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Anarchismus im Rahmen der deutschsprachigen Aufklärung

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Anarchismus im Rahmen der deutschsprachigen Aufklärung

Methodischer Rahmen Pribers Entwürfe vollkommener Herrschaftslosigkeit Lessings Freimaurerperspektive Weishaupts Illuminatenreich Herder: Staat als beschränkter Kulturzustand Ascher: Neuer Naturzustand und Panarchie Hebenstreits herrschaftsfreier Agrarkommunismus Knigges und Rebmanns nachjakobinistische Utopien Kantianische Traktate Kants neue Begrifflichkeit Literatur und Quellen

Methodischer Rahmen Die Geschichte des Anarchismus im Rahmen der europäischen bzw. deutschsprachigen Aufklärung darzustellen, macht eine methodische Weichenstellung erforderlich. Dabei kann es – die erste methodische Prämisse – nicht um eine additive Aufzählung von anarchistisch klingenden Sentenzen gehen. Ebenso hat man, wenn man sich auf relativ ausgeformte Konzepte konzentriert – das wäre die zweite methodische Prämisse – diese in ihrer historischen Spezifik zu analysieren. Das wiederum bedeutet zweierlei: Einerseits gibt es relativ ausgeformte anarchistische Positionen bereits in der Aufklärung. Manches von dem, was in der akademischen Forschung antifeudalen und antiabsolutistischen Diskursen, d.h. frühbürgerlich-demokratieaffinen Positionen zugeschlagen wurde und wird (Demokratie im Sinn von repräsentativer Demokratie), war nicht nur gegen Adelsregime gerichtet, sondern gegen staatliche Macht und Herrschaft an sich. Wenn der deutliche Abstand zu ‚klassischen Anarchismen‘ dennoch zu konstatieren ist, kann bei der Analyse ggf. zum Vermittlungsattribut „anarchoid“ gegriffen werden. Andererseits ist nicht alles Freisinnige und Libertäre aus Aufklärungsdebatten – das richtigerweise anarchistisch rezipiert wird –, umstandslos als anarchoid oder gar als anarchistisch zu klassifizieren. Teilweise geht es dabei um Auslegungsfragen, um ein produktives Pro und Kontra. Um diese Ausgangslage an einem Beispiel aus der Phase vor der Aufklärung zu demonstrieren: Die theoretischen und praktischen Angriffe auf geistliche und weltliche Obrigkeiten im Zuge des Deutschen Bauernkriegs sind bekannt. Es wird sich darin letztlich aber nichts Anarchoides oder Anarchistisches finden lassen. So propagierte die wohl ausgeformteste und libertärste Sozialutopie im Zuge dieser Ereignisse – Hans Hergots religiös-kommunistisches Traktat Von der neue Wandlung (1526/27) – eine auf Wahlbasis beruhende und hierarchisch gestaffelte hegemonial-apostolische Herrschaft („Öberkeit“). Schwerpunkt dieses Abrisses ist die deutschsprachige Aufklärung. Einerseits ist die Geschichte des Anarchismus für Nationen wie England und Frankreich relativ gut erforscht, andererseits bestehen, angesichts des generellen Forschungsrückstands betreffs Anarchismus im deutschsprachigen Raum, auch für die Phase gravierende Forschungslücken. Im Folgenden werden hier – Anarchismus im Plural – einige Stationen und Positionen vorgestellt. Ein solches plurales Vorgehen, das ist verdeutlichend hervorzuheben, erfasst Anarchismen als sich bewegend und entwickelnd. Damit unterstellt es nicht, auf ein Modell fixiert, den Anarchismus. Dennoch ist mit dem anarchistischen Zentralideal – dem der Herrschaftslosigkeit bei gleichzeitiger sozialer Eintracht auf ganz verschiedenen Gebieten, z.B. von Religion, Politik, Ökonomie sowie Ehe- bzw. Genderverhältnissen – ein ausreichend festes Kriterium gegeben, beispielsweise dafür, Anarchistisches und Individualistisches bzw. Libertäres voneinander zu scheiden. Insofern werden Werke des ‚Sturm und Drang‘, die bekanntlich rebellische Haltungen und Figuren entwerfen, aber in ihrem individuellen Protest das Ideal genereller Herrschaftslosigkeit nur äußerst selten oder gar nicht aufwerfen, hier nicht miteinbezogen. Somit geht es hier um zum Teil bekannte Aufklärungsvertreter, deren anarchoide und anarchistische Positionen aber im Mainstream der Forschung unkenntlich gemacht worden sind, weil ihre generelle Herrschafts- und Staatskritik, zum Teil auch am Privateigentum, zu einer bloßen Kritik an Feudalismus und Absolutismus herabgestimmt wurde. Es geht aber auch um weitgehend unbekannte Akteure wie Christian Gottlieb Priber und Franz Hebenstreit.

