist, ist eine Tatsächlichkeit. Überseht sie nicht, ihr Freien und Sozialisten; der Sozialismus, Freiheit und Gerechtigkeit, ist nur zu schaffen zwischen den von alters Zusammengehörigen; und nicht abstrakt wird ein Sozialismus hergestellt werden, sondern in konkreter Mannigfaltigkeit je nach den Völkerharmonien. Und auch die Völkerverbrüderung ist nicht etwas, was auf einmal und verschwommen für die ganze Menschheit kommt, sondern was in der Bestimmung, die sich aus den Tatsachen im Raum und dem Geschehen der Zeit, aus Geographie und Geschichte ergibt, bunt und vielfältig zu schaffen ist.“''
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Positiv hervorzuheben ist, dass die von Eckhardt betreute Edition bemüht ist, die konzeptionelle Einseitigkeit früherer Darstellungen zu vermeiden. Statt der Fixierung auf eine der beiden Konfliktparteien wird mit dem Abdruck der Beiträge und Stellungnahmen beider Konfliktparteien der Versuch einer Rekonstruktion der ursprünglichen Debatte unternommen. Dadurch wird ein neuer Forschungsstand erreicht, der Kontext, Hintergründe und Auswirkungen des Konflikts zwischen Marx und Bakunin nun im Detail erkennen lässt. Es zeigt sich deutlich, dass es bei diesem Konflikt nicht nur um die durch persönliche Ressentiments geprägte Rivalität zweier Konkurrenten in der jungen sich international organisierenden Arbeiterbewegung ging. Entscheidender ist, dass sich im Verlauf dieser Auseinandersetzung innerhalb der Ersten Internationale die Gegensätze zwischen parteipolitisch-parlamentarischen Strategien zur Eroberung der politischen Macht und sozialrevolutionären Konzeptionen im Sozialismus herauskristallisierten. Die Internationale fungierte dabei als Katalysator für die Ideenentwicklung der verschiedenen Strömungen des Sozialismus. Der Konflikt zwischen Marx und Bakunin war einer von vielen ideologischen Disputen, die in der Ersten Internationale ausgefochten wurde. Aber es war der Konflikt, der am nachhaltigsten und bis in die Gegenwart hinein die politische Ideengeschichte des Sozialismus geprägt hat. Das macht die Edition der „Ausgewählten Schriften“ Bakunins zu einer wertvollen Quellensammlung, die nicht nur für die Bakunin- und Anarchismusforschung von Interesse ist.
 
 
Unter Nation verstand Landauer vor allem Gesellschaft und Kultur, jenseits eines staatlichen Nationalismus. Staat und Nation blieben für ihn unverwechselbare Gegensätze:
 
 
 
''„Nation ist ja eben eine solche Gleichheit in den Individuen, ein Gefühl und eine Wirklichkeit, die sich in freiem Geiste zur Einheit und zum Bunde bringt. Jedwede Nation ist an-archisch, d.h. zwang-los; die Vorstellungen Nation und Zwang sind völlig unvereinbar. Nation ist das Beste, weil das einzige im öffentlichen Leben wirkliche Beispiel für das, was ich Geist nenne.“''
 
 
 
In Landauers Konzept der Nation haben Staatlichkeit und Nationalismus keinen Platz. Ihm ging es um die strikte Trennung der Nation vom Staat. Denn der Staat war für Landauer nichts anderes als Zwangsstruktur und damit das Gegenteil von Geist, Freiheit, Bund und Vielfalt. Der Staat und seine Grenzen sind „elende Zufallsprodukte der erbärmlichsten Erscheinungsformen so genannter Geschichte.“ Während Landauer Staat mit Gewalt, Künstlichkeit und Homogenität assoziierte, basierte für ihn ‚Volk’ bzw. Gesellschaft auf Freiwilligkeit, Gegenseitigkeit und Vielfalt.
 
