Schwarze Fahne
Lexikon der Anarchie: Sachthemen
Die Schwarze Fahne als Symbol des Anarchismus
Inhaltsverzeichnis
Definition
Auf dem Feld der Politik geht es in erster Linie darum, bestimmte Ideen durchzusetzen. Da Politik nicht nur im Zwiegespräch stattfindet, sondern die Öffentlichkeit einen konstitutiven Faktor des Politischen bildet, ist jede Interessengruppe bestrebt, ihre Programmatik massenmedial kommunizierbar zu machen. Diesem Zweck dient die bildhafte Verdichtung mittels symbolischer Formen. Trotz seiner antipolitischen Zielsetzung folgt auch der Anarchismus diesem Handlungsmuster und kombiniert die Bildform „Fahne" mit der Symbolfarbe „Schwarz". Belässt der aufgespannte und hochgehaltene Stoff die Fahne in ihrer traditionellen Funktion als weithin sichtbare Standortmarkierung, so finden im Bereich der Bedeutungszuschreibungen an die Farbe wichtige Verschiebungen statt.
Historische Entwicklung
Anfänglich steht die Farbe Schwarz bis in die frühen Hochkulturen sowohl für Fruchtbarkeit (die Saat wächst im Dunkel der Erde heran, das Kind im Inneren des Leibes, schwarze Wolken bringen lebensspendenden Regen, während die Sonne das Land ausdörrt) als auch für den Tod (auch im übertragenen Sinne der Auflösung des Egos, beispielsweise während des Schlafes). Von Persien aus verbreiten sich dann Religionen, die das Licht mit der Herrschaft identifizieren und dem Dunkel ausschließlich negative Bedeutung zumessen. Für den westeuropäischen Kulturkreis ist hierbei die christliche Vorstellung von Himmel und Hölle prägend. Schwarz wird daher vorwiegend zum Kennzeichen oppositioneller Bereiche wie Magie oder Seeräuberei, kann aber aufgrund seiner distanzschaffenden Wirkung auch als offizielle Tracht vorkommen, etwa am spanischen Königshof. In der Regel jedoch bevorzugt der Adel prächtig leuchtende Gewänder, während das Bürgertum und die einfachen Leute sich meist in unbunte Farben kleiden, weil diese billiger sind und ihrer protestantisch-asketischen Arbeitsethik mehr entsprechen. Die Gleichheitsforderung des Bürgertums findet in der Französischen Revolution 1789 symbolhaften Ausdruck im Beschluss der Nationalversammlung zur Einführung des schwarzen Rockes für die Deputierten als Ehrenkleid des dritten Standes. Charles Baudelaire, von der politischen Entwicklung enttäuscht, kommentiert in seiner Salonbesprechung 1846; „Der schwarze Frack und der Gehrock haben nicht nur ihre politische Schönheit, als ein Ausdruck der allgemeinen Gleichheit, sondern auch ihre poetische Schönheit, als ein Ausdruck der öffentlichen Gemütsverfassung – ein unabsehbarer Zug von Leichenbittern, politischen Leichenbittern, verliebten Leichenbittern, bürgerlichen Leichenbittern. Wir tragen jeder etwas zu Grabe" (Baudelaire 1990, S. 102). Mit der Revolution von 1848/49 setzt sich dann das auf die Bourbonenherrscher zurückgehende Rot, welches sich die Jakobiner 1791 angeeignet hatten, als Symbolfarbe der revolutionären Republik so eindeutig durch, dass sich auch die Pariser Kommune 1871 für die rote Fahne entscheidet, trotz des Votum von Jules Vallès, der die schwarze vorschlägt. Taucht die schwarze Fahne in der Juli-Revolution 1830 noch zusammen mit der roten auf, so finden 1831 in Reims und Lyon erstmals Arbeiterdemonstrationen statt, bei denen nur die schwarze Fahne mitgeführt wird. Die Aufschriften lauten „Arbeit oder Tod“ (Dommanget 1966, S. 48 f.) bzw. „arbeitend leben oder kämpfend sterben!