Pribers Entwürfe vollkommener Herrschaftslosigkeit Die Radikalaufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts ist, nicht zuletzt auch durch die Arbeiten von Jonathan I. Israel, erneut in die Diskussion gekommen. Auch der Zittauer Advokat Christian Gottlieb Priber (1697-ca. 1743), der 1735 nach Nordamerika auswanderte, dort 1743 aufgrund seiner Planungen für ein herrschaftsfreies Gemeinwesen von der britischen Kolonialmacht gefangengesetzt wurde und wohl Mitte der vierziger Jahre in Frederica, im heutigen Georgia, in Gefangenschaft verstarb, ist dieser radikal-aufklärerischen Linie zuzurechnen. Ihn zeichnen nicht nur religionskritische Auffassungen aus (wie sie für die deutsche Radikalaufklärung bis über die Mitte des 18. Jahrhunderts hinaus kennzeichnend waren), sondern religionsablehnende, staatsablehnende und herrschaftsablehnende. Die Besonderheit seiner naturrechtlich basierten Vorstellungen bestand darin, dass sie sich nicht nur gegen religiöse, staatliche und ökonomische Herrschaft richteten, sondern gegen Herrschaft an sich, und zwar auf fünf Gebieten: Politik, Ökonomie, Religion, Geschlecht, Ethnie. Er erstrebte im Südosten des nordamerikanischen Kontinent erstens eine Republik ohne jegliche Herrschaft, vollkommene Realisierung von Recht und Freiheit (Republik im Sinn von Gemeinwesen, nicht als institutionell-politische Organisationsform), zweitens Gemeinschaftseigentum, drittens ein Nebeneinander und Absterben aller Religionen unter dem Dach einer neuen naturrechtlich-moralischen, nichtreligiösen Weltanschauung, viertens gleiche Freiheiten für Frauen und Männer sowie ein Leben ohne Heiratskontrakte, fünftens ein Miteinander verschiedener Ethnien: Indianer, ehemalige schwarze Sklaven, weiße Zuwanderer. Diese Ansichten weisen, bei aller Radikalität, aber auch Merkmale auf, die sich nicht als anarchistisch, sondern als „anarchoid“ kennzeichnen lassen. Sie stehen für eine anarchistisch-archistische, aufklärerische Spielart von Herrschaftskritik, die – und hier zeigen sich Unterschiede zum ‚klassischen Anarchismus‘ – der Selbstverantwortung und Autonomie der Akteure offenbar nicht gänzlich vertraute. Vielmehr scheint sich Priber auf dem Weg in eine staatslose Gesellschaft zumindest für eine bestimmte Übergangszeit eine leitende politische Rolle zugeschrieben zu haben. Damit ist bereits erwähnt, und das unterstreicht Pribers Bedeutung: Er war nicht nur ein Theoretiker, sondern auch ein anarchistisch-anarchoider Praktiker. Denn er ging gezielt an die Umsetzung seiner Vorstellungen und versuchte, auf indianischem Gebiet im Süden Nordamerikas eine herrschafts- und religionsfreie Konföderation zu gründen. Möglicherweise hätte sie – die Quellen sind auch hier nicht eindeutig – aus zwei Bereichen bestehen sollen: einem von großräumig konföderierten Indianersiedlungen und einem einer darin befindlichen Stadt, bevölkert mit freiwillig kommenden bzw. vor Schulden flüchtenden Weißen verschiedener Nationen sowie flüchtigen schwarzen Sklaven. Nach eigenen Angaben arbeitete er an diesen Plänen schon vor seiner Auswanderung von Deutschland nach Amerika 1735, und sie wurden mit seiner Verhaftung durch die britische Kolonialmacht 1743 abrupt beendet. Sechs relevante Überlieferungen von Zeitzeugen gibt es, die seine anarchistischen Auffassungen belegen. Ein siebentes Zeugnis, das Inhaltsverzeichnis seines bei seiner Verhaftung noch komplett vorhandenen Buchmanuskripts über eine ideale Gesellschaft, konnte 2017 in zwei parallel erscheinenden Publikationen vorgestellt werden. Diese Zeugnisse verdeutlichen den theoretischen Vorlauf, aus dem sich seine Vorstellungen speisten: Naturrecht; Ideal einer natürlichen Religion; Mythe des ‚gute Wilden‘; politische Konstrukte von idealem Staat bzw. idealer Gesellschaft. Pointiert gesagt: Theoretisch-philosophisch ist er als radikaler „Linkswolffianer“ anzusehen. Bei allen theoretischen und praktischen Einflüssen und bei allem utopischen Überschwang, von dem auch Priber geprägt war: Soweit die Quellen es zulassen, kann man bei ihm einen libertären Anarchismus erkennen, aber auch einen bestimmten Archismus. Erstens äußerte er sich darin, in seinem zukünftigen Gemeinwesen politische Leitungsfunktionen – entweder für eine anfängliche Übergangszeit oder möglicherweise sogar in permanentem Sinn – nicht auszuschließen. In der neuen utopischen Gesellschaft sah er sogar für sich eine Leitungsfunktion vor, die er auf Bitten der beteiligten Indianer übernehmen würde, allerdings ohne jegliche Privilegien zu beanspruchen und möglicherweise nur für die unmittelbare Gründungsphase. Zweitens überliefern mehrere Quellen, dass er sich selbst in den damals gegebenen indianischen Stammesstrukturen – und vor der Verwirklichung seines eigentlichen Projekts – den Titel Premierminister gegeben haben soll. Das kann pragmatischen Gründen geschuldet gewesen sein, und sie werden ähnlich gelagert gewesen sein wie bei anderen Aufklärungsdenkern, die als libertär anzusehen sind, die aber davon ausgingen, dass es moralisch integre Leitungspersonen dafür geben müsse, ‚Anarchie‘ ungetrübt umzusetzen. Erstens seien die Menschen, anthropologisch gesehen, von ihrer Entwicklung her ‚nicht gut genug‘, seien beständig verführungs- und affektanfällig. Zweitens seien sie, pädagogisch gesehen, zwar grundsätzlich ‚gut‘, aber unter den obwaltenden gesellschaftlichen Umständen noch unterentwickelt und nicht gebildet genug, um ihrer wahren Natur zu folgen.

Lessings Freimaurerperspektive Das, was sich als freimaurerische Bewegung ab ca. 1740 aufklärerisch etablierte, war äußerst heterogen: Die einen waren harmlose Freidenker oder Esoteriker, die anderen Verfechter religiöser Toleranz und politischer Reformen, wieder andere zeigten sich begeistert von der Idee, die Gesellschaft durch eine aus dem Untergrund agierende Gegengesellschaft umzuformen: Illuminaten. Auch Lessing war – was inzwischen gut erforscht ist – in dieses Freimaurerfeld verwickelt. Er war im Jahr 1771 nach mehreren abgewiesenen Versuchen einer entsprechenden Loge beigetreten. Einige Jahre später verfasste er dann einen Kommentar auf freimaurerisches Spießertum mit einer perspektivischen Aussicht auf universell Humanistisches: Ernst und Falk (ca. 1775). Als freimaurerisch galten Lessing alle humanistischen Bestrebungen seit der Antike. Sie müssten in eine zukünftige unsichtbare Kirche der Auserwählten, der Vernünftigen münden. Er plädierte für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf sanftem Weg: auf dem durch Aufklärung. Und Politik, Macht und Herrschaft? Lange Zeit ist diese Schrift – wie andere freimaurerische und illuminatische auch – rein geistesgeschichtlich und textimmanent interpretiert worden, als handle es sich um unverbindliche Moralschwärmereien. Staatsfeindliche Amplituden mussten übersehen werden, denn sie passten nicht in ein Aufklärungsbild, das aus ganz verschiedenen, gar divergierenden Forschungsrichtungen gehegt wurde. Es ist das Verdienst Reinhart Kosellecks, den politischen Sprengstoff freimaurerischer und illuminatischer Diskurse in Deutschland herausgestellt zu haben: Kritik und Krise (1959). Die seitherige Forschung baut, auch wenn sie Akzente und Schwerpunkte anders setzt oder Kosellecks Lesart gar korrigiert und kritisiert, auf sie auf. Koselleck, ein bekennender Etatist in der Nachfolge von Thomas Hobbes und Carl Schmitt, machte die geradezu mit Händen zu greifenden antistaatlichen Vorbehalte dieser bürgerlich orientierten Schwärmer zum Thema und arbeitete ihre subversiven Absichten heraus. Koselleck zufolge proklamiere Lessings Ernst und Falk (und andere freimaurerische und illuminatische Texte) den strikten Dualismus von Moral und Politik. Er hätte die Mittel-Ziel-Dialektik aufklärerischer Geheimbünde erkannt und strukturell-intentional zur wirklichen Alternative ausgebaut: „Das Fernziel der Maurer besteht darin – Lessing deutet es nur an – die Staaten so weit wie möglich zu erübrigen“. Nachfolgende Interpreten haben die anarchistischen Tendenzen von Lessings Ernst und Falk noch deutlicher herausgearbeitet. Die sog. Ameisenfabel gelte als textuell-gedankliches Zentrum: „So wird der beim Anblick des Ameisenhaufens laut gewordene Gedanke einer herrschaftsfreien Gesellschaft – der Anarchie also – von den Freunden zwar als utopisch angesehen, bildet aber dennoch den Fluchtpunkt, auf den sich – wie sich am Ende des zweiten Gesprächs herausstellt – die ‚wahren Taten‘ der Freimaurer alle beziehen“ (Michelsen). Der Inhalt dieser Fabel: Staaten und Staat seien nur vorübergehende und dürftige Mittel, nie Zweck. Denn sie würden, auch mit den besten Verfassungen, Menschen nie vereinigen, ohne sie zu trennen. Aber eine Alternative wäre möglich. Die Ameisen haben es, so Lessing, wunderbar: „Denn sie haben niemand unter sich, der sie zusammenhält und regieret“. Denn: „Ordnung muß doch auch ohne Regierung bestehen können“. Dieses Ziel – Ordnung ohne Regierungen – sei nach Lessing letztlich aber wohl nur der Tendenz nach zu verwirklichen. Insofern war seine Argumentation bedingt anarchistisch, es war ein Mittelbarkeitsanarchismus, ein Annäherungsanarchismus. Es war ein ‚evolutionärer’ Anarchismus, der selbstbewusst davon ausging, dass ‚Staat’ als solcher so viel wie möglich überwunden werden muss (aber wohl nie ganz überwunden werden kann).

