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Michel, Louise

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Lexikon der Anarchie: Personen


Louise Michel (1830-1905)

Louise Michel (geb.: 29. Mai 1830, Schloß von Vroncourt, Dep. Haute-Marne Frankreich; gest.: 9. Januar 1905, Marseille). Pädagogin und Anarchafeministin.


Äußere Daten

Michel wird als Kind eines unbekannten Vaters und einer Angestellten der Herrschaft geboren. Sie verlebt ihre Kindheit im Schloß Vroncourt, wo sie weder die damals üblichen Erziehungszwänge noch später eine „Gefängnisschule“ erlebt, wie sie berichtet. Im engen Kontakt mit der Natur, geliebt und gefördert, vom „Großvater“ zur gemeinsamen Lektüre der französischen Klassiker angehalten, kommt sie früh und ungezwungen mit der sie umgebenden Kultur in Kontakt. Gegenüber einem ihren späteren Briefpartner – Victor Hugo, den sie selber als „père-frère“ bezeichnen wird – erwähnt Michel, daß jene Zeit ihre Phantasie und Sensibilität für andere Menschen entwickelt habe. (vgl. Lejeune 1978, S. 17) In dieser Zeit muß der spätere Bruch mit der traditionellen Gesellschaft, die ausgesprochen nicht mit den in Vroncourt bereitgestellten Lebensentwürfen übereinstimmen wird, vorbereitet worden sein. In ihrer Autobiographie erwähnt Michel wie entsetzt sie gewesen sei, als sie erkannt habe, wie schlecht es den Bauern der Umgebung ergehe. Von der Dorfschule ist das Mädchen nur wenig beeindruckt. 1845 stirbt ihr „Großvater“, 1850 ihre „Großmutter“. Das Schloß wild verkauft. Mit ihrer Mutter zieht Michel nach Audeloncourt, einige Kilometer vom alten Wohnort entfernt. Im benachbarten Chaumont besucht Michel den einjährigen „Normalkurs Michel, wo sie in täglich zwölf Stunden Unterricht zur Lehrerin ausgebildet wird. In einem charakteristischen Augenblick wird sie ihre berufliche Karriere beginnen: 1851 hatte der Staatsstreich stattgefunden; danach waren die Beamten auf die Treue zum Kaiser verpflichtet worden. Als erklärte Republikanerin – sie ist inzwischen einundzwanzig Jahre alt – weigert sich Michel, den geforderten Eid zu leisten und vergibt sich deswegen die Chance, an staatlichen Schulen unterrichten zu dürfen. Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als eine Privatschule zu gründen. Sie richtet deshalb mehrere Gesuche um Eröffnung einer damals „freie Schule" genannten Anstalt an die Behörden. 1853 ist es soweit: In Audeloncourt hält sie ihre ersten Lektionen. In ihrer Klasse singt man die Marseillaise morgens vor und abends nach dem Unterricht. Dies führt zu Reaktionen: Politisch denunziert, verläßt die Lehrerin den Ort ihres Anfangs kurzfristig. Ähnliches gilt für die anderen beiden Gelegenheiten, wo sie unterrichtet hat – für die Schule im Montmartre-Quartier als auch für den Unterricht mit den Eingeborenen auf Neu-Kaledonien. Nicht nur ihr ungewöhnliche Idee vom Lernen und Lehren, von der Rolle der Lehrerin und der Kinder machen sie allerdings in den Augen der Öffentlichkeit zum Inbegriff des Außergewöhnlichen: Uneheliches Kind, mit literarischen Produkten arbeitend anstatt mit der Nadel oder mit Tieren, wie es einer Frau des Volkes anstehen würde, unverheiratet und schon dreiundzwanzigjährig. Was eine Heirat betrifft, ist sie ganz sicher, nie „le potage de l’homm" werden zu wollen und sogar noch schlechter zu verdienen als eine Köchin, wie sie sagt. Schließlich vertreibt sie das enge dörfliche Klima. Nach einem kurzen Aufenthalt in Paris eröffnet sie zwar im November 1854 ihre Schule wieder. Vom 3. Dezember gleichen Jahres datiert aber schon ein Gesuch, eine Schule in Clefmont – zwei Kilometer von Audeloncourt – einrichten zu dürfen. Dort bleibt sie zwei Jahre, immer noch unzufrieden, dem ländlichen Geist nicht entronnen zu sein. Mit einem Empfehlungsschreiben des Präfekten versehen, zieht sie mit ihrer Freundin dann doch nach Paris, wo sie 1856 die Stelle einer Unterlehrerin (an einer „freien Schule“ wiederum) erhält. Nach der täglichen Arbeit erobert Michel von nun an ein Gebiet, das den Frauen verboten war: Wissenschaft und Literatur. An einer Art Volksuniversität eröffnet sie sich die Türen zu einem damals vom weiblichen Geschlecht ferngehaltenen Wissen und belegt Kurse in Mathematik, interessiert sich für pädagogische Fragen, für Tier- und Pflanzenkunde. In ihren Unterricht bezieht sie das Konkrete, die Lebenswelt der Kinder, wie man heute sagen würde, ein und sie macht naturwissenschaftliche Experimente, die vorher in der Primarschule noch nie erprobt worden sind. 1865 erwirbt sie selber eine Schule: Sie zieht ins Montmartre-Quartier, das damals kaum ein größeres Dorf ist.