“ (Perdu 1974, S. 30). Zum festen Zeichen des Anarchismus wird die schwarze Fahne dann 1883. Besonders Louise Michel popularisiert sie bei Versammlungen und Demonstrationen (z.B. am 9. März). Vor Gericht bezeichnet sie die schwarze Fahne als Symbol für Hunger, Elend, Streik, Arbeitslosigkeit und die Niederlage der Kommune (Dommanget 1966, S. 198). Ein ähnliches Bedeutungsspektrum wird der schwarze Fahne im selben Jahr durch die Zeitschrift „Le Drapeau Noir“ beigemessen. Für die Herausgeber ist die rote Fahne durch ihre Herkunft als bourbonisches Herrschaftszeichen ebenso korrumpiert wie durch ihre aktuelle Vereinnahmung seitens der Sozialisten und Kommunisten. Rot wird mit der Vorstellung einer legal operierenden, reformorientierten Massenbewegung verbunden. In Erinnerung an den gescheiterten Aufstand von 1831 wird die schwarze Fahne zum „Banner der Verzweiflung“ erklärt und einer veränderten Kampfstrategie zugeordnet: „Was wir von nun an machen wollen, das ist der Partisanenkrieg, der Schützenkampf ‚verlorener Kinder’, die ebenso hartnäckig sind wie verstreut, das ist der Kampf im Schatten, aber mit sicherem Schlag, der einzig logische Krieg, der Bürgerkrieg – der einzig gewinnbringende Krieg – der soziale Krieg. Jede Gefühlsduselei und jedes Übereinkommen liegt uns daher fern; mit der bürgerlichen Gesellschaft beginnt ein Duell bis auf den Tod...“ (Le Drapeau Noir, Nr. l, 12. August 1883, S. 1). Ein halbes Jahrhundert später findet sich in der von Sebastian Faure betreuten „Encyclopédie anarchiste“ das Stichwort „drapeau“, in welchem der Fahnenkult generell kritisiert wird, jedoch auch zugegeben werden muss, dass es immer wieder der Ehre wegen zu gewaltsamen Auseinandersetzungen um das Bildsymbol des Anarchismus kommt: „Die Anarchisten haben ebenfalls eine Fahne. Sie ist schwarz. Die Anarchisten sind die einzigen, die in ihr nicht ein Symbol sehen, sondern ein Stück Lumpen, das dazu dient, im Verlauf eines Demonstrationszuges oder einer Kundgebung alle Kameraden zu versammeln. Sie können diese Fahne ebensogut durch ein Schild oder jedes andere Gerät ersetzen, aber eine weit hochgereckte Fahne ist praktischer und aus größerer Entfernung sichtbar. Es kommt vor, daß sie sie sehr verteidigen, nicht weil sie denken, daß ein Meter alten Stoffes die Mühe wert wäre, sich zu schlagen und mit dem Leben der Kameraden zu bezahlen, sondern weil es nie ihre Fahne ist, auf die man es abgesehen hat, sondern ihre Ideen“ (Faure 1934, Bd. l, S. 592 f.). Obwohl in diesem Lexikonartikel weder die historischen Entwicklungsstufen 1831 und 1883 angesprochen werden, noch die Bedeutung der Farbe Schwarz überhaupt thematisiert ist, erreicht der Text durch den zentralen Ort seiner Publikation eine weite Verbreitung und wird häufig zitiert oder übernommen (z.B. bei Boussinot 1982, S. 51 f.). Neben dem konkreten Einsatz bei Demonstrationen und Kämpfen (etwa als Abzeichen der Truppen Nestor Machnos in der Ukraine 1917-21) wird die schwarze Fahne immer wieder zum Titel anarchistischer Publikationen gemacht. Im Sommer 1968 heißt es z.B. in einer französischen Flugschrift: „Die Flagge trauert um alle Schlachtopfer der Unterdrückung der Arbeiteraufstände. Auch drückt die Flagge seit vielen Jahrhunderten überall in der Welt die vollständige Umwälzung der Verhältnisse aus. Die Schwarze Fahne ist keine Parteifahne, sondern die Fahne der Umwälzungen und aller Aufstände“ (Rabbow 1970, S. 217). Heutzutage ist die schwarze Fahne als Gesinnungszeichen u.a. im Namen der amerikanischen Punkband „Black Flag“ lebendig.