Weishaupts Illuminatenreich Mit seinen Ansichten – und das ist eine der Folgewirkungen Lessings – wurde er erklärtes Vorbild einer Bewegung, der alsbald mit Verfolgung und Kerker gedroht wurde, deren Verbot aber letztlich glimpflich verlief. Adam Weishaupt, der Wortführer der „Illuminaten“ behauptete, durch Lessings Ernst und Falk überhaupt erst ‚erweckt‘ worden zu sein. Weishaupt, Professor für Kirchenrecht in Ingolstadt, war ein politischer Idealist. Und er war auch, aber nicht nur, Experimentalanarchist. Die frühere Forschung hat diese anarchistischen Tendenzen zumindest gelegentlich erwähnt: „Der Anarchismus ist die letzte politische Konsequenz dieser Reformgedanken, die ursprünglich nur Selbsthilfe und Bewahrung einer organischen Gesellschaft gegenüber dem Unvermögen einer staatlichen Zwangsordnung bezweckte“ (Krauss). Im Grunde weiß man, trotz vieler neu erschlossener Quellen, nach wie vor wenig über Weishaupts wirkliches Anliegen. Im damaligen Geflecht von Freimaurergruppen gründete er 1776 einen Orden für Vertreter der Bürger- und Adelselite, der sich schon wenige Jahre später zu einem Bund universeller Menschheitsbefreiung entwickelte: „Illuminaten“. Ziel des Ordens war eine grundlegende geistige Reformation der Menschheit, ihre geistige und damit auch wirkliche Befreiung. Über den Weg zu dieser Befreiung gibt es seit ca. zwanzig Jahren durch Archivfunde (erstmaliger Fund von Abschriften der sog. Großen Mysterien sowie anderer Dokumente in ostdeutschen und Moskauer Archiven) neue Forschungserkenntnisse. Sie belegen die politischen Absichten des Bundes und widerlegen endgültig das Bild von weltfremden geheimbündelnden Schwärmern. Mit Monika Neugebauer-Wölk lässt sich von einem politischen Zwei-Stufen-Modell sprechen. Die durchschnittliche Mitgliederschaft des Ordens – insgesamt wohl 2000-2500 Personen – wurde auf das Ziel konditioniert, eine moralisch gestählte Elite habe durch Unterwanderung die Schlüsselstellen von Staat und Kirche zu übernehmen und diese Institutionen im Sinn von Moral und Vernunft zu leiten. Dies war die archistische, also staatszugewandte Stufe. Letztlich jedoch, und das war eben nur wenigen bereits weit genug eingeweihten elitären Vertretern bekannt, zielte der Bund darüber hinausgehend auf Anarchistisches: nämlich auf die gänzliche Abschaffung von staatlicher Herrschaft und Privateigentum an sich (und kirchlicher Herrschaft ohnehin). Staat würde durch die Tätigkeit des Bundes gänzlich beseitigt werden, weil er sich bei durchgehend sittlicher Lebensführung selbst erübrige. Mit Neugebauer-Wölk: „Entwickelt wird die staatsfreie Utopie, die anarchistisch-harmonische Bürgergesellschaft“. Betreffende textliche Äußerungen sind allerdings spärlich. Geheimwissen sollte und konnte eben nur bedingt kommuniziert werden. Als zentral können die Aussagen von Weishaupts Anrede an die neu aufzunehmenden Illuminatos dirigentes aus dem Jahr 1782 angesehen werden. Darin entwirft er einen dreigliedrigen Geschichtsverlauf: erstens wilde und urtümliche Freiheit und Gleichheit, zweitens menschliche Entzweiung durch Staatsbildung und Eigentum, drittens Wiederkehr der ursprünglichen Harmonie auf höherer und selbstreflexiver – eben aufgeklärter – Kulturstufe. Der jetzige Entfremdungszustand sei ein „Uebel, das mit jeder Staatsverfassung von jeder Form unzertrennlich verbunden, und durch keine Staatskunst zu heilen ist“. Aber er treibt, einem göttlichen Plan der Natur gemäß, über sich hinaus:

Die Vereinigung der Menschen in Staaten ist die Wiege und das Grab des Despotismus; sie ist auch zugleich das Grab und die Wiege der Freyheit. […] Die Natur hat das Menschen Geschlecht aus der Wildheit gerissen, und in Staaten vereinigt: aus den Staaten treten wir in neue klüger gewählte.

Ein nahes Ziel winke: „Fürsten und Nationen werden ohne Gewaltthätigkeit von der Erde verschwinden, das Menschen Geschlecht wird dereinst eine Familie, und die Welt der Aufenthalt vernünftiger Menschen werden“.

