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Witkop, Milly: Unterschied zwischen den Versionen

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Milly Witkop (ursprüngl. Vitkopskie), geb.: 01.03.1877 Slotopol/Ukraine; gest.: 23.11.1955 Peekskill (New York), Anarchistin, Feministin
 
Milly Witkop (ursprüngl. Vitkopskie), geb.: 01.03.1877 Slotopol/Ukraine; gest.: 23.11.1955 Peekskill (New York), Anarchistin, Feministin
  
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Version vom 17. Mai 2007, 09:19 Uhr

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Milly Witkop

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Lexikon der Anarchie: Personen


Milly Witkop (ursprüngl. Vitkopskie), geb.: 01.03.1877 Slotopol/Ukraine; gest.: 23.11.1955 Peekskill (New York), Anarchistin, Feministin










Vorbemerkung

Milly Witkop zählt zu den bedeutendsten Frauen innerhalb der jüdischen und anarchistischen ArbeiterInnenbewegung am Ausgang des 19. und im 20. Jahrhundert. Als Organisatorin, Rednerin, Autorin, Mitherausgeberin anarchistischer Zeitungen und vor allem Mitbegründerin und treibende Kraft des „Syndikalistischen Frauenbundes“ im Berlin der 1920er Jahre galt ihr Engagement einer Welt ohne Herrschaft, Hierarchien, Patriarchat, Rassismus und Antisemitismus.


Äußere Daten: Leben und Werk

Geboren und aufgewachsen als ukrainisch-russische Jüdin im Schtetl von Slotopol war Milly Witkop die älteste von vier Schwestern: Polly (1879-1967), Fanny (1884-1968) und Rachel genannt „Rose“ (1890-1932). Ihr Vater übte den Beruf eines Flickschneiders aus. Um die sechsköpfige Familie ernähren zu können, musste sich Millys Mutter am Broterwerb beteiligen. In der Regel betätigten sich die Frauen damals als Kleinhändlerinnen auf den lokalen Märkten. Das jüdische Gesetz mit seinen 613 Regeln bestimmte das Alltagsleben wie auch die Festtage. Zum gesellschaftlichen Ereignis gehörte der Markt, das wirtschaftliche Zentrum. Dort begegneten sich Juden und Nichtjuden. Milly Witkops Eltern waren fromme Juden und blieben auch während ihres Exils in Großbritannien strenggläubig. Vor allem Millys Mutter verstand ihren tiefen Glauben als lebenslangen sozialphilanthropischen Auftrag, Menschen aus Nöten zu helfen. Milly und ihre Schwestern besuchten den Mädchen-Cheder, eine jüdische Elementarschule. Die Schulzeit der Mädchen war kürzer als die der Jungen, weniger religiös und mehr auf alltäglichen Nutzen angelegt, damit sie ihren Müttern frühzeitig zur Hand gehen konnten.

In den Jahrzehnten nach dem Attentat auf Zar Alexander II. 1881 und den damit einhergehenden landesweiten antijüdischen Pogromen, vor allem in der Ukraine, verließen Millionen Juden und Jüdinnen – verarmte Handwerker: Schneider, Schuster und Schreiner – Russland. Armut, Hunger, das Verbot, eigenes Land zu besitzen und zu bearbeiten sowie lebensbedrohlicher Judenhass zählten zu den maßgeblichen Beweggründen ihrer Emigration. Die meisten Menschen wanderten in die USA und nach Großbritannien aus. Annähernd die Hälfte der jüdischen EmigrantInnen waren Frauen. Etwa 75 Prozent aller jüdischen ImmigrantInnen Englands wählten London als neuen Wohnsitz und ließen sich im proletarischen Stadtteil East End nieder. Sie arbeiteten dort vor allem in der Bekleidungs- und Schuhindustrie. Das so genannte „sweating system” (Schwitzsystem) zwang diesen Menschen jedoch empörende Arbeits- und Lebensbedingungen auf. Daraus wird verständlich, warum die jüdische ArbeiterInnenbewegung in Großbritannien den Schwerpunkt ihrer sozialen Kämpfe vor dem Ersten Weltkrieg vor allem auf die Abschaffung dieses Menschen verachtenden Sweatingsystems legte. 1894 kehrte Milly Witkop Slotopol nach einvernehmlicher Absprache mit ihrer Familie den Rücken. Eine Verbesserung der Lebensverhältnisse in ihrer Geburtsstadt zeichnete sich nicht ab. Als ‚Quartiermacherin‘ emigrierte sie zunächst allein nach England. Drei Jahre nach ihrer Ankunft in London folgten schließlich ihre Eltern und Schwestern.

In einer völlig anderen Umgebung als im Schtetl nahm Milly Witkop, vor allem aufgrund äußerer Umstände, Abstand von ihrer Religion, der sie als Ritual zuletzt nichts mehr abgewinnen konnte. Nachhaltig beeinflusst vom russischen Anarchisten Peter Kropotkin (1842-1921) fühlte sie sich mit der sozialrevolutionären jüdischen ArbeiterInnenbewegung rasch eng verbunden und engagierte sich als Anarchistin seitdem für eine sozial gerechte und freiheitliche Welt. Sie nahm Kontakt mit der Gruppe um die jiddisch-anarchistische Zeitung „Der Arbeyter Fraynd“ (Der Arbeiter Freund) auf und gehörte fortan zu den MitstreiterInnen dieses libertären Kreises. Bereits bevor sie ihren Lebensgefährten, den in Mainz geborenen, nichtjüdischen Anarchosyndikalisten Rudolf Rocker (1873-1958) kennen lernte, war sie politisch aktiv und kämpfte für eine herrschaftsfreie Gesellschaft.

