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Die DadA-Buchempfehlung

Buchcover: 978-3868410464 Landauer Ausgewaehlte Schriften Bd 4.jpg
Autor/en: Gustav Landauer
Titel: Antipolitik
Editoriales: (= Ausgewählte Schriften - Band 3.2). Hrsg., kommentiert, mit einer Einleitung und einem Personenregister versehen von Siegbert Wolf. Illustriert von Uwe Rausch
Verlag: Verlag Edition AV
Erscheinungsort: Lich/Hessen
Erscheinungsjahr: 2010
Umfang, Aufmachung: Originalausgabe. Broschur. 277 Seiten.
ISBN: (ISBN-13:) 978-3868410365
Preis: 18,00 EUR
Direktkauf: bei aLibro, der Autorenbuchhandlung des DadAWeb

Besprechung

Siegbert Wolf hat in den von ihm herausgegebenen und im Verlag Edition AV erscheinenden „Ausgewählten Schriften“ Gustav Landauers einen weiteren Band vorgelegt. Es ist der vierte Band der insgesamt auf acht Bände angelegten Edition. Wie bereits in den bisher erschienenen Bänden beginnt auch dieser Band mit einer kenntnisreichen Einleitung des Herausgebers. In ihr beschäftigt sich Wolf eingehend mit den Themenschwerpunkten dieses Bandes: Nation, Krieg und Revolution.

In den Jahren unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg hatte Gustav Landauer gegenüber dem zunehmenden Nationalismus und Militarismus in Deutschland eine ausgesprochen kritische Position bezogen. So schrieb er 1908:

„Die (…) Unbeliebtheit des Deutschen im Ausland kommt daher: wir sind ein unberechenbares Volk, weil wir folgsam sind, weil wir nicht Volk, sondern Gefolge sind. Die Ausländer wissen, dass ein paar Millionen Deutsche bereit wären, sofort über sie herzufallen, wenn es einmal ein paar Regierenden belieben sollte, es zu befehlen. […] Unsere Unfreiheit wirkt nach außen als Ungeschliffenheit, als Rohheit; wir machen den Eindruck eines tölpligen Riesenbengels, der nicht weiß, was er will, dieses Nichtwollen aber mit einer schweren Keule verteidigt und so als gewaltsam und angriffslustig erscheint.“ Ebenso kritisch stand Landauer dem sog. „nationalen Selbstbestimmungsrecht der Völker“ gegenüber, das für ihn „nichts mit Sozialismus und Anarchismus“ zu tun hatte. Stattdessen entwickelte er ein Nationenkonzept jenseits von Nationalstaatlichkeit, Nationalismus und Ethnizität:

„Was man Nationen […] nennt, beruht wohl von Hause aus am wenigsten auf Unterschieden in der Blutmischung, dem körperlichen Bau und den physiologischen Funktionen. Viel beträchtlicher ist die gemeinsame Sprach-, Sitten- und Geistesgemeinschaft. Völkervermischungen und Abstammungen kommen auch dazu; aber wie man nicht recht sagen kann, ob die Völker voneinander nehmen, weil sie verwandt sind, oder ob sie verwandt werden, weil sie lange voneinander genommen haben, so lässt sich meist nicht entscheiden, ob die nationale Zugehörigkeit von der leiblich seelischen Ähnlichkeit kommt oder sie schafft. Das Wesentliche ist: Diese Ähnlichkeit, die Gleichheit im Ungleichen, diese verbindende Eigenschaft zwischen den Volksgenossen, dieser Gemeingeist, ist eine Tatsächlichkeit. Überseht sie nicht, ihr Freien und Sozialisten; der Sozialismus, Freiheit und Gerechtigkeit, ist nur zu schaffen zwischen den von alters Zusammengehörigen; und nicht abstrakt wird ein Sozialismus hergestellt werden, sondern in konkreter Mannigfaltigkeit je nach den Völkerharmonien. Und auch die Völkerverbrüderung ist nicht etwas, was auf einmal und verschwommen für die ganze Menschheit kommt, sondern was in der Bestimmung, die sich aus den Tatsachen im Raum und dem Geschehen der Zeit, aus Geographie und Geschichte ergibt, bunt und vielfältig zu schaffen ist.“

Unter Nation verstand Landauer vor allem Gesellschaft und Kultur, jenseits eines staatlichen Nationalismus. Staat und Nation blieben für ihn unverwechselbare Gegensätze:

„Nation ist ja eben eine solche Gleichheit in den Individuen, ein Gefühl und eine Wirklichkeit, die sich in freiem Geiste zur Einheit und zum Bunde bringt. Jedwede Nation ist an-archisch, d.h. zwang-los; die Vorstellungen Nation und Zwang sind völlig unvereinbar. Nation ist das Beste, weil das einzige im öffentlichen Leben wirkliche Beispiel für das, was ich Geist nenne.“

In Landauers Konzept der Nation haben Staatlichkeit und Nationalismus keinen Platz. Ihm ging es um die strikte Trennung der Nation vom Staat. Denn der Staat war für Landauer nichts anderes als Zwangsstruktur und damit das Gegenteil von Geist, Freiheit, Bund und Vielfalt. Der Staat und seine Grenzen sind „elende Zufallsprodukte der erbärmlichsten Erscheinungsformen so genannter Geschichte.“ Während Landauer Staat mit Gewalt, Künstlichkeit und Homogenität assoziierte, basierte für ihn ‚Volk’ bzw. Gesellschaft auf Freiwilligkeit, Gegenseitigkeit und Vielfalt.

Aufgrund seiner umfassenden Analyse der wilhelminischen Gesellschaft war Landauer einer der fundiertesten und zugleich schärfsten Kritiker des staatlichen Gewaltmonopols und Militarismus. Im Rahmen des von ihm 1908 in Deutschland und der Schweiz gegründeten „Sozialistischen Bundes“, mit dem eine kommunitäre Gesellschaft freier Individuen eingeübt werden sollte, hielt Landauer wiederholt öffentliche Versammlungen ab, auf denen er vor dem kommenden Krieg warnte und zum antimilitaristischen Widerstand aufrief. Sein in der Tradition der Sozialethik Leo N. Tolstois und des libertären Humanismus von Étienne de La Boétie stehender Antimilitarismus zielten auf die dauerhafte Abschaffung aller Armeen sowie im Kriegsfall auf Boykott, Gehorsamsverweigerung, Desertation und Massenstreik bis hin zum Generalstreik.

Für Landauer besaßen jedoch auch pädagogische und Bildungsfragen sowie praktische Ansätze zu einer libertären Erziehung einen hohen Stellenwert. So förderte er innerhalb des „Sozialistischen Bundes“ die Berliner Gruppe „Jugend“ und plante die Gründung einer genossenschaftlichen „Freie Schule“. Der Ende des 19. Jahrhunderts erwachten Jugendbewegung mit ihrer Antihaltung gegen die Starrheit der Wilhelminischen Gesellschaft und ihren ‚Bürger- und Verbindungsmief’ fühlte er sich eng verbunden. Seine besonderen Sympathien gehörten dabei der freistudentischen Jugendbewegung. Umgekehrt übten seine anarchistische Kulturkritik und Antipolitik eine starke Anziehungskraft auf Teile der deutschen Jugendbewegung aus, die seine Schriften diskutierte. Auch lässt sich sein Einfluss auf die genossenschaftliche Siedlungsbewegung in Palästina sowie auf viele Kulturzionisten erkennen.

Die Novemberrevolution 1918 wurde von Gustav Landauer begrüßt. Trotz begründeter Zweifel an den Erfolgsaussichten dieser Revolution engagierte er sich im Rahmen der ersten bayrischen Räterepublik für einen gesellschaftlichen Neuaufbau von unten nach oben, in Richtung Föderation und Dezentralisation, und warb für ein Rätesystem. Dabei zielte Landauer auf einen Bund autonomer, föderalistischer Republiken, basierend auf dezentralen Rätestrukturen. Anfang April 1919 übernahm Landauer das Amt eines Kultusministers und konnte hierbei auf ein detailliertes Konzept einer libertären Restrukturierung der Gesellschaft zurückgreifen. Die Schwerpunkte seiner Tätigkeit in der kurzlebigen Räterepublik betrafen das Schul- und Hochschulwesen sowie das Theater.

Der gegenrevolutionäre, rechtssozialdemokratische Putsch der „Republikanischen Schutztruppe“ am 13. April 1919 bedeutete das jähe Ende der ersten bayerischen Räterepublik. Während seine Gesinnungsgenossen und Mitstreiter Erich Mühsam und Ernst Toller durch rasches Untertauchen einer Verhaftung entgingen, fiel Gustav Landauer am 1. Mai 1919 bei der Einnahme Münchens durch Reichswehr- und Freikorpsverbände infolge einer Denunziation den gegenrevolutionären Regierungssoldaten in die Hände. Als er verhaftet wurde „schrieen die Leute Hurra, klatschten in die Hände und schwenkten Taschentücher. Die Menge schrie ‚Macht ihn hin, den Hund, den Juden, den Lump’.“ Tatsächlich blieben ihm nur noch wenige Stunden zu leben. Am Morgen des 2. Mai wurde Landauer ins Gefängnis Stadelheim verschleppt und dort von der Soldateska zu Tode misshandelt. Seine Mörder wurden für ihre Tat niemals zur Rechenschaft gezogen.