 
 
Aufgrund seiner umfassenden Analyse der wilhelminischen Gesellschaft war Landauer einer der fundiertesten und zugleich schärfsten Kritiker des staatlichen Gewaltmonopols und Militarismus. Im Rahmen des von ihm 1908 in Deutschland und der Schweiz gegründeten „Sozialistischen Bundes“, mit dem eine kommunitäre Gesellschaft freier Individuen eingeübt werden sollte, hielt Landauer wiederholt öffentliche Versammlungen ab, auf denen er vor dem kommenden Krieg warnte und zum antimilitaristischen Widerstand aufrief. Sein in der Tradition der Sozialethik Leo N. Tolstois und des libertären Humanismus von Étienne de La Boétie stehender Antimilitarismus zielten auf die dauerhafte Abschaffung aller Armeen sowie im Kriegsfall auf Boykott, Gehorsamsverweigerung, Desertation und Massenstreik bis hin zum Generalstreik.
 
 
 
Für Landauer besaßen jedoch auch pädagogische und Bildungsfragen sowie praktische Ansätze zu einer libertären Erziehung einen hohen Stellenwert. So förderte er innerhalb des „Sozialistischen Bundes“ die Berliner Gruppe „Jugend“ und plante die Gründung einer genossenschaftlichen „Freie Schule“. Der Ende des 19. Jahrhunderts erwachten Jugendbewegung mit ihrer Antihaltung gegen die Starrheit der Wilhelminischen Gesellschaft und ihren ‚Bürger- und Verbindungsmief’ fühlte er sich eng verbunden. Seine besonderen Sympathien gehörten dabei der freistudentischen Jugendbewegung. Umgekehrt übten seine anarchistische Kulturkritik und Antipolitik eine starke Anziehungskraft auf Teile der deutschen Jugendbewegung aus, die seine Schriften diskutierte. Auch lässt sich sein Einfluss auf die genossenschaftliche Siedlungsbewegung in Palästina sowie auf viele Kulturzionisten erkennen.
 
 
 
Die Novemberrevolution 1918 wurde von Gustav Landauer begrüßt. Trotz begründeter Zweifel an den Erfolgsaussichten dieser Revolution engagierte er sich im Rahmen der ersten bayrischen Räterepublik für einen gesellschaftlichen Neuaufbau von unten nach oben, in Richtung Föderation und Dezentralisation, und warb für ein Rätesystem. Dabei zielte Landauer auf einen Bund autonomer, föderalistischer Republiken, basierend auf dezentralen Rätestrukturen. Anfang April 1919 übernahm Landauer das Amt eines Kultusministers und konnte hierbei auf ein detailliertes Konzept einer libertären Restrukturierung der Gesellschaft zurückgreifen. Die Schwerpunkte seiner Tätigkeit in der kurzlebigen Räterepublik betrafen das Schul- und Hochschulwesen sowie das Theater.
 
 
 
Der gegenrevolutionäre, rechtssozialdemokratische Putsch der „Republikanischen Schutztruppe“ am 13. April 1919 bedeutete das jähe Ende der ersten bayerischen Räterepublik. Während seine Gesinnungsgenossen und Mitstreiter Erich Mühsam und Ernst Toller durch rasches Untertauchen einer Verhaftung entgingen, fiel Gustav Landauer am 1. Mai 1919 bei der Einnahme Münchens durch Reichswehr- und Freikorpsverbände infolge einer Denunziation den gegenrevolutionären Regierungssoldaten in die Hände. Als er verhaftet wurde „schrieen die Leute Hurra, klatschten in die Hände und schwenkten Taschentücher. Die Menge schrie ‚Macht ihn hin, den Hund, den Juden, den Lump’.“ Tatsächlich blieben ihm nur noch wenige Stunden zu leben. Am Morgen des 2. Mai wurde Landauer ins Gefängnis Stadelheim verschleppt und dort von der Soldateska zu Tode misshandelt. Seine Mörder wurden für ihre Tat niemals zur Rechenschaft gezogen.
 