1895 begegneten sich Milly Witkop und Rudolf Rocker, der sich Anfang des Jahres in London niedergelassen hatte, erstmals. Annähernd sechs Jahrzehnte lang verband sie eine innige Liebes- und Lebensgemeinschaft. Gleichberechtigt stritten sie gemeinsam für eine soziale Revolution und die Anarchie. Unermüdlich nahm Milly Witkop Anteil am sozialen Leben innerhalb der jüdischen ArbeiterInnenbewegung im East End. Tatkräftig beteiligte sie sich an den gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen der jüdischen ArbeiterInnen in Großbritannien vor dem Ersten Weltkrieg sowie an den machtvollen internationalen Demonstrationen und Streiks im London jener Jahre.

Seit Oktober 1898 gaben Milly Witkop und Rudolf Rocker, der sich als Agitator, Redner und Organisator rasch hohes Ansehen innerhalb der jüdischen wie nichtjüdischen ArbeiterInnenbewegung erwarb, die jiddisch-anarchistische Wochenzeitung „Der Arbeyter Fraynd“ heraus. Trotz tätiger Solidarität vieler AnarchistInnen konnte das Blatt erst 1903 auf sichere Füße gestellt werden: Seitdem erschien es regelmäßig als Organ der jiddisch sprechenden anarchistischen Gruppen in Großbritannien und Paris, bis es 1916 wegen seiner Antikriegspropaganda zum Verbot kam. Gehörte Milly Witkop der Redaktion des „Arbeyter Fraynd“ formell nicht unmittelbar an, so nahm sie gleichwohl einen bedeutenden Anteil am Erscheinungsbild dieser Zeitung und kann zu den engsten MitarbeiterInnen gezählt werden.

Neben dem „Arbeyter Fraynd“ erschien unter der Herausgeberschaft Milly Witkops und Rudolf Rockers seit März 1900 eine weitere bedeutende jiddisch-anarchistische Zeitung: „Zsherminal“ (Germinal) (1900-1909). Die „Revue für anarchistische Weltanschauung“, so der Untertitel, vertrat einen philosophisch-kulturellen Anarchismus. Gefördert werden sollte das Interesse an Literatur, Philosophie und Kunst. Neben der Zeitungsarbeit bemühte sich Milly Witkop um die Organisierung jüdischer AnarchistInnen. 1907 gebar sie ihren Sohn Fermin (1907-2004).

1906 eröffnete der Kreis um den „Arbeyter Fraynd“ einen eigenen „Club & Institut Arbeiter Freund“ im East End. Er diente unterschiedlichen linken Gruppierungen, von den russischen Sozialrevolutionären bis zu englischen AnarchistInnen – nicht zuletzt auch der Redaktion des „Arbeyter Fraynd“ – als Anlaufstelle. Kulturveranstaltungen – Konzerte, Lesungen, Theateraufführungen und Festbälle – standen regelmäßig auf dem Programm, auch Sprachkurse für Englisch und Jiddisch. Hinzu kam eine „Sonntagsschule” für Kinder, an der im Geiste des spanischen Anarchisten Francisco Ferrer (1859-1909) und seiner „Escuela Moderna“ Rudolfs älterer Sohn Rudolf Philipp (1893-1949) unterrichtete.

Obwohl die Kriegskatastrophe im Sommer 1914 von vielen AnarchistInnen vorausgesehen wurde, überraschte die nationalistische Kriegseuphorie, besonders seitens der ArbeiterInnenschaft. Trotz breiter Antikriegshaltung kam es in dieser Frage zu einer tiefen Spaltung des anarchistischen Lagers. Peter Kropotkin stellte sich offen auf die Seite der Alliierten und wünschte die militärische Niederlage Deutschlands herbei. Wegen dieser Haltung geriet er mit Milly Witkop und der Gruppe „Arbeyter Fraynd“ in eine heftige Kontroverse. Auf der Grundlage des anarchistischen Antimilitarismus opponierte sie gegen jeglichen Chauvinismus, Imperialismus und den Krieg selbst.

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs bedeutete Arbeitslosigkeit und materielle Not für viele Familien im East End. Um Abhilfe zu schaffen, gründeten AnarchistInnen, allen voran Milly Witkop und Rudolf Rocker, eine öffentliche Küche, die Bedürftigen offen stand und es jedem/r überließ, für eine Mahlzeit soviel zu zahlen, wie er/sie konnte. Als schließlich deutsche und österreichische Zivilisten als ‚feindliche Ausländer’ interniert wurden, verhaftete man im Dezember 1914 auch Rudolf Rocker, der erst 1918 wieder freikommen sollte.

Milly Witkop gehörte während dieser Jahre im Londoner East End zu den HauptaktivistInnen gegen den Ersten Weltkrieg. Dies führte 1916 schließlich zu ihrer Verhaftung und zu zweieinhalbjährigem Freiheitsentzug. Erst im Herbst 1918 konnte Milly Witkop mit Sohn Fermin aus England abreisen. In Amsterdam, wo man ihnen Asyl gewährte, trafen sie Rudolf Rocker wieder in Freiheit.

Die beiden russischen Revolutionen im Februar und Oktober 1917 wurden von Milly Witkop und Rudolf Rocker enthusiastisch begrüßt. Ein Großteil russisch-jüdischer AnarchistInnen verließ Großbritannien, um am revolutionären Aufbau Russlands teilzunehmen. Auch Peter Kropotkin reiste hochbetagt in Richtung Moskau. Doch sehr schnell erkannten Milly Witkop und Rudolf Rocker Fehler und Unterlassungen der Revolutionäre, insbesondere nachdem sich die Bolschewiki an die Macht geputscht hatten. Was sie schließlich vor allem an den dortigen Ereignissen nach 1917 abstieß, betraf die Staatsfixierung und den Totalitarismus der Bolschewiki.

Nach ihrer Abreise aus England ließ sich Milly Witkop mit ihrer Familie nach einigen Wochen Aufenthalt in Amsterdam Ende 1918 in Berlin nieder und beteiligte sich am Aufbau der anarchosyndikalistischen "Freien Arbeiter Union-Deutschlands“ (FAUD).