Zusammenfassung
Zur Geschichte der schwarzen Fahne als anarchistischem Kollektivsymbol sind nur wenige Textdokumente bekannt. Dennoch lassen sich verschiedene Bedeutungsschichten herausarbeiten. Die rein fünktionsbezogene Sichtweise der „Encyclopédie anarchiste“ unterscheidet sich entweder aus Mangel an historischem Wissen oder mit voller pädagogischer Absicht von älteren Standpunkten, die ein inhaltliches Pathos mit der schwarzen Fahne verknüpfen. Dort werden der Bildform Bedeutungen wie Tod, Verzweiflung oder Trauer zugewiesen, die im Einklang mit dem gesellschaftlich dominierenden Symbolverständnis stehen. Werden diese Gehalte von der Arbeiterbewegung in ihrer Frühzeit noch leidend auf sich selbst bezogen (nach dem Motto: Wir werden sterben, wenn ihr uns nicht Arbeit gebt), so werden sie in der Phase des organisierten Anarchismus selbstbewusst auf den Gegner hin gewendet (im Sinne von: Wir sind zwar verzweifelt, aber Ihr werdet sterben). Die negativen Bedeutungen werden umgekehrt und als kraftspendend erlebt, wenn etwa das Dunkel als Schutz gedeutet wird. Mittels dieser Inversion schließt der Anarchismus an die ursprüngliche Bedeutungsdimensionen der Farbe Schwarz an. Während die Fahne als Bildform fast ausschließlich von aktiven Mitgliedskreisen verwendet wird, transportiert die Farbe über Elemente der Alltagsästhetik wie z.B. Kleidung anarchistische Bestimmungen in weit breitere Kreise der Bevölkerung hinein. Besonders auf dem kulturellen Sektor dient Schwarz in so unterschiedlichen Zusammenhängen wie Existentialismus oder Sado-Masochismus zur Selbstbezeichnung von Gruppen, die Chaos, Lust und Aggression zu integrieren versuchen und die bürgerlich-rationale Welt mit ihrer abgespaltenen Nachtseite konfrontieren wollen. Derartige Ansätze zur Umwälzung herrschender Normen verbinden sich zwanglos mit den politischen Zielsetzungen des Anarchismus, dem es darauf ankommt, das Feld der institutionalisierten Politik zu umgehen. Seit den sechziger Jahren schwindet daher auch der Stellenwert der zum Selbstbekenntnis nötigen schwarzen Fahne als Anarchiesymbol zugunsten des mit einem Kreis umgebenen Buchstaben „A“ (vgl. Geschichten des A.), der sich leicht und überall an die Wand schreiben lässt und eine ungleich größere Verbreitung findet.
Dieter Scholz
Literatur und Quellen:
- C. Baudelaire: Der Künstler und das moderne Leben. Essays, „Salons“, intime Tagebücher, Leipzig 1990
- R. Boussinot: Les mots de l'anarchie. Dictionnaire des idées, des faits, des actes, de l'histoire et des hommes anarchistes, Paris 1982
- M. Dommanget: Histoire du drapeau rouge des origins à la Guerre de 1939, Paris 1966
- Le Drapeau Noir (Lyon, 12. August – 2. Dezember 1883, 17 Nummern)
- S. Faure (Hg.): Encyclopédie anarchiste (4 Bde.), Paris 1934/35
- Geschichten des A, Berlin 1982
- J. Perdu: La révolte des canuts. Les insurrections lyonnaises 1831-34. Paris 1974
- A. Rabbow: dtv-Lexikon politischer Symbole. München 1970
- K. Vollmar: Das Geheimnis der Farbe Schwarz. Psychologie, Mythos, Symbolik, Südergellersen 1988.
Quelle: Dieser Artikel erschien erstmals in: Lexikon der Anarchie: Encyclopaedia of Anarchy. Lexique de l'anarchie. - Hrsg. von Hans Jürgen Degen. - Bösdorf: Verlag Schwarzer Nachtschatten, 1993-1996 (5 Lieferungen). - Loseblattsammlung in 2 Ringbuchordnern (alph. sortiert, jeder Beitrag mit separater Paginierung). Für die vorliegende Ausgabe wurde er überarbeitet.
© Alle Rechte am hier veröffentlichten Text liegen beim Autor. Sofern nicht anders angegeben, liegen die Rechte der auf dieser Seite verwendeten Illustrationen beim DadAWeb. Es kann gerne auf diese Seite ein Link gesetzt werden. Aber von den Urhebern der Texte und Illustrationen nicht autorisierte Separat- oder Teil-Veröffentlichungen sind nicht gestattet, das gilt auch für die Verlinkung und Einbindung dieser Seite oder einzelner Seiteninhalte im Frame.