 
 
Der vierte Band der „Ausgewählten Schriften“ Landauers ist besonders spannend, weil er Leben und Wirken von Gustav auf dem Prüfstand der durch Krieg und Revolution politisch zugespitzten Verhältnisse seiner Zeit dokumentiert. Herausgeber und Verlag haben auch diesem Band eine sorgfältige Edition angedeihen lassen. Mit großer Erwartungsfreude sehe ich dem Erscheinen der nächsten Bände entgegen, die sich den folgenden Themenschwerpunkten widmen werden:
 
 
 
* Band 5: Philosophie und Judentum (2012)
 
* Band 6: Literatur (2013)
 
* Band 7: Skepsis und Mystik. Versuche im Anschluss an Mauthners Sprachkritik (2011)
 
* Band 8: Roman, Novellen, Erzählungen (2013)
 
 
 
Nach Auskunft des Verlages sind von den bisher erschienenen ersten vier Bänden von Landauers „Ausgewählten Schriften“ noch alle Titel lieferbar (und dabei liegt die Betonung auf dem „'''noch'''“!).
 
  
 
Jochen Schmück,<br>
 
Jochen Schmück,<br>
Potsdam, 2. Juni 2011
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Swarzewo/Polen im August 2011
 
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Version vom 12. September 2011, 13:20 Uhr

Die DadA-Buchempfehlung

Buchcover: 978-3868410464 Landauer Ausgewaehlte Schriften Bd 4.jpg
Autor/en: Michael Bakunin
Titel: Konflikt mit Marx. Teil 2: Texte und Briefe ab 1871
Editoriales: (= Michael Bakunin: Ausgewählte Schriften - Band 6). Hrsg., kommentiert, mit einer Einleitung und einem Personen- und Periodika-Register versehen von Wolfgang Eckhardt.
Verlag: Karin Kramer Verlag
Erscheinungsort: Berlin
Erscheinungsjahr: 2011
Umfang, Aufmachung: Originalausgabe. Broschur. Zwei Halbbände, 1240 Seiten.
ISBN: (ISBN-13:) 978-3879563425
Preis: 78,00 EUR
Direktkauf: bei aLibro, der Autorenbuchhandlung des DadAWeb

Besprechung

Seit 1995 erscheinen im Karin Kramer Verlag die von Wolfgang Eckhardt herausgegebenen „Ausgewählten Schriften“ Michael Bakunins. Die auf 12 Bände angelegte, kommentierte Bakunin-Werkausgabe ist mit Abstand eines der ambitioniertesten libertären Publikationsprojekte der letzten Jahrzehnte. Die erste deutschsprachige Veröffentlichung einer Bakunin-Schrift, „Die Reaction in Deutschland“, datiert aus dem Jahre 1842. Seitdem sind unzählige weitere Schriften Bakunins auch in deutscher Sprache publiziert worden, aber es hat nur wenige ernst zu nehmende Versuche zu einer Werkausgabe seiner Schriften gegeben. Hierzu gehören sicherlich die in den Jahren 1921 bis 1924 veröffentlichtem „Gesammeltem Werke“ in drei Bänden von Max Nettlau, der als einer der besten Bakunin-Kenner seiner Zeit gelten kann. So verdienstvoll jedoch die von Nettlau herausgegebene Bakunin-Werkausgabe für die Begründung einer deutschsprachigen Bakuninforschung gewesen ist, so fragmentarisch blieb über Jahrzehnte das in deutscher Sprache vorliegende Oeuvre Bakunins. Wolfgang Eckhardt schätzt, dass bislang lediglich 45% der Schriften und 20% der Korrespondenz Bakunins ins Deutsche übersetzt wurden. Es ist also eine gewaltige Aufgabe, die sich Eckhardt mit der von ihm betreuten Bakunin-Edition gestellt hat.