Politischer Werdegang

Streetart in Paris in Erinnerung an Louise Michel

Allerdings hat Michel ihre pädagogische Reflexion nicht lediglich zu unterrichtlichen Zwecken unternommen, wollte sie doch eine politische Befreiung für alle: Das Ziel, die Welt zu verbessern, bleibt eine Konstante in Michels Denken: Neben dem Unterricht, schriftstellerischer Tätigkeit und der Komposition einer „futuristischen Oper“ schreibt sie Beiträge für Zeitungen, oft mit „Louis Michel“ signierend. Sie nimmt an Zusammenkünften der Gruppe „Droit des Femmes“ teil und ist aktiv in der Vereinigung „La société démocratique de moralisation“, die es sich unter dem Deckmantel eines wohlklingenden, nicht regierungsfeindlichen Namens zur Aufgabe macht, arbeitslosen Frauen den Weg in die Prostitution zu ersparen, indem für sie Arbeit gesucht wird. Daß sie im Zentrum des Widerstandes gegen Napoleon III. lebt, beschleunigt ihre pädagogische, vor allem aber ihre politische Bewußtwerdung. Über das Klima vor der Revolution berichtet sie in ihrem Buch „La Commune“ (Michel, o.J.). Daß sie allmählich zur Libertären wird, zeigen ihre Forderungen, die sie öffentlich äußert: 1868 verlangt sie gleichen Lohn für gleiche Arbeit von Mann und Frau; im Programm der „Association Internationale des Travailleurs“ (IAA), deren Pariser Sektionsmitglied Michel ist, wird (als Punkt 4, nach „Abschaffung der Armee“, „Trennung von Kirche und Staat“, „Gesetzreform“) der weltliche und ganzheitliche Unterricht für alle auf Kosten des Staates sowie Nahrungsmittelentschädigung für alle Kinder während der Schuldauer verlangt. Kurz vor der Revolution von 1871 erteilt Michel abends Kurse für Frauen und Mädchen, die nie eine Schule besucht haben; sie nimmt an zahlreichen Versammlungen teil; sie erwägt einen Anschlag auf Napoleon III.; und sie richtet sich gegen die französische Kriegserklärung an das Deutsche Reich: Michel vertritt in der Zeit der Kommune sowohl im politischen als auch im pädagogischen Bereich die Ideen der neuen Kräfte. Am 4. September 1870 wird die Republik ausgerufen, am 31. Oktober folgt der Marsch auf das „Hotel de Ville“, am 31. März 1871 wird die Rote Fahne auf dem Panthéon gehißt, am 2. April reagiert die staatliche Gewalt, am 15. Juni 1871 wird Michel die am Aufstand der „Pariser Commune“ beteiligt gewesen ist, verhaftet, ins Versailler Gefängnis geworfen und zu lebenslänglicher Deportation verurteilt, da man sich nicht zu töten wagt. Zwanzig Monate lang lebt sie noch im Gefängnis von Auberive in ihrer Heimat. Am 24. 8. 1873 reist sie im Gefängniszug ab, zwei Tage später besteigt sie mit vielen anderen Kommunarden und Kommunardinnen in Rochefort die Fregatte, die sie nach viermonatiger Reise nach Neu-Kaledonien (westlich Australiens) schiffen sollte. Am 10. Dezember 1873 kommen die Verbannten in Nouméa an. Die Inhaftierte botanisiert, schreibt, untersucht die Lebensweise der Ureinwohner, unterrichtet sie in Lesen, Schreiben und Rechnen – und dies, obschon sie sich nicht aus dem Gefängnisdorf entfernen darf. Wie andere Häftlinge auch darf sie ab 1879 aber ihrem Beruf nachgehen – und sie eröffnet eine Schule. Zu Beginn unterrichtet sie ausschließlich Kinder von Verbannten. Doch ihre Qualitäten als Lehrerin ziehen andere Schülerinnen und Schüler an: Im folgenden Jahr verpflichtet sie der Bürgermeister von Nouméa, an einer Mädchengemeindeschule Musik und Zeichnen gegen einen Jahreslohn von 720 Franken zu lehren. Neben der täglich zu verrichtenden Hausarbeit geht die Gefangene also wieder ihrem erlernten Beruf nach, was sie allerdings nicht hindert, „ihre Sonntage den eingeborenen Kindern zu widmen, für sie neue pädagogische Methoden zu erproben, nachdem sie nun das Leben der Eingeborenen gründlich kennengelernt hatte.