Herder: Staat als beschränkter Kulturzustand Die Herder-Rezeption hat viele wechselhafte Phasen durchlebt – unter anderem historistisch, nationalistisch, nationalsozialistisch, sozialistisch. Eine anarchistische allerdings nicht. Aber auch Herder vertrat kulturanarchistische Positionen im Rahmen einer bestimmten Problemstellung. Man kann sich mit diesem Befund einerseits auf seine direkte Fortschreibung von Lessings Ernst und Falk stützen, die 1793 in seinen Briefen zur Beförderung der Humanität erschien („‘Wenn die Menschen nicht anders in Staaten vereinigt werden konnten, als durch jene Trennungen, werden sie darum gut, jene Trennungen?‘ ‘Das wohl nicht‘“). Und man kann sich andererseits auf briefliche Zeugnisse und Nachlassfragente stützen, die belegen, wie sehr Herder aus Furcht vor Zensur zur Selbstzensur griff. Es geht um Passagen seiner Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, insbesondere aus dem 9. Buch, das von Politik und Staaten handelt. Sie erschienen im zweiten Band der Schrift im Jahr 1785, und sie klingen dem ersten Anschein nach ganz gängig despotiekritisch, wie damals üblich. Es waren aber selbstzensierte Passagen. Denn Johann Wolfgang Goethe hatte mit ministerialer Macht den Freund gedrängt, das Anliegen zu kaschieren. Er sorgte sich nämlich um respektwidrige Angriffe auf die seinerzeit regierenden absolutistischen Fürsten. Herder aber ging es im Rahmen seiner Kulturtheorie um solche Zeitbezüge nur am Rande. Vielmehr zielte er auf eine generelle Staatskritik. Mit Rücksicht auf die Warnungen Goethes tilgte er anstößig wirkende Angriffe auf Despoten, damit aber auch die auf den Fetisch Staat an sich. Heute aufgearbeitete Frühfassungen des Texts zeigen, in welche Richtung es hätte gehen sollen. Statt der offiziell abgedruckten Passage, die verharmlosend vom selbstgeschaffenen Bedarf nach ‚Erziehern‘ sprach, die die Zöglinge beständig in Unmündigkeit hielten (sich also auf ein pädagogisches Spezialproblem richteten), hätte es heißen sollen: „so ist es ein böses Kennzeichen der Regierungen, daß sie den größesten Theil der Menschen dahin gebracht haben, um sie jetzt mehr zu bedörfen, als jemals“. Nicht Erzieher halten Zöglinge gezielt in Abhängigkeit, um weiter an ihnen herummanipulieren zu können, sondern Regierungen die Regierten. Mit großem, universalem kulturtheoretischen Bogen hatte Herder ausgeholt: Kultur entspringe aus Natur, sie sei ihre organische Fortsetzung. Vom Reich des Steinernen, des Pflanzlichen über das Tierreich führe der Weg zum Menschen eine Reihe aufsteigender Formen und Kräfte. Die Basis dafür seien Natur, Gesetz, Entwicklung: nämlich Selbstentwicklung des Menschen durch Tätigkeit. Das Hauptziel ist die organische weltgeschichtliche Entfaltung von Individualität: von verschiedenen Menschenrassen, verschiedenen Völkern, verschiedenen Nationen. Und für Individualitäten wie ‚Völker‘ und die ‚Einzelmenschen‘ kann die bloße mechanische Maschine Staat nur ertötend sein: „Jeder Staat als solcher ist eine Maschiene und keine Maschiene hat Vernunft, so Vernunftähnlich sie auch gebauet seyn möge“. Die Natur ist organisch. Auch im Kulturreich müsse es organisch – und nicht mechanisch – zugehen. Und wenn man die Menschen wachsen lässt, wie sie möchten, werden mechanisch einzwängende Staaten von selbst hinfällig und überflüssig. Das ist gewissermaßen die objektive, naturhafte Seite der Entwicklung. Die Natur selbst, und der ihr entwachsene Spross, nämlich die Kultur, kommen geradezu von selbst und geradezu objektiv-gesetzhaft auf die richtige Bahn. Allenfalls kann man, und das wäre die subjektive Seite dieser Sache, als weitsichtiger politischer Machthaber diesen Vorgang befördern: „Der beste Regent ist der, der, so viel er kann, dazu beiträgt, daß Regenten dem Menschengeschlecht einmal (wenn wird es seyn?) völlig unnütz werden“. Spätestens mit der Französischen Revolution, das muss abschließend erwähnt werden, gewannen bei Herder pragmatische Aspekte aber die Oberhand über die generell kulturtheoretischen und kulturkritischen. In den Briefen zu Beförderung der Humanität wurde die Institution Staat nämlich nicht mehr gänzlich verworfen. Sie galt jedoch als Mittel, das sich selbst zu humanisieren habe, nie als Zweck.

Ascher: Neuer Naturzustand und Panarchie Eine strukturell ähnliche kulturkritische Kulturtheorie – d.h. Kultur drängt gewissermaßen naturhaft, objektiv und gesetzmäßig zur Aufhebung von Herrschaft, und zwar auf Basis von Moralität, weniger von Humanität – findet sich beim Berliner Verleger, Buchhändler und Publizisten Saul Ascher. Ihn kennt man heute lediglich als Verfasser von jüdischen Emanzipationsschriften, von anti-antisemitischen Verteidigungsschriften und darüber hinaus als einen Autor, der allen germanischen und teutonischen Nationalismen im Zuge der antinapoleonischen Befreiungskriege scharf entgegentrat. Er war aber originell und provokativ auch als Staatsdenker – bzw. als Anti-Staats-Denker. Dabei erwies er sich (obwohl er durchaus auch Anregungen Herders und der Kantianer aufnahm und eine Synthese aus Herders organologischer Kulturtheorie, Immanuel Kants Moraldenken und Johann Gottlieb Fichtes Willenskult entwarf) als Selbstdenker. Er war kein Anhänger irgendeiner ‚Schule‘. Eigenständig und ohne Scheu vor Konsequenzen trieb er die aufklärerische Staatskritik voran. Sein 1799 bei der Berliner Zensur eingereichtes Manuskript Ideen zur natürlichen Geschichte der politischen Revolutionen wurde vehement zurückgewiesen. Zwei Jahre darauf gelang es dem Autor aber, den Text anonym und ohne Angabe des Druckorts unter einem unverfänglicheren und umständlicheren Buchtitel herauszubringen. In zweiter unveränderter Auflage erschien er 1802 nochmals, nun aber unter dem ursprünglich geplanten Titel. Das Schlagwort ‚natürliche Geschichte‘ verweist auf Herder. Und wahrscheinlich auf Lessings Die Erziehung des Menschengeschlechts und dessen Drei-Stufen-Theorie (Offenbarung, Erziehung, Vernunft) geht Aschers fortschrittsenthusiastische Drei-Stufen-Theorie von Kultur zurück (Sinnlichkeit, Vernunft, Moral). Kultur führt in einer Art von Spiralbewegung zwingend teleologisch zu höherer Vollkommenheit. Am Ende wird der ursprüngliche Ausgangszustand – und hier ist Rousseaus Einfluss deutlich zu spüren – auf vollkommenere Weise wiederholt. Denn aus diesem Zustand wurden die Menschen scheinbar bedauerlicherweise herausgerissen. Eigentum entstand, und Staat und Regierung entstanden, um Eigentumskonflikte zu bemeistern. Das war ein kultureller Weg wie Irrweg gleichermaßen. Von Beginn an gewannen Regierungen ein verwerfliches Eigenleben, und auch sie erlangten ‚Eigentum‘: nämlich über den Staat, über die Gesellschaft und über die Menschen. Folglich waren nicht die Regierungen für die Menschen da, sondern umgekehrt. Das muss und wird aber nicht so bleiben; die Geschichte drängt darüber hinaus, auch über demokratische Regierungsformen („Gründe lassen sich für die größere Rechtmäßigkeit des Wahlsystems keineswegs vorbringen“). Die kommende und noch ausstehende Revolution, die in ein drittes Zeitalter und zurück an den geschichtlichen Ursprungszustand führe, sei die der Sitten. Es erfolgt eine Rückkehr zum Ausgangszustand, dieser befindet sich aber auf kultivierterem und höherem Niveau. All das wird von Ascher keinesfalls widerspruchsfrei entwickelt, methodisch gab es nicht selten Inkonsequenzen. Mitunter wechselte der Gebrauch bestimmter Kategorien wie etwa „Gesellschaft“ oder „Staat“ bei Ascher plötzlich, und mitunter bekundete er auch in rein liberalem Sinn, dass Staaten lediglich „in den Schranken“ festgehalten werden, „die ihnen angewiesen“. Aber wenn darin mitunter der Terminus „Staat“ auch durchaus positiv verwendet wird, nämlich als nicht näher klassifizierte Organisationsform von Gesellschaft, so gelten zumindest das ‚Regieren‘ und das ‚Regiertsein‘ als durchweg unwürdige Zustände. Denn: „Alle Regierungen, habe ich Ihnen bereits bemerkt, gehen nur darauf hinaus, die Freiheit des Genusses, der Meinungen und Handlungen, oder Eigenthum, Religion und Recht nach ihrem Verlangen und zu ihren Absichten zu handhaben“. Die Macht des Fortschritts jedoch ist größer. Wie bei Herder drängt die ganze Kultur geradezu naturhaft zu Herrschaftslosigkeit. Das geschieht gewaltfrei durch Bildung. Und Ascher zufolge arbeite selbst die drückendste Despotie ungewollt auf diesen Zweck hin. Der tatsächliche „Zweck“ auch der jetzigen Regierungen, auch wenn sie es gar nicht wüssten, bestehe ausdrücklich darin, „aller Regierung ein Ende zu machen“. Es winke ein Zustand der „Panarchie“, wie er es an einer Stelle nennt, also der Herrschaft aller.