Mit der Gründung der FAUD 1919 begann eine Debatte darüber, wie sich Frauen und Mädchen organisieren sollten. Innerhalb der männerdominierten FAUD wurden frauenrechtliche Ansätze zunächst weitgehend übergangen. Schließlich entschieden sich die Frauen für eine autonome Organisierung. Seit 1920 entstanden in Deutschland anarchosyndikalistische Frauenbünde, die sich ausdrücklich parallel zu den gewerkschaftlichen Aktivitäten der Männer assoziierten und sich explizit als Teil der anarchosyndikalistischen Bewegung verstanden. Der ‚Motor‘ dieser Entwicklung war von Beginn an Milly Witkop, die damit ihr Interesse für frauenrechtliche Belange unterstrich. Die Gründung des Frauenbundes Groß-Berlin (1920) verdankt sich vor allem ihrer Initiative. Ziel dieser Vereinigung war es satzungsgemäß, „die Mitglieder mit den Prinzipien des Syndikalismus vertraut zu machen, sie im sozialistischen Fühlen und Denken zu schulen, eine rege Agitation für die syndikalistischen Ideen in der Frauenwelt und unter der Jugend zu betreiben und für die besonderen Angelegenheiten des weiblichen Geschlechts bei dem Neuaufbau der Gesellschaft einzutreten. Im Besonderen sollen studiert werden: die Erziehungs-, Bildungs-, Wirtschafts- und Familienfragen, Körperpflege, Hygiene, Ernährung, Bekleidung und Wohnung.” (In: Der Syndikalist II, 1920, Nr. 18)

Die Besonderheit der syndikalistischen Frauenbünde bestand darin, dass im Unterschied zur Frauenpolitik anderer Zusammenschlüsse der ArbeiterInnenbewegung zum ersten Mal ganz bewusst auch nicht erwerbstätige proletarische Hausfrauen und Mütter angesprochen und organisiert wurden. Der Schwerpunkt lag somit auf dem Reproduktionsbereich, auf der Familie und der Privatsphäre. Die Anarchosyndikalistinnen um Milly Witkop und den „Syndikalistischen Frauenbund“ erkannten, dass die Doppelbelastung für Frauen, nämlich Erwerbs- und Hausarbeit, ihre Lage noch wesentlich verschlechterte. Da die meisten Männer sich nicht oder kaum an Hausarbeit und Kindererziehung beteiligten, fehlte es vielen Frauen häufig an Zeit und Kraft, sich neben diesen Tätigkeiten auch noch gewerkschaftlich einzubringen. Die syndikalistischen Frauenbünde bemühten sich um eine Synthese von Hausfrauenorganisation und Feminismus Ein Kampfmittel bestand in der Durchführung von Warenboykotten, also direkten Aktionen von Frauen in ihrer Rolle als Konsumentinnen. Milly Witkop stellte den KonsumentInnenboykott als Kampfform gleichberechtigt an die Seite betrieblicher Streikmaßnahmen.

Ein Meilenstein in der Geschichte der proletarischen Frauenbewegung war die am 15. Oktober 1921 in Düsseldorf abgehaltene erste Reichskonferenz der syndikalistischen Frauenbünde Deutschlands. Dort wurde die Reichsföderation syndikalistischer Frauenbünde aus der Taufe gehoben, was zur Gründung zahlreicher Frauengruppen in ganz Deutschland führte.

Der seit 1921 als Beilage im „Syndikalist“ erscheinende „Frauen-Bund“ (1921-1930) ließ neben den engagiertesten Anarchosyndikalistinnen wie Milly Witkop und Hertha Barwich auch Emma Goldman sowie sozialistische und kommunistische Frauenrechtlerinnen (z.B. Alexandra Kollontai) zu Wort kommen. Zu den vordringlichsten Aufgaben syndikalistischer Frauenorganisationen zählte Milly Witkop die Mutterschaft, Familie, Kindererziehung, Kleidung, Körperpflege, Ernährung und Wohnung, für die immer auch die Männer mitverantwortlich seien. Sie betrachtete die Befreiung der Frau stets auf der Folie der Geschlechterdisparität. Die staatlich geförderte Ehe sei die „tiefste Ursache der Sklaverei der Frau. [...] Die Frau kann sich befreien nur als Frau. [...] Die geistige Höherentwicklung der Frau ist nicht möglich ohne Befreiung von der Sklaverei des dauernden Gebärens.” (Milly Witkop, Was will der Syndikalistische Frauenbund?) Der aus der Überlastung der Hausfrauen resultierenden geistigen Verkümmerung müsse durch eine Verkürzung der Arbeitszeit im Haushalt mittels Rationalisierung und Technisierung, etwa durch die Einführung elektrischer Haushaltsgeräte, entgegengewirkt werden. Angestrebt wurden hierzu so genannte Einküchenhaushalte und Verbrauchergenossenschaften.

Neben der Verkürzung der Arbeitszeit für Hausfrauen galt die Geburtenregelung als weitere programmatische ‚Säule‘ der syndikalistischen Frauenbünde. Hierbei forderten die Frauen Sexualaufklärung, ungehinderten Zugang zu Verhütungsmitteln, die Abschaffung des Paragraphen 218 sowie Gebärstreiks. Grundsätzlich sollten Frauen über ihre Körper selbst bestimmen. Auch wenn die Frauen des „Syndikalistischen Frauenbundes“ an einer autonomen Organisierung innerhalb der FAUD interessiert waren, ging es ihnen keineswegs um eine Separierung aus Prinzip oder um den Bruch mit den Männern. Die Befreiung aller Menschen war für sie nur geschlechterübergreifend möglich.