Inzwischen ist der sechste Band der „Ausgewählten Schriften“ Bakunins erschienen, und das Publikationsvorhaben hat damit sozusagen seine Halbzeit erreicht. Ebenso wie Band 5 widmet sich der in zwei Teilbänden erschienene sechste Band dem Konflikt zwischen Karl Marx und Michail Bakunin.

Bakunin und Marx waren erstmals 1844 in Paris zusammengetroffen, und bis in die 1860er Jahre herrschte zwischen ihnen ein distanziertes, jedoch nicht feindliches Verhältnis. Doch seit dem Eintreten Bakunins 1868 in die Genfer Sektion der Internationale Arbeiterassoziation (1864-1877) hatte sich ihre Beziehung zunehmend verschlechtert. In seiner ausführlichen 670 Seiten umfassenden Einleitung beschreibt Eckhardt detailliert den Verlauf und den politischen Kontext des Konfliktes zwischen Marx und Bakunin, der schließlich zum Niedergang der Ersten Internationale und letztlich zur Entstehung des „Marxismus“ auf der einen Seite und des „Bakunismus“ und in seiner Nachfolge des sozialrevolutionären Anarchismus auf der anderen Seite geführt hat. Der Dokumententeil enthält zahlreiche erstmals ins Deutsche übersetzte oder unbekannte Materialien, unter anderem zu den internationalen Diskussionen über die Resolutionen der Londoner Konferenz von 1871 und über die Revision der Statuten der Internationale. Den Schwerpunkt der Quellensammlung bildet die Dokumentation über den 1872 abgehaltenen Haager Kongress der Internationale mit Materialien zu Hintergrund, Ablauf und den internationalen Reaktionen des Kongresses. Dabei berücksichtigt die Dokumentation erstmals alle relevanten Archivalien, die noch bis zum Ende der Sowjetunion unzugänglich in Moskauer Parteiarchiven lagerten.

Positiv hervorzuheben ist, dass die von Eckhardt betreute Edition bemüht ist, die konzeptionelle Einseitigkeit früherer Darstellungen zu vermeiden. Statt der Fixierung auf eine der beiden Konfliktparteien wird mit dem Abdruck der Beiträge und Stellungnahmen beider Konfliktparteien der Versuch einer Rekonstruktion der ursprünglichen Debatte unternommen. Dadurch wird ein neuer Forschungsstand erreicht, der Kontext, Hintergründe und Auswirkungen des Konflikts zwischen Marx und Bakunin nun im Detail erkennen lässt. Es zeigt sich deutlich, dass es bei diesem Konflikt nicht nur um die durch persönliche Ressentiments geprägte Rivalität zweier Konkurrenten in der jungen sich international organisierenden Arbeiterbewegung ging. Entscheidender ist, dass sich im Verlauf dieser Auseinandersetzung innerhalb der Ersten Internationale die Gegensätze zwischen parteipolitisch-parlamentarischen Strategien zur Eroberung der politischen Macht und sozialrevolutionären Konzeptionen im Sozialismus herauskristallisierten. Die Internationale fungierte dabei als Katalysator für die Ideenentwicklung der verschiedenen Strömungen des Sozialismus. Der Konflikt zwischen Marx und Bakunin war einer von vielen ideologischen Disputen, die in der Ersten Internationale ausgefochten wurde. Aber es war der Konflikt, der am nachhaltigsten und bis in die Gegenwart hinein die politische Ideengeschichte des Sozialismus geprägt hat. Das macht die Edition der „Ausgewählten Schriften“ Bakunins zu einer wertvollen Quellensammlung, die nicht nur für die Bakunin- und Anarchismusforschung von Interesse ist.