Hebenstreits herrschaftsfreier Agrarkommunismus Auch in Österreich gab es Aufklärungsströmungen, und nicht nur zu Zeit Josephs II. Wien war eine der wenigen deutschen Städte, in der es einen tatsächlichen Jakobinerzirkel gab. Der Offizier Franz Hebenstreit von Streitenfeld gehörte zu diesem Kreis, war sein radikalster Vertreter. Aber die Bezeichnung Jakobiner für ihn ist irreführend (wie überhaupt diese Kategorie nichts als ein politisches Schlagwort ist und kaum von heuristischem Wert). Er war zwar ein Bewunderer der Französischen Revolution und revolutionärer Gewalt. Aber er war, was ökonomische Aspekte betrifft, aufklärerischer Agrarkommunist, und was politische Aspekte betrifft, aufklärerischer Anarchist. Praktizierende Jakobiner waren bekanntlich das Gegenteil davon, waren Eigentumshüter und Etatisten. In einem Verhör gab Hebenstreit 1794 zu Protokoll, dass das Eigentum „der Keim allen Übels ist“. Und mit dem Eigentum entstehe – ganz Rousseau – der die Menschen knechtende Staat. Die Alternative sah Hebenstreit darin, sich „unserer unveränderlichen Natur“ nicht zu entfernen. Das bedeute, dass sich „der Erwerb sowie der Genuß gemeinschaftlich“ vollziehen müssten. Das Laster sei gebannt, Gesetze und Regierungen nicht mehr nötig. Soweit ein Verhörprotokoll der Wiener Justiz. Dieses Verhör bezog sich u.a. auf ein 540 lateinische Hexameter umfassendes, aufgrund der Hinrichtung Hebenstreits damals nicht erschienenes Lehrgedicht (Homo hominibus). Rousseau war als Mentor klar erkennbar, die Lektüre französischer sozialistischer Utopisten ist wahrscheinlich. Und literarische Einflüsse Hesiods sind zu spüren. Ähnlich wie das Lehrgedicht Werke und Tage des antiken Autors zeichnet der Text nämlich Kulturentwicklung als grundlegenden Kulturverfall. Herder und Ascher diagnostizierten immer auch kulturellen Fortschritt, und sie verschränkten Fortschritte und vorübergehende Rückschritte miteinander. Hebenstreit vertritt einschränkungslos eine Dekadenztheorie. Am Anfang war der Naturzustand: „Der Mensch wird nicht als Sklave, und als Herr wird auch keiner geboren,/ sondern sie alle werden geboren als Kinder , die ganz gleich sind“. Geradezu paradiesisch gestaltete sich das Humanum: „Solange die Sterblichen die Früchte der Erde gemeinsam genossen,/ brauchte man nichts zu verbieten, und kein Genuß war ein Verbrechen./ Die Sprache war lauter, es gab keinen Kerker, keine Majestät./ Keinen Befehl gab es und keine Demutshaltung“. Dann trat jedoch eine Störung ein. Eine erste wichtige Erfindung führte die Menschen dazu, diesen ersten Erfinder zu bewundern. Ihm wurden natürliche Rechte abgetreten, und er hortete Eigentum. Die Büchse der Pandora – damit tritt Hebenstreits Verweis auf Hesiod deutlich zutage – tat sich auf, und ein Gesetz zog das nächste nach sich. Was aber ist zu tun? Die Welt des Eigentums wird immer nur Übel schaffen. Und Gesetze schützen einerseits das Eigentum, andererseits wollen sie den Übeln wehren, die durch Eigentum und Gesetz geschaffen worden sind. Wie lassen sie sich schließlich beseitigen? Die Zeit sei reif für Erkenntnis und Selbsterkenntnis, der entfremdende Kulturzustand komme wieder in den agrarischen Naturzustand: „Dann wird es nur noch einen Ernährer geben und zwar das allen gemeinsame Land; […]./ Der Ertrag wird gemeinsam sein und auch für alle gleicherweise verfügbar“. Kommunismus ist die Lösung, nämlich agrarkommunistisches Gemeineigentum: Gleichheit in Produktion und Konsumption. Das führt zum ursprünglichen status naturalis zurück, das behebt die sozialen Probleme, und das schafft die Laster aus der Welt. Und das schafft die Instanzen aus der Welt, die Eigentum, Armut und Laster permanent am Leben hielten: nämlich Macht, Staat und Gesetze: „die erfahrenen Alten werden dann an der Spitze stehen – und nur als Berater“. Soweit Hebenstreit in seinen anarchistischen Vorstellungen, die letztlich sehr vage und unsystematisch blieben (an wenigen Stellen auch urchristlich argumentieren), die aber, Aufklärung pur, grundsätzlich moralisch motiviert waren. Darin liegt auch ein entscheidender Unterschied zu Herder oder Ascher. Diese bauten auf die Macht der Natur, die Macht der Geschichte, den unaufhaltsamen Selbstlauf des Fortschritts. Hebenstreit baut ausschließlich auf Erkenntnis und Einsicht. Fasst man sein Lehrgedicht und seine Verhöraussagen zusammen, ist zu sehen, dass auch seine kulturellen Zielvorstellungen andere waren: ein moralistisch basierter, vager anarchistischer Kommunismus, und zwar Agrarkommunismus. Zu erwähnen ist, dass Hebenstreit darüber hinaus auf der Schwelle vom Theoretischen zum Praktischen stand, auf der Schwelle zum Revolutionären. Er war 1792 in (freilich komplett illusionäre) Planungen für einen Aufstand gegen die Habsburgermonarchie verwickelt, entwarf einen Kampfwagen gegen Kavallerieattacken und ließ betreffende Pläne nach Frankreich schaffen, um den Schutz dieses Landes gegen ausländische Angriffe zu unterstützen. Ein Denunziant ließ diese Gruppe von Wiener Revolutionsfreunden schließlich auffliegen. Der Offizier Hebenstreit – eine Hinrichtung per Vierteilung stand kurzzeitig im Raum – wurde 1795 wegen „Staats- und Landesverräterei“ in Wien öffentlich gehenkt. Moralrevolutionär, Moralkommunist, Moralanarchist: Die einzige Exekution eines politischen Revolutionärs im Heiligen römischen Reich deutscher Nation.