Um dem „Syndikalistischen Frauenbund“ eine politische und inhaltliche Plattform zu geben, formulierte Milly Witkop, beauftragt von den Delegierten der ersten Reichskonferenz der syndikalistischen Frauenbünde Deutschlands, unter dem programmatischen Titel „Was will der Syndikalistische Frauenbund?“ die Prinzipienerklärung der anarchosyndikalistischen Frauenbünde. Diese unmittelbar nach der Reichskonferenz entstandene Broschüre gilt als ‚Klassiker’ der anarchistischen bzw. anarchosyndikalistischen Frauenbewegung. Grundsätzlich stellte sich die Autorin darin auf den Boden der anarchosyndikalistischen Bewegung, deren wichtigste Kampfmittel und Ziele sie betonte: direkte Aktion, Ablehnung jeglicher politischen Macht, Antistaatlichkeit, Gegnerschaft zu allen kirchlichen Institutionen sowie zum staatlichen und christlichen Erziehungssystem, für den Aufbau eigener, freier Schulen, Antimilitarismus, gegen Nationalismus und Krieg. Ohne die Befreiung der Frau könne es keine Befreiung der Menschheit geben.

Wiederholt hob Milly Witkop die Bedeutung der Frau als Konsumentin hervor, die mit dem Mittel des Boykotts auf Wirtschaftsentwicklungen effizient Einfluss nehmen könne. Die Frauen sollten, während die Männer ihre Betriebe bestreiken, deren Kampf als Konsumentin mit dem Mittel des Boykotts unterstützen. Wiederum forderte sie die Gleichstellung des Hausfrauenberufs mit anderen beruflichen Tätigkeiten. Grundsätzlich notwendig sei es aber, dass die Frauen im Haushalt von den Männern unterstützt werden. Um Frauen spürbar von der Hausfrauenarbeit zu entlasten, plädierte sie für eine Verringerung der gewerblichen Arbeitszeit und lobte hierbei entsprechende Entwicklungen in den USA, die der von Peter Kropotkin geforderten Technisierung des Haushaltes (Zentralheizungen, Waschmaschinen, elektronische Trockenapparate, Staubsauger, Badegelegenheiten im Hause usw.) weitgehend entsprachen.

Um den „Syndikalistischen Frauenbund“ voranzubringen, müssten, so Milly Witkop, weitere Frauenvereinigungen gegründet werden, als offene Treffpunkte, wo Frauen und ihre Kinder zusammen kommen könnten, um zu diskutieren oder zu lesen. Des Weiteren plädierte sie für gemeinsame Arbeitsstuben, das Einküchenhaus sowie für künstlerische und literarische Betätigung. Ihre Schrift schloss mit einem pathetischen Aufruf: „Wohlan denn, Schwestern, jung oder alt, Mädchen oder Frauen, Hand- oder Kopfarbeiterinnen, kommt zu uns und schließt euch unserem Bund an, damit das große Werk der sozialen Befreiung seiner Vollendung entgegenschreite. Vereinigt euch mit uns, um uns und unseren Kindern eine schönere Zukunft zu erkämpfen, in welcher die Ausbeutung und Beherrschung der breiten Massen durch privilegierte Minoritäten eine Sache der Vergangenheit sein werden. Sage keine von euch, dass sie nicht fähig sei, zu diesem grandiosen Werk etwas beitragen zu können. Jede von euch, aber auch jede, ohne Ausnahme, kann ihr Scherflein beisteuern zum gemeinschaftlichen Ziele. Nur wollen müssen wir. So wollen wir denn, auf dass unsere Kinder uns nicht den Vorwurf ins Antlitz schleudern müssen, dass wir als Sklaven gelebt und sie selber als Sklaven in die Welt gesetzt, damit auch sie mit dem Fluch der Knechtschaft beladen durchs Leben wandern. Zeigen wir ihnen, dass wir das Joch, dass uns auferlegt wurde, nicht freiwillig trugen und uns empörten gegen die Gewalt, die uns angetan wurde, um ihnen die Tore der Freiheit zu öffnen.” (ebd.)

Die im „Syndikalistischen Frauenbund“ vereinigten Frauen organisierten vor allem den Aufbau von Kindergruppen, boten ihrem Nachwuchs Spiel- und Freizeitvergnügen und bemühten sich um die Gründung ‚Freier Schulen’. Ein weiterer Schwerpunkt betraf die Sexualaufklärung, den Kampf gegen den § 218, die Verbreitung empfängnisverhütender Mittel für ArbeiterInnen sowie den Gebärstreik. Hinzu trat die gegenseitige Hilfe bei Krankheitsfällen.

Jedoch beharrten viele Männer innerhalb der FAUD auf ihrem patriarchalen Standpunkt und diffamierten feministische Anliegen ihrer Genossinnen. Zwar erkannten sie durchaus die Gleichstellung der Geschlechter als notwendig an, jedoch waren sie kaum bereit, Frauen aktiv zu unterstützen. Die besondere Bedeutung, die Milly Witkop in diesen antipatriarchalen Auseinandersetzungen zukam, war es, das Kernziel der Anarchie, die Befreiung der Frau und des Mannes, um die frauenspezifische Perspektive, also um zusätzliche Unterdrückungsverhältnisse, wie die gesellschaftliche Arbeitsteilung von Mann und Frau, erweitert zu haben. Sie gehörte zu denjenigen, die die Erkenntnis, wonach das Private eminent politisch ist, in die anarchosyndikalistische Bewegung offensiv hineintrugen.