Der vierte Band der „Ausgewählten Schriften“ Landauers ist besonders spannend, weil er Leben und Wirken von Gustav auf dem Prüfstand der durch Krieg und Revolution politisch zugespitzten Verhältnisse seiner Zeit dokumentiert. Herausgeber und Verlag haben auch diesem Band eine sorgfältige Edition angedeihen lassen. Mit großer Erwartungsfreude sehe ich dem Erscheinen der nächsten Bände entgegen, die sich den folgenden Themenschwerpunkten widmen werden:

  • Band 5: Philosophie und Judentum (2012)
  • Band 6: Literatur (2013)
  • Band 7: Skepsis und Mystik. Versuche im Anschluss an Mauthners Sprachkritik (2011)
  • Band 8: Roman, Novellen, Erzählungen (2013)

Nach Auskunft des Verlages sind von den bisher erschienenen ersten vier Bänden von Landauers „Ausgewählten Schriften“ noch alle Titel lieferbar (und dabei liegt die Betonung auf dem „noch“!).

Jochen Schmück,
Potsdam, 2. Juni 2011

INHALT

Einleitung von Siegbert Wolf

  • "Der Sozialismus ist die Rückkehr zur […] natürlichen, abwechslungsvollen Verbindung aller Tätigkeiten" - Der "Sozialistische Bund" (II)
  • Anmerkungen

LANDAUER GEGEN GROSS

  • Ein Wörtchen an die Frauen
  • Brief Gustav Landauers an Erich Mühsam vom 12. Juli 1909
  • Tarnowska
  • Vorläufiges vom Neumalthusianismus
  • Von der Ehe
  • Anmerkung Gustav Landauers zu Ludwig Berndl. Einige Bemerkungen über die Psycho-Analyse
  • Brief Gustav Landauers an Erich Mühsam vom 10. Juli 1911
  • Brief Gustav Landauers an Martin Buber vom 01. September 1911
  • Brief Gustav Landauers an Martin Buber vom 18. September 1911
  • Anmerkungen

AM WERK

  • Gruppe "Grund und Boden" (Oranienburg), Sozialistischer Bund. Siedlungsfonds
  • Gruppe "Grund und Boden", Aufruf zur Beteiligung an einer Siedlung
  • Gruppe "Arbeit" des Sozialistischen Bundes, Berlin: An die deutschen Arbeiter!
  • Freier Arbeitertag
  • An die Menschen, zu denen unsere Stimme dringt
  • Organisationsstatut der Siedlungs-Vereinigung "Gemeinschaft "
  • Zur Vorbereitung der ersten Siedlung
  • Anmerkungen

ZEITGENOSSENSCHAFT

  • Eine ungehaltene Rede
  • Offener Brief an Herrn August Bebel
  • Die direkte Gesetzgebung durch das Volk
  • Die Kriegsfeier
  • Erinnerung ans Ausnahmegesetz
  • Zum 18. Januar
  • Vom Duell
  • Der Reichstagsabgeordnete Bebel als Denunziant
  • Herr Bebel, der Denunziant
  • Bismarck. Ein Zwiegespräch
  • Zirkular an die Mitglieder des Reichstages, die Presse und die Staatsanwaltschaft betr. den Prozess Ziethen
  • Der Fall Ziethen. Ein Appell an die öffentliche Meinung
  • In Sachen Ziethen
  • Parlamentskritik
  • Was für Zustände!
  • Verwirklichung heißt die Losung!
  • Die Partei
  • Bilder aus der Krise
  • Die Gefahren des Bergbaues
  • Gespenster
  • Ein Beispiel
  • Die Politische Polizei
  • Wohin?
  • Wer soll anfangen?
  • Die Kläglichkeit des deutschen Reichstags
  • Von der Dummheit und von der Wahl
  • Die Botschaft der "Titanic"
  • Adel
  • August Bebel
  • Zwangslogik und Arbeitszwang
  • Anmerkungen

ANHANG

  • Zeittafel
  • Primär- und Sekundärbibliographie
  • Siglen und Abkürzungen
  • Anarchistische Zeitungen und Zeitschriften
  • Namenregister



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