Knigges und Rebmanns nachjakobinistische Utopien Der Schriftsteller Adolph Freiherr von Knigge, damals bekannt als Freimaurer, Satiriker, revolutionszugewandter Utopiker und erfolgreicher Schriftsteller von Fiktionalreisen, war u.a. auch Fiktionalanarchist. Politisch entwickelte er sich immer mehr zum Pragmatiker, zum Demokaten, zum Republikaner. Er setzte auf Verfassungen und Parlamente, und er verteidigte unbeirrt die Französische Revolution, auch, als ihr parlamentarisches System in tatkräftigen Terrorismus mündete. Er war aber und blieb aber auch ein vorausblickender Utopiker, und Joseph von Wurmbrand […] politisches Glaubensbekenntniß aus dem Jahr 1792 gibt ein unverschlüsseltes Credo. Der fünfte Abschnitt dieses Glaubensbekenntnisses ist überschrieben: „Ob die Welt ohne Staats-Verfassungen und Religions-Systeme bestehen könnte?“. Das ist, rhetorisch gesehen, eine Frage, und die vorläufige Antwort lautet:


Es ist ein herrlicher Traum, den Philosophen geträumt haben, aber es ist auch wohl nur ein Traum, daß einst eine Zeit kommen müßte, wo das ganze Menschengeschlecht mündig geworden seyn, den höchsten Grad von Geistes-Bildung erlangt, zugleich seine moralischen Gefühle auf’s höchste veredelt haben und dann keiner Gesezze mehr bedürfen würde, um weise und gut (denn das ist ja einerley), kurz! um seiner Bestimmung gemäß zu handeln.

Die bisherige Kulturentwicklung spreche zwar gegen diesen anarchistischen Traum. Noch ist Vollendung nicht erreicht, und sie wird in naher Zukunft wohl auch nicht erreicht werden können. Aber ein Fernziel winkt: „daß alle Gesezze und Handhaber der Gesezze da überflüßig sind, wo jedermann den guten Willen hat, Andre in Ruhe zu lassen, damit man seine Ruhe nicht stöhre; daß über Andre zu herrschen ein sehr nichtswürdiger Vorzug ist“. Knigge war ein radikaler Republikaner, der ebenso der Publizist Georg Friedrich Rebmann. Beide durchspielten literarisch und publizistisch nachjakobinische Szenarien. Und auch Rebmann lancierte Anarchismen, wollte die ganze Freiheit und nicht nur die halbierte jakobinisch-staatliche. Nachjakobinismus meint: Taktisch, realpolitisch und tagespolitisch erkennen Autoren wie Knigge und Rebmann die republikanischen Errungenschaften der Französischen Revolution als einen ersten und notwendigen Schritt in eine befreiende Zukunft an. Aber sie waren keine Realpolitiker. Als kritische Intellektuelle durchprobten sie strategisch – und zwar bereits vor der Revolution, aber erst recht nach den terroristischen Konsequenzen der Jakobinerherrschaft – den Status von Nachstaatlichkeit und Nichtstaatlichkeit. 1797 hält Rebmann in seinem Buch Holland und Frankreich, in Briefen geschrieben fest: Meine Republik fängt erst dann an, wenn die Menschheit gar keiner Regierung mehr bedarf, wenn jeder seinen Acker baut oder seine Schuhe macht und sich nicht träumen läßt, daß er mehr tue, wenn er die Leitung der öffentlichen Geschäfte übernehme, als wenn er Schuhe mache. Meine Republik braucht weder Direktorium noch auswärtige Gesandten, noch bleibende Ämter, noch stehende Heere, noch Bankiers, noch Seehandel. Meine Republik besteht darin, daß jeder eine Hütte, einen Acker, ein Weib oder, wenn er lieber will, eine Gefährtin nach der Wahl seines Herzes haben könne […]. Ein Ideal ist damit benannt. Viel deutlicher als Knigge, der seine realistische Skepsis nicht verbarg, wird Rebmann zum anarchistischen Enthusiasten. In einer Passage dieser Reisebriefe gibt er eine Zeitmarke an, wann dieser anarchistische Idealzustand erreicht sein wird. Er versetzt den Leser mittels einer Chronotopie in das Frankreich des Jahres 1896. Zu dieser Zeit, am Ende des 20. Jahrhunderts, sind alle Träume erfüllt. Regierungsgeschäfte gibt es nicht („Wir haben gar keine Regierung“), sondern diese sind in die Verwaltung von Sachangelegenheiten aufgegangen. Etwa einhundert Personen sind dafür genug. Hinzu kommen einige Friedensrichter. Diese Personen sind stets nur für ein Jahr im Amt („weil der Besitz der Gewalt in kurzem auch die besten Bürger verdirbt“). Zwar besteht Privateigentum, aber alles regelt sich im Einklang mit der Natur.