Milly Witkops Wirkungskreis beschränkte sich in den Berliner Jahren nicht allein auf Vorträge, Zeitungsartikel, Veranstaltungen, sondern sie erkannte, dass ein Engagement innerhalb der anarchosyndikalistischen Bewegung allein nicht ausreichte, um zur Befreiung der Menschen beizutragen. Sie betätigte sich zusätzlich noch in kulturellen, sozial- und gesundheitspolitischen Organisationen und brachte dort ihre libertären Auffassungen ein. So rang sie in den 1920er Jahren ebenso in der sozialistischen Sexualreformbewegung. Unbeirrt von patriarchalen Widerständen auch aus den Reihen der anarchosyndikalistischen ArbeiterInnen widerlegte sie die hartnäckigen Vorurteile über Empfängnisverhütung und Geburtenkontrolle gegen die Behauptung, dies schwäche nur die ArbeiterInnenbewegung und halte sie vom Klassenkampf ab. Im März 1925 nahm Milly Witkop am „6. internationalen Neo-Malthusianischen Kongress” in New York teil. Ihre Forderungen, Abgabe von Verhütungsmitteln, Hilfe bei ungewollter Schwangerschaft, Reduzierung der Kinderzahl, Kinder- und Mutterschutz, Jugendfürsorge, Wohnungsreform, Bekämpfung des Alkoholismus und der Geschlechtskrankheiten, formulierte sie bewusst antieugenisch und antirassistisch, um nicht in die Nähe zu einer letztlich anti-emanzipativen Geschlechter- und Bevölkerungspolitik, wie sie nicht nur in rechtsextremen Kreisen zu finden war, sondern weit in die ArbeiterInnenbewegung hineinreichte, zu geraten. Ihr Kampf um Geburtenkontrolle war immer verbunden mit dem Ziel ökonomischer Selbstbestimmung und sexueller Freiheit aller Frauen.

Darüber hinaus engagierte sich Milly Witkop in der Flüchtlingshilfe. Wie bereits in der Londoner Zeit vor dem Ersten Weltkrieg diente ihre Wohnung als Treffpunkt vieler Exilanten. Sie half in Berlin lebenden ImmigrantInnen, vor allem aus der Sowjetunion, und unterstützte sie nach Kräften. Sie nahm sich des Russischen Hilfsfonds für die politisch Verfolgten in der Sowjetunion an und koordinierte damals die Sammlungen in Deutschland.

Parallel zu ihren syndikalistisch-frauenrechtlichen Aktivitäten bekämpfte Milly Witkop den grassierenden Rassismus und Antisemitismus. Ihre Verbundenheit mit der jüdischen ArbeiterInnenbewegung ließ sie nicht ruhen, judenfeindlichen Äußerungen unzweideutig entgegenzutreten. Die außerordentliche Gefährlichkeit des Antisemitismus sah Milly Witkop darin, dass Judenfeindschaft wesentlich mehr ist als ausschließlich ein Ausdruck wirtschaftlicher Krisenphänomene, sondern sie müsse auch psychologisch beurteilt werden, als ein Ergebnis von Erziehung. Sie erkannte im rassistischen, letztlich eliminatorischen Antisemitismus eine Ideologie, die auf das Bewusstsein der Menschen abzielt, auf deren Gefühle einwirkt, deren Ressentiments prägt und damit menschenverachtenden Gesinnungen wie dem Nationalsozialismus Tür und Tor öffnet. Der sich im 19. Jahrhundert ausbreitende rassistische Antisemitismus, der von einer Nichtassimilierbarkeit und grundsätzlichen Fremdheit aller Juden und Jüdinnen ausging, sowie der 1933 mit den Nationalsozialisten an die Macht gelangte eliminatorische Antisemitismus, alarmierte Milly Witkop und Rudolf Rocker gleichermaßen. Der Schock saß tief, als sie feststellen mussten, dass krude antisemitische Vorbehalte auf ein bestelltes Feld in Europa fielen – vor allem in Deutschland, dem Ursprungsland des ‚Antisemitismus’. Für Milly Witkop existierten keine spezifischen ‚rassischen’ oder nationalen Charakterzüge, die sie als ausschließlich ideologische Konstrukte entlarvte, um Hierarchie und Herrschaft dauerhaft zu zementieren.

Das rasche Erstarken der nationalsozialistischen Bewegung Ende der zwanziger Jahre in Deutschland beunruhigte Milly Witkop zutiefst. Zugleich registrierte sie, dass die viele ArbeiterInnen trotz ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit gegenüber dem Nationalsozialismus eher indifferent und ineffektiv reagierten. Sie sah voraus, dass die deutsche ArbeiterInnenbewegung eine mögliche Machtübernahme der NSDAP nicht verhindern würde und dass ihr erneut nur der Weg ins Exil offen blieb. Und in der Tat: Unmittelbar nach dem Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. zum 28. Februar 1933 mussten Milly Witkop und Rudolf Rocker aus Berlin flüchten. Dadurch entgingen Milly Witkop und Rudolf Rocker dem Schicksal ihres gemeinsamen Freundes Erich Mühsam. Exilstationen waren die Schweiz, Südfrankreich, Paris und London, schließlich im Sommer 1933 die USA. Europa sollten beide sie nicht mehr wiedersehen. Neben Vorträgen, starteten sie während des Spanischen Bürgerkriegs von 1936 bis 1939 eine Öffentlichkeitskampagne zur Aufklärung der amerikanischen Bevölkerung über die Ereignisse im revolutionären Spanien. Im Herbst 1937 zogen Milly Witkop und Rudolf Rocker aus New York in die Mohegan-Kommune am Ufer des Lake Mohegan in Crompond.

Der von den Deutschen begonnene Zweite Weltkrieg, in dessen Zentrum die Ermordung des europäischen Judentums und der ‚Traum‘ von der deutschen Weltmacht stand, führte Milly Witkop zu der Erkenntnis, dass jetzt ein Kapitel im Geschichtsbuch der Menschheit aufgeschlagen worden war, dem mit den bislang bekannten moralischen Maßstäben eines kategorischen Pazifismus und einer grundsätzlichen Antikriegshaltung nicht länger beizukommen war. Milly Witkop und Rudolf Rocker nahmen nach 1939 eine Pro-Alliierten-Haltung ein und stellten sich auf die Seite des bewaffneten Antifaschismus, zu dem damals ebenfalls George Orwell, Albert Camus, Bertolt Brecht, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und Hannah Arendt, sogar Thomas Mann und Albert Einstein gehörten.