“ (ebd., S. 269) Michel wird das geregelte Leben mit einer regulären Stelle, einer von der Verwaltung genehmigten Tätigkeit, nicht lange ausüben können. Einige Sträflinge sind inzwischen begnadigt worden und nach Frankreich zurückgekehrt. Zugunsten der berühmten „pétroleuse“ ist in Paris eine Bittschrift anhängig. Michels kaltverächtlicher Kommentar gegenüber dem Präsidenten der Republik: „Wollen sie alle die mich betreffenden Bitten, die in meinem Namen abgegeben werden, als null und nichtig betrachten.“ (ebd., S. 271) 1880 wird ihr der Rest der Strafe erlassen, trotzdem unterrichtet sie weiter auf Nouméa, als ob nichts gewesen wäre. Erst als im Juli desselben Jahres eine Generalamnestie alle in Neu-Kaledonien lebenden Häftlinge befreit, kehrt sie zurück. Mehrere Tausend Menschen empfangen die ehemaligen Kommunarden in London, Dieppe und Paris. Im November erscheinen die Berichte über das Leben in Nouméa in der Presse. Zurückgekehrt, sagt Michel der Obrigkeit den Klassenkampf, hin zu einem libertären Sozialismus, an. Zudem setzt sie sich für den Ausbau der Frauenrechte ein, indem sie die Emanzipation der Frau mit der als notwendig erachteten Revolution verknüpft. Voraussetzung für eine derartige Revolution ist allerdings die egalitäre Erziehung für Knaben und Mädchen, darüber hinaus gleicher Lohn für gleiche Arbeit von Männern und Frauen: „In der Anarchie wird jedes Wesen seinen vollwertigen Entwicklungszustand erlangen. Und vielleicht wird darin neuer Sinn gefunden werden. Der Mensch, der nicht mehr kalt und keinen Hunger mehr hat, wird gut sein. Also wird man weder Gesetze, Polizisten noch Regierungen brauchen.“ (ebd., S. 292) Auf die Frage, wie die Anarchie verwirklicht werden könne, vermag Michel – wie andere Anarchisten auch – keine Antwort zu geben, da ein festes, doktrinäres Programm der Anschauung widersprechen würde, die neue Ordnung müsse von „unten herauf“ wachsen. Drei Jahre sollte es dauern, bis Michel wiederum im Netz der Gesetze verstrickt werden kann. Eine Arbeiterdemonstration in Paris (am 9. März 1883, für Brot und Arbeit), an der die Anarchistin teilnimmt, erlaubt es, sie als vermeintliche Drahtzieherin festzunehmen. Am 1. April kommt sie ins Frauengefängnis von Saint-Lazare und wird später zu weiteren sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. Mit Peter Kropotkin zusammen, der in Frankreich inhaftiert ist, muß Michel einen Gnadenerlaß akzeptieren und wird aus dem Zuchthaus entlassen. Am 22. Januar 1888 überlebt sie ein Attentat. 1890 publiziert sie ihre Sicht der anarchistischen Umwälzung. (Michel, 1890) Weil sie auf ihren Propagandareisen ständig von politischen Gegnern bedroht wird, entschließt sie sich, nach London umzuziehen und dort eine Schule zu eröffnen. Weil letzteres nicht gelingt, kehrt sie 1895 auf den Kontinent zurück, wo sie mit Sébastian Faure (vgl. Grunder 1986, S, 57) die anarchistische Zeitung „Libertaire“ ediert und die Reisen wieder aufnimmt, die für sie eine Gesellschaft denunzieren, welche Ungleichheit und Korruption verdeckt. Francisco Ferrer hatte sie bereits vor S. Faure kennengelernt. Emma Goldman, die amerikanische Anarchistin wird sie um die Jahrhundertwende in Paris treffen. 1893 zeichnet sie als Mitautorin einer der am klarsten formulierten Programmschriften der libertären Pädagogen, einem Grundriß libertärer Erziehung, den sie zusammen mit Leo Tolstoi, Jean Grave, P. Kropotkin und Malato publiziert. (Grave et al. 1898) 1902 und 1904 erleidet sie Lungenentzündungen. 1904 richtet sie sich in Nancy in einer Rede ein letztes Mal in antimilitärischer Absicht an die Frauen Frankreichs. Am 9. Januar 1905 stirbt sie ohne das Bewußtsein noch einmal erlangt zu haben nach einer Lungenattacke in Marseille.