Kantianische Traktate Das einstige Bild der verzögerten und nur halbherzigen deutschen Aufklärung ist in den letzten Jahrzehnten mit Recht korrigiert worden, u.a. auch durch die Jakobinismusforschung. Ein Interesse, anarchistische Implemente der deutschen Aufklärung herauszuarbeiten, hatte diese Jakobinerforschung allerdings nicht. Solche Implemente fanden sich nicht nur in der Literatur und nicht nur in politischer Publizistik, sondern auch im damaligen akademisch-philosophischen und akademisch-politischen Diskurs. So schmetterte der Kantianer Johann Gottlieb Fichte an der Universität Jena der akademischen Jugend anarchistische Statements entgegen (und er machte sie 1794 in seinen Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten) öffentlich: „Das Leben im Staate gehört nicht unter die absoluten Zwecke des Menschen […]. Der Staat geht, eben so wie alle menschliche Institute, die bloße Mittel sind, auf seine eigene Vernichtung aus: es ist der Zweck aller Regierung, die Regierung überflüßig zu machen“. Als Schlüsselphase für solche anarchistischen Debatten – d.h. experimentalanarchistische Debatten – im Umfeld Kants kann die Zeit Mitte der neunziger Jahre angesehen werden. Kants 1795 veröffentlichte Schrift Zum ewigen Frieden erschien einigen Zeitgenossen als viel zu zahnlos. Denn staatlichen Zwang hatte er aufgrund der geradezu angeborenen und grundsätzlichen Bosheit der Menschennatur ausdrücklich auf ewig für notwendig erachtet. Immerhin schwang er sich zu der für einen Universitätsprofessor nicht selbstverständlichen Hypothese auf, dass die monarchische Regierungsform nicht als das Endziel der Geschichte anzusehen sei. Nicht alle radikalen Aufklärer begnügten sich mit solchen vagen Vermutungen. Friedrich Schlegel reagierte auf Kants Vorlage 1796 mit seinem Versuch über den Begriff des Republikanismus. Darin hielt er politisch-programmatisch fest: „Das Einzelne und das Allgemeine ist überhaupt durch eine unendliche Kluft voneinander geschieden“; folglich beruhe jeder Staat auf „Herrschaft und Abhängigkeit“. Gerade deshalb hielt Schlegel es zu dieser Zeit für möglich, dass, im Sinn einer regulativen Idee und eines utopischen Ziels das „Gegenteil“ denkbar sei. Radikaler als Schlegel argumentierte Adam Bergk, ein sächsischer Kantianer und Publizist (der nie eine Universitätskarriere machte und nie öffentliche Ämter bekleidete). Er war kompromissloser Demokrat und Republikaner. Seine 1796 anonym erschienenen Untersuchungen aus dem Natur-, Staats- und Völkerechte machen deutlich, dass die Errungenschaften der französischen Verfassungen der Revolutionszeit nicht mehr zu hintergehen sind. Vielmehr müsse über sie hinausgegangen werden. Denn als Bürger gelte man diesen demokratischen Verfassungen zufolge nur ab einem bestimmten Einkommen oder Grundbesitz. Diese undemokratische Einschränkung zeige sich auch in den „Vereinigten Staaten“: „Selbst die nordamerikanischen Freystaaten sind keine vollkommenen Demokratien, weil man dem Grund- und Geldeigenthümer Vorzüge vor andern Einwohnen zugestanden hat“. Staaten in der bisherigen Form, auch demokratische, schützen also im Prinzip Privilegien. Und überhaupt sind sie, als Zwangseinrichtungen, perspektivisch abzuschaffen (aber offenbar nicht das Privateigentum). Für dieses Ziel der Abschaffung jeden Staats entwirft Bergk ein Zwei-Stufen-Modell. Für die Gegenwart ergebe sich das Erfordernis politischer Demokratie auf Basis des Repräsentativsystems. Dieses demokratische Staatssystem sei aber nur ein Durchgangsstadium. Demokratien müssten durch Aufklärung und Erziehung gezielt darauf hinarbeiten, zukünftig sich und jeden Staat abzuschaffen: „Die Vernunft bestimmt also dem Staate den Untergang, sobald der Mensch moralisch mündig ist und sich allein regieren kann“. Diesen staatenlosen Zustand ist der wahre Naturzustand, d.h. der Zustand, der der vervollkommneten menschlichen Natur angemessen sei. Der Naturzustand habe nicht – wie bei Rousseau und anderen – vor der Geschichte gelegen, sondern liege an ihrem Endziel, auch wenn er stets nur annäherungsweise erreicht werden kann: „Der Naturzustand des Menschen geht nicht etwan der bürgerlichen Gesellschaft voraus – er ist daher kein geschichtlicher – sondern er ist eine Aufgabe der praktischen Vernunft, die soll gelöset und seine Wirklichkeit durch Freyheit in die Sinnenwelt eingeführt werden“. Ein Jahr später, 1797 hielt der unter einem Pseudonym auftretende Johann Gottlob Heynig – zwei Jahre zuvor war er wegen religions- und staatskritischer Auffassungen von der Universität Jena relegiert worden – in einer als Fortsetzung zu Kant deklarierten Schrift Immanuel Kants philosophischer Entwurf zum ewigen Frieden ausdrücklich fest: „Denn über Euer Leben hat niemand zu gebiethen, über euren Zustand niemand zu herrschen. Ihr seyd freye, unabhängige Menschen, die mit der ganzen Welt in Friede und Freundschaft leben“. Das war naturrechtlich radikal, weil es nicht, wie bei Bergk, den Menschen, sondern das Individuum ins Zentrum stellte. Heynig, zeitlebens ein unangepasster, von Ort zu Ort getriebener Publizist, der ein bis heute nicht aufgearbeitetes umfangreiches philosophisches und publizistisches Werk hinterlassen hat, stellte nicht mehr nur die Gemeinschaft in den Mittelpunkt. Vielmehr bezog er naturrechtliche Vorgaben direkt und gezielt auf das Individuum: „Jeder Mensch ohne Ausnahme soll und muß sich als ein freyes, selbständiges Wesen betrachten, das beständig um sein selbst willen und niemals für andere da ist“. Er unterstellte nicht nur ein Recht auf freiheitliche Individualität, sondern geradezu eine Pflicht: „Wer von seinen Rechten etwas abgeben wollte, der müßte sein eignes Wesen vermindern und sich selbst zerstöhren“.

Kants neue Begrifflichkeit Kant blieb zeitlebens Etatist. Der Staat war ihm ein notgedrungenes Erfordernis. Den Grund dafür hatte er immer wieder klar benannt: Das grundsätzlich ‚Böse‘ der menschlichen Natur, das nur durch Herrschaft zu bezähmen sei. Aber nach und nach emanzipierten sich die ihm mehr oder weniger verpflichteten Kantianer von ihm: zum Beispiel Fichte, Schlegel, Bergk, Heynig. Sie hielten Herrschaftslosigkeit grundsätzlich für möglich – und für nötig. Wie reagierte er darauf? Seine letzte große Schrift Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) bleibt sich treu. Um überleben zu können, braucht der von Natur aus aggressive Mensch den Zwangskäfig Staat. Kant rückt von seinem pessimistischen Menschenbild also nicht. Was er aber in entscheidender Weise änderte, waren die Begrifflichkeiten. Seine Schüler oder Anhänger hatten das Konzept geändert: Der Mensch ist gut bzw. wird gut. Der Abschied vom Staat ist grundsätzlich erstrebenswert und möglich. Er hingegen änderte in höchst entscheidender Weise den Begriff. Sie träumten von harmonischer Herrschaftsfreiheit. Er glaubte nicht an diesen Traum, gab ihm aber einen sympathischen Namen: Anarchie. Seit den staatstheoretischen Debatten der Frühen Neuzeit stand Anarchie für Chaos und Gewalt. Der Begriff war eine Allzweckwaffe. Demokratie, Pöbelherrschaft oder Herrschaftslosigkeit: all das konnte als ‚Anarchie‘ gebrandmarkt werden. Kant veränderte zugunsten der rebellischen Schüler den Begriff und schenkte diesen in seinen Augen völlig abgehobenen Idealisten einen neuen Terminus. „Anarchie“ sei nichts anderes, als „Gesetz und Freiheit, ohne Gewalt“.