Mit dem Nationalsozialismus hatte ein Regime die Staatsmacht übernommen hatte, dem es um eine radikale Revision aller Werte seit der europäischen Aufklärung und der Französischen Revolution von 1789 ging. Was die Nazis mit ihrem antisemitischen Weltbild erreichen wollten, betraf letztendlich den Kampf gegen Freiheit und Individualität – Werte, die für die anarchistische Bewegung von immenser Bedeutung waren (und sind). Die Nazis planten alles zu zerstören, was sich Menschen in Europa und Nordamerika in den letzten 200 Jahren an Autonomie und Selbstbestimmung erkämpft hatten. Die Singularität der Shoa in den NS-Vernichtungslagern stand konträr zu dem, was AnarchistInnen anstreben. Im nationalsozialistischen Deutschland konnten beide nichts anderes als Barbarei entdecken, die sich im Falle eines deutschen Sieges über die ganze Welt verbreiten würde. Im Gegensatz zu diesem, sich in das Schicksal des europäischen Judentums einfühlenden Urteil ließen viele AnarchistInnen während des Zweiten Weltkriegs jegliche, in konkretes politisches Handeln mündende Empathie mit den jüdischen Verfolgten des Nationalsozialismus vermissen. Sogar angesichts der Shoa blieben sie auf ihren tradierten Pazifismus und Antimilitarismus fixiert, was entsetzliche Folgen für die millionenfachen NS-Opfer zeitigte. Doch dies, schrieb Rudolf Rocker 1941, sei objektiv eine Haltung auf der Seite der NazitäterInnen, und damit eine, wenn auch nicht bewusste und gewollte Unterstützung für das, was die Nationalsozialisten neue Ordnung nannten – und dazu gehörte auch die Vernichtung aller Jüdinnen und Juden, ob Männer, Frauen oder Kinder. Dagegen sei „der Kampf gegen totalitäre Sklaverei und seine bestialischen Verbrechen die erste Pflicht in unserer Zeit.” (Rudolf Rocker, Das Gebot der Stunde. NL Rudolf Rocker, Nr. 318) Viele jüdische AnarchistInnen, etwa der Kreis um die Freie Arbeiter Stimme sowie Gregory Petrovich Maximoff und Alexander Schapiro stimmten dieser Haltung zu – ebenso Diego Abad de Santillán [Link!], Max Nettlau, Helmut Rüdiger und die „Workers Friend“-Gruppe in London – und betonten, dass mit pazifistischen Mitteln der militärische Sturz der Nationalsozialisten, um die Mordmaschine anzuhalten, nicht möglich sei.

Angesichts der rassistischen Ermordung von sechs Millionen Juden und Jüdinnen, hatte Milly Witkop durchaus menschliches Verständnis für die von den Vereinten Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg beschlossene und 1948 erfolgte Gründung des jüdischen Staates im Nahen Osten. Zugleich blieb sie aber skeptisch, ob mit Hilfe eines Nationalstaates eine wirkliche Lösung der brennenden Probleme erreicht werden könnte. Sie plädierte für eine gemeinschaftliche Verwaltung des kleinen Landes durch AraberInnen und Juden/Jüdinnen im Rahmen der von Achad Haam und Martin Buber entwickelten Idee der Binationalität und lobte die genossenschaftlichen Kibbuzim.

Bereits unmittelbar vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs begannen Milly Witkop und Rudolf Rocker deutsche AnarchistInnen, die das NS-Regime überlebt hatten, materiell zu unterstützen. Anfang 1945 unternahm Milly Witkop hierzu erste Schritte im Rahmen der „Freien Arbeiter Stimme“ und der Föderation jiddischsprachiger Anarchisten, so dass noch vor Kriegsende erste Pakete nach Europa verschickt werden konnten. Für diese tätige Solidarität investierte sie in den nächsten Jahren viel Kraft und Energie. Ein Großteil der materiellen Hilfe für deutsche AnarchistInnen kam von der jüdischen Bewegung in den USA. Auch die Siedlung Mohegan, allen voran Milly Witkop, verschickte damals einige hundert Pakete nach Europa.

Für Milly Witkop bestand damals kein Zweifel daran, dass nach der Befreiung vom Nationalsozialismus und dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr ungebrochen auf die anarchosyndikalistische Tradition der Zeit vor 1933 zurückgegriffen werden konnte. Eine Neuformulierung libertärer Theorie und Praxis stand ganz oben auf der politischen Agenda: Um in Westdeutschland – in dem von der Sowjetunion besetzten Teil Deutschlands wirkte der Totalitarismus weiter und als Hauptgefahr betrachteten Milly Witkop und Rudolf Rocker jetzt den Stalinismus – für die libertäre Idee wirken zu können, sei es notwendig, den Anarchismus verstärkt in Richtung eines revolutionären Humanismus und des Föderalismus auszurichten.

1949 starb Milly Witkops Stiefsohn Rudolf Philipp überraschend in England. Schließlich war es Milly, die am 23. November 1955, achtundsiebzigjährig‚ ‚davonging‘. In den letzten Monaten ihres Lebens litt sie zunehmend unter Atembeschwerden. Einen Tag vor ihrem Tod wurde sie in das Krankenhaus in Peekskill am Hudson River in der Nähe von New York eingeliefert und dort künstlich beatmet. Doch jede Hilfe kam zu spät. Zahlreiche Beileidsbekundungen von FreundInnen und Bekannten, libertären Organisationen und Gewerkschaften halfen Rudolf Rocker, über seine tiefe Trauer hinweg zu kommen. Er überlebte Milly Witkop um knapp drei Jahre und folgte ihr im Herbst 1958 in den Tod.