Jochen Schmück,
Swarzewo/Polen im August 2011

INHALT

Wolfgang Eckhardt: Einleitung

I. Konflikt um die Resolutionen der Londoner Konferenz und das Zirkular von Sonvillier

1. Resolution IX. »Politische Wirksamkeit der Arbeiterklasse« und XVI. »Allianz der sozialistischen Demokratie« der Londoner Konferenz (zweite Septemberhälfte - Oktober 1871)

2. André Léo: Der Geist der Internationale (9. November 1871)

3. James Guillaume: Zirkular von Sonvillier (12. November 1871)

4. Resolution des belgischen Föderalkongresses in Brüssel über die Binnenorganisation der Internationale und die Ausarbeitung eines Statutenprojekts (25. Dezember 1871)

5. Michael Bakunin: An die Redakteure der ›Révolution Sociale‹ (Teil 1) (22. Dezember 1871 - 22. Januar 1872)

6. Friedrich Engels: Der Kongreß von Sonvilliers und die Internationale (10. Januar 1872)

7. Michael Bakunin: An die Genossen der Föderation internationaler Sektionen des Jura (Auszug) (15. Februar - 11. März 1872)

8. Michael Bakunin an Anselmo Lorenzo (Endfassung und Entwurfsfragment), 6.-15. Mai 1872


II. Diskussion um das belgische Statutenprojekt

1. Statutenprojekt des belgischen Föderalrats und Diskussion hierüber auf dem belgischen Föderalkongreß in Brüssel (19.-20. Mai 1872)

2. Resolution IV. »gegen die Abschaffung des Generalrats« des Romanischen Föderalkongresses in Vevey (2.-3. Juni 1872)

3. Francisco Mora: Das belgische Statutenprojekt (Teil 1) (8. Juni 1872)

4. Michael Bakunin?: Hinsichtlich der Frage ... (Artikel in der ›Federacion‹) (30. Juni 1872)

5. Die fortschreitende Organisation der Internationale (Teil 1) (Artikel in der ›Liberté‹) (14. Juli 1872)

6. Resolution des belgischen Föderalkongresses in Brüssel über das Statutenprojekt (14. Juli 1872)


III. Bakunin und der Haager Kongreß. Materialien, Abstimmungen und Reaktionen

a. Bakunins Kapital-Übersetzung

1. Michael Bakunin an Nikolaj Ogarev, 16. Dezember 1869

2. Büro der Auslandsagenten der russischen Revolutionsgesellschaft ›Narodnaja Rasprava‹ [d.i. Sergej Nec(aev] an Nikolaj Ljubavin, 25. (13.) Februar 1870

3. Nikolaj Ljubavin an Karl Marx, 20. (8.) August 1872

b. Die Geheimgesellschaft Allianz

4. Michael Bakunin: Programm und Ziel der revolutionären Organisation der internationalen Brüder (Ende September / Anfang Oktober 1868)

5. Programm und Statuten der ›Alianza‹ (ca. April 1870)

6. Michael Bakunin an Charles Alerini, 3.-6. Mai 1872

7. Bericht der Untersuchungskommission über die Organisation und Tätigkeit der ›Alianza‹ und Diskussion hierüber auf dem spanischen Föderalkongreß in Córdoba (28. Dezember 1872)

c. Diskussion und Abstimmung des Haager Kongresses über den Ausschluß von Bakunin, Guillaume und Schwitzguébel

8. Bericht der Mehrheit und Votum der Minderheit der Allianz-Untersuchungskommission des Haager Kongresses (7. September 1872)

9. Protokoll der Schlußsitzung des Haager Kongresses (Diskussion des Berichts der Allianz-Untersuchungskommission, Erklärung der Minderheit, Abstimmungen über den Ausschluß Bakunins, Guillaumes und Schwitzguébels) (7.-8. September 1872)

d. Reaktionen

10. Resolution II. des Kongresses der Juraföderation in St.Imier über die Mitgliedschaft Bakunins und Guillaumes in der Internationale (15. September 1872)

11. Charles Alerini, Nicolás Alonso Marselau, Rafael Farga Pellicer und Tomás Gonzalez Morago: An die Genossen Redakteure der ›Liberté‹ (17. September 1872)