Forschungsliteratur und Quellen (in thematischer Reihenfolge)

Methodischer Rahmen -Frank Baudach: Planeten der Unschuld – Kinder der Natur. Zur Naturstandsutopie in der deutschen und westeuropäischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer 1993 -Werner Krauss: Über die Konstellation der deutschen Aufklärung. In: W. K.: Das wissenschaftliche Werk. Hg. Manfred Naumann. Bd. 7.III. Berlin, New York: De Gruyter 1996, S. 5-99 -Olaf Briese: Aufklärerischer Anarchismus. Die verdrängte Tradition des 18. Jahrhunderts. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 41.1 (2016), S. 41-91

Christian Gottlieb Priber -[William] Knox Mellon, Jr.: Christian Priber’s Cherokee „Kingdom of Paradise“. In: The Georgia Historical Quarterly, 58.3 (1973), S. 319-331 -Ursula Naumann: Pribers Paradies. Ein deutscher Utopist in der amerikanischen Wildnis. Frankfurt/M.: Eichborn 2001 -Marin Trenk: Königreich Paradies. Christian Gottlieb Priber, ein Utopist aus Sachsen bei den Cherokee. In: Historische Anthropologie, 9.2 (2001), S. 195-213 -Michael Schlott: Utopia Lusatica. Christian Gottlieb Priber (1697-1745): friend to he natural rights of mankind. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte, 106.1 (2012), S. 61-96 -Priber Sommer Zittau 2016. Hg. Peter Knüvener. Görlitz: Gunter Oettel 2017 (Zittauer Geschichtsblätter, 53) -Olaf Briese: Christian Gottlieb Pribers Plan einer grundsätzlich herrschaftsfreien Gesellschaft. Quellen aus den Jahren 1734-1775. Mit einem neuen Fund. In: Ne znam. Zeitschrift für Anarchismusforschung, 3 (2017), H. 5, S. 111-160

Gotthold Ephraim Lessing -Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973 -Peter Michelsen: Die „wahren Taten“ der Freimaurer. Lessings „Ernst und Falk“. In: P. M.: Der unruhige Bürger. Studien zu Lessing und zur Literatur des 18. Jahrhunderts. Würzburg: Königshausen & Neumann 1990, S. 137-159

Johann Adam Weishaupt -Reinhart Koselleck: Adam Weishaupt und die Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie in Deutschland. In: Tijdschrift voor de Studie van de Verlichting, 4 (1976), S. 317-327 -Monika Neugebauer-Wölk: Die utopische Struktur gesellschaftlicher Zielprojektionen im Illuminatenbund. In: M. N.-W./Richard Saage (Hg.): Die Politisierung des Utopischen im 18. Jahrhundert. Vom politischen Systementwurf zum Zeitalter der Revolution. Tübingen: Niemeyer 1996, S. 169-197 -W. Daniel Wilson: Illuminatenideologie: Revolution, Anarchie oder aufgeklärter Absolutismus? Mit vorläufigen Ergebnissen aus der „Schwedenkiste“. In: Helmut Reinalter (Hg.): Der Illuminatenorden (1776-1785/87). Ein politischer Geheimbund der Aufklärungszeit. Frankfurt/M. u.a.: Lang 1997, S. 281-304

Johann Gottfried Herder -Wulf Köpke: Der Staat – die störende und unvermeidliche Maschine. In: Regine Otto (Hg.): Nationen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders. Würzburg: Königshausen & Neumann 1996, S. S. 227-238

Saul Ascher -Walter Grab: Saul Ascher. Ein jüdisch-deutscher Spätaufklärer zwischen Revolution und Restauration. In: Ders.: Ein Volk muß seine Freiheit selbst erobern. Zur Geschichte der deutschen Jakobiner. Frankfurt/M. u.a.: Büchergilde Gutenberg 1984, S. 461-493 -William Hiscott: Saul Ascher. Berliner Aufklärer. Eine philosophiegeschichtliche Darstellung. Hg. Christoph Schulte/Marie Ch. Behrendt. Hannover: Wehrhahn 2017

Franz Hebenstreit -Alfred Körner: Die Wiener Jakobiner. „Homo hominibus“ (Franz Hebenstreit): Übersetzung und Kommentar von Franz-Josef Schuh. Stuttgart: Metzler 1972 -Helmut Reinalter: Die Gesellschaftsutopie des Wiener Jakobiners Franz Hebenstreit und der Jesuitenstaat in Paraguay. In: M. N.-W./Richard Saage (Hg.): Die Politisierung des Utopischen im 18. Jahrhundert. Vom politischen Systementwurf zum Zeitalter der Revolution. Tübingen: Niemeyer 1996, S. 198-212

Adolph Freiherr von Knigge und Georg Friedrich Rebmann -Christian Wirth: Der Jurist Johann Andreas Georg Friedrich Rebmann zwischen Revolution und Restauration. Frankfurt/M. u.a.: Lang 1996 -Elmar Wadle/Gerhard Sauder (Hg.): Georg Friedrich Rebmann (1768–1824). Autor, Jakobiner, Richter. Sigmaringen: Thorbecke 1997 -Ingo Hermann: Knigge: Die Biographie. Berlin: Propyläen-Verlag 2007

Kantianische Traktate -Vanda Fiorillo: Die politische Revolution als moralische Pflicht im jakobinischen Kantianismus von Johann Adam Bergk. Leipzig: Leipziger Universitäts-Verlag 2001 (= Leipziger Juristische Vorträge, 48) -Anita Jeske: Demokratisches Denken im Zeichen des monarchischen Konstitutionalismus. In: Dies. (Hg.): Johann Adam Bergk: Entwurf zu einer Verfassung für das teutsche Reich und andere Schriften über die Anfänge des Konstitutionalismus. Freiburg, Berlin, München: Haufe, 2001, S. 183-213 (mit Bibliographie: S. 242-257) -BP: Bergk, Johann, Adam (1769-1834). In: The Dictionary of Eighteenth-Century German Philosophers, ed. by Heiner F. Klemme/Manfred Kuehn. London, New York 2010: Continuum, S. 97f. -Olaf Briese: Experimentalanarchismus. Facetten politischen Denkens in der Frühromantik, in: Wirkendes Wort. Deutsche Sprache und Literatur in Lehre und Forschung, 67 (2017), S. 363-380