Bedeutung innerhalb der anarchistischen Bewegung

Als Frau sah sich Milly Witkop innerhalb der anarchistischen ArbeiterInnenbewegung patriarchalem Verhalten und Männerdominanz ausgesetzt. Um der Unterdrückung von Frauen und Kindern in (klein-)bürgerlichen Familien entgegenzuwirken, stellte sie den häufig als unpolitisch missverstandenen Bereich der Reproduktion – Hausarbeit, Kindererziehung und Familie – in den Mittelpunkt ihres politischen Kampfes. Sie politisierte den Reproduktionsbereich gewissermaßen und rückte ihn in das Bewusstsein der Männer, um so die hierarchische Trennung vom ‚öffentlichem‘ und ‚privatem‘ Leben aufzuheben. Aus der anarchistischen Bewegung kommend, nahm sie die Frauenbewegung aus libertärer Sicht wahr. Streben Feministinnen die Emanzipation aller Frauen aus patriarchaler Herrschaft an, so zielen Anarchafeministinnen auf die Beseitigung des Patriarchats zur Befreiung aller Menschen durch eine grundlegende Revolutionierung der Gesellschaft ab. Ihre Haltung ist als feministisch zu würdigen, weil sie mit Hilfe des „Syndikalistischen Frauenbundes“ den spezifischen Interessen von Frauen und Mädchen durch die Bekämpfung des Patriarchats Gehör verschaffte. Zugleich war ihre Haltung eine anarchistische, weil sie erkannte, dass der Staat nie ein Bündnispartner für Frauen sein könnte, sondern abgeschafft und durch freiheitliche und sozial gerechtere Arrangements ersetzt werden müsste.

Die Jüdin Milly Witkop verkörperte eine Haltung, die seit der Französischen Revolution 1789 von der neuzeitlichen anarchistischen Bewegung vertreten wird: sich gegen religiöse Unterdrückung grundsätzlich zu wehren. Milly tolerierte Religion als individuelle Lebenshaltung, nicht aber die Institutionalisierung religiöser Gemeinschaften. Juden und Jüdinnen mussten sich zudem mit der durch das Christentum vorgeprägten Judeophobie auseinandersetzen, die die Kultur Europas und Nordamerikas bis heute durchwirkt.

Milly Witkop brach mit ihrer Herkunft aus einem religiös-jüdischen Elternhaus und fand zu einer neuen, säkularen Utopie, dem Anarchosyndikalismus. Dabei bezog sie sich nicht nur auf die ‚Befreiung‘ der öffentlichen Sphäre. Gleichermaßen betonte sie den wichtigen Einfluss der so genannten privaten, familiären Sphäre auf unser Denken, Fühlen und Verhalten. Für Milly kam es im Kampf gegen Staat, Kapital und Patriarchat also immer auf die ‚Befreiung‘ des öffentlichen und des privaten Lebens zugleich an.

Milly Witkop blieb trotz ihrer großen Beliebtheit innerhalb der internationalen anarchistischen Bewegung eine bescheidene, zugleich selbstsichere und selbstbewusste Persönlichkeit, die sich den Freiraum für ihr ‚privates‘ Leben mit Rudolf Rocker und Sohn Fermin nahm und als Frau und Anarchistin ihre öffentliche Rolle als Rednerin, Organisatorin, Vermittlerin und Autorin ausfüllte. Ihr Verständnis von Anarchie als einer alltäglich zu praktizierenden Lebenseinstellung begründet sich damit, dass sie als Jüdin von Kindheit an daran gewöhnt war, religiöse oder weltanschauliche Auffassungen als etwas zu begreifen, was das gesamte Leben prägt. Judentum ist im Diesseits, im Hier und Jetzt, angesiedelt und auf die konkrete Umsetzung sozialer Ziele orientiert – dies verdeutlicht die enge Verbindung von Judentum und Anarchismus.

Milly Witkops radikales Denken und Handeln in Richtung einer freieren, menschlicheren und sozial gerechteren Zukunft ermöglichte es ihr, sich als Jüdin mit den ethischen und sozialen Vorstellungen des Anarchismus zu identifizieren. Die enge Verbindung zwischen Judentum und freiheitlichem Sozialismus, von Judentum und Menschentum, gab ihr hierbei einen wesentlichen Impuls, ihre Stimme für Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit zu erheben, um ihre dreifache Identität als Frau, Jüdin und Anarchistin zu leben.


Autor: Siegbert Wolf

Quellen

  • Milly Witkop-Rocker, Was will der Syndikalistische Frauenbund? Berlin: Der Syndikalist, Fritz Kater, o. J. [1922]; dass., 2. Auflage. Berlin: Der Syndikalist, Fritz Kater, 1923. [Reprint: Hamburg 1988; CD-Rom-Ausgabe 2004]
  • Milly Witkop-Rocker, [Beitrag, ohne Titel]. In: Max Winkler, Das Geburtenproblem und die Verhütung der Schwangerschaft. Amsterdam: Verlag. „Roode Bibliothek“, 1925, zahlr. Ill., S. 40. [Auszug aus: Dies., Was will der Syndikalistische Frauenbund?, S. 8f.]
  • Rudolf Rocker, Memoiren, T. 1: Die Jugend eines Rebellen. T. II: In Sturm und Drang. Teil III: Revolution und Rückfall in die Barbarei. (IISG Amsterdam, NL Rudolf Rocker, Nr. 255-257)