Stellenwert Michels innerhalb des libertären Spektrums

Gedenktafel für Louise Michel in Marseille
Was für Michel „Anarchismus“ bedeutet, zeigt der Ausschnitt eines in flammenden Worten gehaltenen Referates, das in ihrer Biographie abgedruckt ist. (Michel 1886, S.400ff) Dazu einige Hinweise: In ihren Augen sind Anarchisten Menschen, die es „in einem Jahrhundert, das stolz die Meinungsfreiheit beschwört“, wagen, ihre unbegrenzte Freiheit zu erlangen: „Wir verlangen die absolute Freiheit, nichts als die Freiheit und nur sie“, (ebd., S, 401) sagt sie. Das heißt für sie nichts anderes, als das Recht und die Mittel zu erhalten, unabhängig und frei zu handeln. Diese Freiheit ist jedoch unvereinbar mit jeglicher Art von Herrschaft, sie ist unvereinbar mit aufgezwungenen oder demokratisch gewählten Regierungen, ja sie ist inkompatibel mit der Idee der Regierung selber, mit dem Prinzip der Autorität an sich. Menschliche, inner- und zwischenstaatliche Beziehungen dürfen sich laut Michel nur auf freiwillig eingegangene und jederzeit auslösbare Verträge stützen: „Die Anarchisten schlagen deshalb dem Volk vor, sich von der Regierung zu trennen wie es sich schon von Gott zu trennen ansetzt.“ (ebd., S. 401) Später werde es noch lernen, sich auch von den Besitzern zu trennen, um die „Herrschaft über das Brot“ zu erlangen. „Keine Freiheit ohne Gleichheit! Keine Freiheit in einer Gesellschaft, die in den Händen weniger monopolisiert wird.“ (ebd., S. 401) Das von allen erwirtschaftete Gut muß auch allen gehören, fährt sie fort, da es sich um die Errungenschaft mehrerer Generationen handle und späteren Generationen auch gehören muß: Keiner darf ausgeschlossen werden, keiner darf sich bereichern. Die Forderung nach Gleichheit meint den Wunsch nach Gleichheit „für jeden nach seinen Fähigkeiten, für jeden nach seinen Bedürfnissen“, (ebd., S. 402) Damit reklamiert Michel „das Brot für alle, die Wissenschaft für alle, die Arbeit für alle – für alle auch Unabhängigkeit und Gerechtigkeit“. (ebd., S. 402)

Literatur und Quellen:

Die wichtigsten Werke

  • Prise de possession, Paris 1890
  • Les droits des femmes, in: Le Libertaire, l / 1893
  • Oeuvres posthumes. l. Bd., Alfortville 1905
  • La Commune, Paris o. J.

Deutsche Übersetzungen:

  • Frauen in der Revolution: Louise Michel, Bd. l, Berlin 1976
  • Memoiren, Fulda 1977


Quellen

  • I. Boyer: Louise Michel, Paris 1927
  • E. Cecconi: Louise Michel, in: L'Università Popolare, 4/1912
  • S. Champeaur: Louise Michel, Paris o. J., Berlin 1987
  • S. Farne: Défendons le mémoire de Louise Michel, in: Le Libertaire, September 1938
  • J. et al Grave: La liberté par l’enseignement, Paris 1898
  • H. U. Grunder: Wir fordern alles. Weibliche Bildung im 19. und 20. Jahrhundert, Grafenau 1998
  • P. Lejeune: Louise Michel – L’indomptable, St. Armand 1978
  • F. Moser: Louise Michel. Une héroine, Paris 1947
  • F. Planche: La vie ardente et intrépide de Louise Michel, Paris o.J.


Autor: Hans Ulrich Grunder

Quelle: Dieser Artikel erschien erstmals in: Lexikon der Anarchie: Encyclopaedia of Anarchy. Lexique de l'anarchie. - Hrsg. von Hans Jürgen Degen. - Bösdorf: Verlag Schwarzer Nachtschatten, 1993-1996 (5 Lieferungen). - Loseblattsammlung in 2 Ringbuchordnern (alph. sortiert, jeder Beitrag mit separater Paginierung). Für die vorliegende Ausgabe wurde er überarbeitet.

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