12. Der Haager Kongreß (Artikel in der ›Rivoluzione sociale‹) (ca. zweite Septemberhälfte 1872)

13. Nikolaj Ogarev, Varfolomej Zajcev, Vladimir Ozerov, Arman Ross, Vladimir Gol’štejn, Zamphirij Ralli, Aleksandr El’snic und Valerian Smirnov: An die Redaktion der ›Liberté‹ (25. September - 4. Oktober 1872)

14. Michael Bakunin: An die Redaktion der ›Liberté‹ (1.-8. Oktober 1872)

15. Michael Bakunin: Schrift gegen Marx (4. November - 11. Dezember 1872)


IV. Konflikt um die Resolutionen des Haager Kongresses

1. Resolution I. »über die Statuten« und II. »über die Verwaltungsverordnungen« des Haager Kongresses (zweite Junihälfte - 6. September 1872)

2. Resolution I. des Kongresses der Juraföderation in St.Imier über den Haager Kongreß (15. September 1872)

3. Resolutionen des »internationalen anti-autoritären Kongresses« in St.Imier. Der ›Pakt für Freundschaft, Solidarität und gegenseitige Verteidigung der freien Föderationen‹ (15.-16. September 1872)

4. Protest der Föderation von Rouen gegen die Beschlüsse des Haager Kongresses (27. Oktober 1872)

5. Der New Yorker Generalrat (gez. Friedrich Adolf Sorge) an das Föderalkomitee der Juraföderation, 8. November 1872

6. Zirkular des Föderalkomitees der Juraföderation (gez. Adhémar Schwitzguébel) (8. Dezember 1872)

7. Die italienische Korrespondenzkommission (gez. Andrea Costa) an das Föderalkomitee der Juraföderation, 19. Dezember 1872

8. Resolution des belgischen Föderalkongresses in Brüssel über den Haager Kongreß und Diskussion über die Abschaffung des Generalrats (25.-26. Dezember 1872)

9. Diskussion und Resolution des spanischen Föderalkongresses in Córdoba über den Haager Kongreß und den ›Pakt für Freundschaft, Solidarität und gegenseitige Verteidigung der freien Föderationen‹ (28. Dezember 1872)

10. Resolution des britischen Föderalkongresses in London über den Haager Kongreß (26. Januar 1873)

11. Der niederländische Föderalrat (gez. Hendrik Gerhard) an den New Yorker Generalrat, 15. Februar 1873

12. Die spanische Föderalkommission (gez. Francisco Tomás) an den New Yorker Generalrat, 22. Februar 1873

13. Resolution IV.-IX. des italienischen Föderalkongresses in Bologna über den Haager Kongreß, den ›Pakt für Freundschaft, Solidarität und gegenseitige Verteidigung der freien Föderationen‹ und die Prinzipien revolutionärer Aktion und Propaganda (15.-17. März 1873)

14. Diskussion und Resolution des belgischen Föderalkongresses in Verviers über die Abschaffung des Generalrats und die Ausarbeitung eines Statutenprojekts (13. April 1873)

15. Paul Dubiau: An die Redaktion der ›Liberté‹ (27. April 1873)


V. Revision der Allgemeinen Statuten der Internationale

1. Statutenprojekt der belgischen Föderation, angenommen auf dem Föderalkongreß in Gohyssart-Jumet (1. Juni 1873)

2. Allgemeine Statuten der Internationalen Arbeiterassoziation, revidiert vom Genfer Kongreß der Föderationen (2.-4. September 1873)


ANHANG

1. Charles Alerini an Friedrich Engels, 29. März 1872

2. Carlo Cafiero an Friedrich Engels, 12./19. Juni 1872

3. Arman Ross an Petr Lavrov, 1. August 1872

- Anmerkungen

- Textnachweise

- Abkürzungen, abgekürzte Quellennachweise, Zeichenerklärung

- Personen- und Periodika-Register



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