Sekundärliteratur

  • Hans Jürgen Degen, Anarchismus in Deutschland 1945-1960. Die Föderation Freiheitlicher Sozialisten. Ulm 2002.
  • Helge Döhring, Syndikalismus im ‚Ländle’. Die Freie Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) in Württemberg 1918 bis 1933. Lich/Hessen 2006.
  • William J. Fishman, Jewish Radicals. From Czarist Stetl to London Ghetto. New York 1974. [Die britische Ausgabe erschien unter dem Titel: East End Jewish Radicals, 1875-1914. London 1975]
  • William J. Fishman, Jewish Immigrant Anarchists in East London 1870-1914. In: Aubrey Newman (Hrsg.), The Jewish East End 1840-1939. Proceedings of the Conference held on 22 October 1980 jointly by the Jewish Historical Society of England and the Jewish East End Project of the Association for Jewish Youth. London 1981, S. 233ff.
  • Lloyd P. Gartner, The Jewish Immigrant in England 1870-1914. London 1960. [3. Aufl. ebd. 2001]
  • Emma Goldman, Das Tragische an der Emanzipation der Frau. Berlin 1987, 3. Auflage (= Frauen in der Revolution, Bd. 2)
  • Ariane Gransac, Der Anarchafeminismus und die Gemeinschaftsküche Kropotkins. In: Schwarzer Faden, Nr. 2/1988, S. 36ff. ( = Sondernummer: Feminismus – Anarchismus)
  • Mina Graur, An Anarchist ‚Rabbi‘. The Life and Teachings of Rudolf Rocker. New York, Jerusalem 1997.
  • Heiko Haumann (Hrsg.), Luftmenschen und rebellische Töchter. Zum Wandel ostjüdischer Lebenswelten im 19. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien 2003.
  • Jenny d’Hericourt, Zur Syndikalistischen Frauenbewegung 1918-1933. In: Wege des Ungehorsams. Jahrbuch für gewaltfreie & libertäre Aktion, Politik & Kultur 1984. Kassel-Bettenhausen 1984, S. 175ff.
  • Esther Katz (Hrsg.), The Selected Papers of Margaret Sanger. Volume 1: The Women Rebel, 1900-1928. Assistant Editors: Cathy Moran Hajo and Peter C. Engelman. University of Illinois Press Urbana and Chicago 2003.
  • Ulrich Klan/Dieter Nelles, „Es lebt noch eine Flamme“. Rheinische Anarcho-Syndikalisten/-innen in der Weimarer Republik und im Faschismus. Grafenau-Döffingen 1986. [überarb. Aufl. 1990]
  • Peggy Kornegger, Carol Ehrlich, Anarcha-Feminism. Berlin 1982, 2. Auflage (= Edition Schwarze Kirschen 1)
  • Tony Kushner (Hrsg.), The Jewish Heritage in British History. Englishness and Jewishness. London 2002.
  • Silke Lohschelder, Anarchafeminismus. Auf den Spuren einer Utopie. Münster 2000.
  • Andreas Müller, Das Dilemma mit der anarchistischen Frauenbewegung. In: Rundbrief für alle über den Anarchismus, Anarchosyndikalismus, Linksradikalismus sowie antiautoritäre Bewegungen forschenden Historikerinnen und Historiker, hobbyhalber oder -ganzer oder so.... Nr. 6, Januar 1993, S. 4ff.
  • Jürgen Mümken, Anarchosyndikalismus an der Fulda. Die FAUD in Kassel und im Widerstand gegen Nationalsozialismus und Faschismus. Mit einer Einleitung von Helge Döhring. Frankfurt/M. 2004.
  • Dieter Nelles, Anarchosyndikalismus und Sexualreformbewegung in der Weimarer Republik. Written for the workshop ‘Free Love and the Labour Movement’. Second workshop in the series ‘Socialism and Sexuality’. International Institute of Social History Amsterdam, 6th October 2000. Amsterdam 2000. (www.iisg.nl/~womhist/nellesde.pdf)
  • Miltiadis Oulios, Die anarchistische Frauenbewegung in Deutschland vor 1933. Magisterarbeit. Universität zu Köln, Sommersemester 1999.
  • Werner Portmann/Siegbert Wolf, „Ja, ich kämpfte“ Von Revolutionsträumen, ‚Luftmenschen’ und Kindern des Schtetls. Biographien radikaler Jüdinnen und Juden. Münster 2006. (darin: „Die Tore der Freiheit öffnen“ – Milly Witkop-Rocker (1877-1955), Anarchistin und Feministin, S. 249ff.)
  • Leonard Prager, Yiddish Culture in Britain. A Guide. Ffm, Bern, New York, Paris 1990.
  • Cornelia Regin, Hausfrau und Revolution. Die Frauenpolitik der Anarchosyndikalisten in der Weimarer Republik. In: IWK 25 (1989), H. 3, S. 379ff.
  • Fermin Rocker, East End. Eine Kindheit in London. Münster 1993. Die englische Ausgabe erschien unter dem Titel: The East End Years. A Stepney Childhood. London 1998.
  • Rudolf Rocker, Aus den Memoiren eines deutschen Anarchisten. Hrsg. von Magdalena Melnikow und Hans Peter Duerr. Ffm 1974.
  • Rudolf Rocker, Hinter Stacheldraht und Gitter. Erinnerungen aus der englischen Kriegsgefangenschaft. Berlin 1925.
  • Rudolf Rocker, The London Years. London 1956. [Neueste Aufl.: Nottingham/St. Oakland 2005]
  • Rudolf Rocker, Milly Witkop-Rocker. Berkeley Heights, New Jersey: The Oriole Press, 1956.
  • Hartmut Rübner, Rudolf Rocker. In: Hans Jürgen Degen (Hrsg.), Lexikon der Anarchie. Bösdorf 1996 (= Erg.-Lfg. 4)
  • Hartmut Rübner, Freiheit und Brot. Die Freie Arbeiter-Union Deutschlands. Eine Studie zur Geschichte des Anarchosyndikalismus. Berlin/Köln 1994.
  • Birgit Seemann, Femminismo Anarchico ed Ebraismo. In: Amedeo Bertolo (Hrsg.), L’Anarchico e L’Ebreo. Storia di un incontro. Milano 2001, S. 213ff. [Vortrag gehalten am 06.05.2000 auf der gleichnamigen Konferenz in Venedig, 05.-07.05.2000; über Milly Witkop, Hedwig Lachmann, Emma Goldman]
  • Angela Vogel, Der deutsche Anarcho-Syndikalismus. Genese und Theorie einer vergessenen Bewegung. Berlin 1977.
  • Christine Weghoff, Die Frauenpolitik der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) 1921-1933. Eine Untersuchung auf der Grundlage ausgesuchter Quellen. Staatsexamensarbeit, Göttingen 1984.
  • Peter Wienand, Der ‚geborene‘ Rebell. Rudolf Rocker. Leben und Werk. Berlin 1981.
  • Mark Zborowski/Elizabeth Herzog, Das Schtetl. Die untergegangene Welt der osteuropäischen Juden. München 1991.