Jörg-Anselm Asseyer - Gedenkseite
Jörg-Anselm Asseyer ist tot
Am 7. Januar 2017 ist unser Freund und Weggefährte Jörg-Anselm Asseyer im Alter von 68 Jahren an einer Hirnblutung gestorben. Asseyer, geb. am 30. März 1948 in Berlin, hat seit Ende der 1960er Jahren als Autor, Übersetzer, Lektor und Buchhändler zahlreiche Projekte der neuen anarchistischen bzw. antiautoritären linken Bewegung unterstützt.
Sein Tod macht uns traurig.
Wer seine Erinnerungen an Jörg-Anselm Asseyer mit uns teilen möchte, kann sie auf der Diskussions-Seite veröffentlichen. Wir übernehmen dann die Texte hier auf die Jörg-Anselm Asseyer-Gedenkseite.
Falls jemand Probleme mit dem Schreiben auf der Diskussions-Seite haben sollte, der kann uns seinen Text und gerne auch Fotos zur Veröffentlichung auf der Gedenkseite per E-Mail schicken an: redaktion@dadaweb.de.
Jochen Schmück
Redaktion DadAWeb.de
Inhaltsverzeichnis
Erinnerungen an Jörg-Anselm Asseyer. Von Jochen Schmück
Dieser Tage habe ich erfahren, dass am 7. Januar 2017 Jörg-Anselm Asseyer gestorben ist. Er war niemand, der sich in den Vordergrund gedrängt hat, aber er hat seit Ende der 1960er Jahren als Autor, Übersetzer, Lektor und Buchhändler zahlreiche Projekte der neuen anarchistischen bzw. antiautoritären linken Bewegung unterstützt.
Geboren wurde Jörg-Anselm Asseyer in Berlin am 30. März 1948 als zweites von neun Kindern der protestantischen Pfarrersfamilie von Klaus und Marianne Asseyer. Nach dem Abschluss seines Abiturs 1967 auf einem altsprachlichen Gymnasium studierte er an der Freien Universität Berlin Geschichte und Politik.
Sein Studium fiel in die Zeit als die antiautoritäre Studentenrevolte in West-Berlin ihren Höhepunkt erlebte. Jörg-Anselm schloss zwar 1973 das Studium mit dem 1. Staatsexamen und einem anschließendem einjährigem Studienreferat ab, jedoch Lehrer wollte er nicht werden. Stattdessen war er ab Mitte der 1970er Jahre bis 1982 in Westberlin in verschiedenen linken Projekten aktiv, so in der Buchhandlung "Buchladenkollektiv" am Savignyplatz, die zu der Zeit eine der wenigen linken Buchhandlungen in der Westberliner Innenstadt gewesen ist. Als Übersetzer, Lektor und Autor unterstützte er einige libertäre Verlage, so den Karin Kramer Verlag, den Verlag der Mackay-Gesellschaft und auch den Verlag Büchse der Pandora. Doch einen Lebensunterhalt konnte er mit diesen Tätigkeiten schlecht bestreiten. Deshalb war er ab Mitte der 1980er Jahre – zumeist im Rahmen von zeitlich befristeten ABM-Jobs – u.a. als Archivar, Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter in kommunalen oder auch kirchlichen Einrichtungen tätig.
Ich habe Jörg-Anselm Asseyer Ende der 1970er Jahre im Umfeld des Karin Kramer Verlages kennengelernt als ich mit meinem Freund Rolf Raasch und meinen beiden Brüdern Christian und Thomas den Libertad Verlag aufgebaut habe. Er hat uns damals als Buchhändler beim Vertrieb unserer ersten Verlagspublikationen sehr unterstützt. Aber auch persönlich hat er mich als gewissenhafter Korrektor meiner 1986 an der FU Berlin im Fachbereich Kommunikationswissenschaften/Publizistik eingereichten Magisterarbeit über den deutschsprachigen Anarchismus und seine Presse unterstützt, welche den Grundstock für das später entstandene Projekt „Datenbank des deutschsprachigen Anarchismus (DadA)“ bildete.
Wir haben uns dann allmählich aus den Augen verloren. Nur einmal noch habe ich ihn - ich meine entweder kurz vor oder nach der Jahrtausendwende - getroffen, als ich ihn mit meiner Lebensgefährtin Angelika besucht habe, um einige Kisten mit undogmatisch linken bzw. anarchistischen Zeitschriften bei ihm abzuholen, die er dem Archiv des DadA-Projektes schenken wollte. Er lebte damals in einer kleinen Parterrewohnung in einer Seitenstraße des Hermannplatzes in Berlin-Neukölln und er bereitete sich auf das Rentenalter vor. Wir haben von den alten Zeiten geredet als wir noch jung und voller Hoffnung gewesen waren. Er erzählte uns auch von seinem Stress mit dem Arbeitsamt und wie er sich sein Leben als Rentner vorstellte, aber auch von seiner Leidenschaft für klassische Musik und wie sehr er seine regelmäßigen Besuche von Konzerten klassischer Musik genoss.
Danach habe ich ihn nicht mehr getroffen. Dass er noch lebte und auch noch in libertären Kreisen aktiv war, habe ich nur noch dadurch gesehen, dass ich gelegentlich über seinen Namen als Übersetzer in libertären Veröffentlichungen (wie z.B. in den von Wolfgang Eckhardt herausgegebenen „Ausgewählten Schriften“ von Michail Bakunin) gestolpert bin.
Nach Auskunft seiner Geschwister verschlechterte sich der Gesundheitszustand von Jörg-Anselm seit 2011 schrittweise. Er musste sich mehreren Krankenhausaufenthalten und Reha-Maßnahmen unterziehen. In den letzten zwei Jahren reichte die häusliche Pflege nicht mehr aus, er musste in ein Pflegeheim umziehen. Die Aufgabe seiner kleinen Wohnung sowie die Trennung von seinen geliebten Klassikschallplatten und einem beträchtlichen Teil seiner umfangreichen Bibliothek schmerzten ihn sehr. Die Unselbständigkeit und Hilflosigkeit im Heim waren für ihn schwer zu ertragen. Gestorben ist er am 7. Januar 2017 im Alter von 68 Jahren an einer Gehirnblutung.
Ich habe Jörg-Anselm Asseyer als einen überaus liebenswerten, sensiblen und hilfsbereiten Menschen erlebt, und ich bin traurig zu erfahren, dass er von uns gegangen ist.
Jochen Schmück
Potsdam, den 28. Januar 2017
Ein rarer Feingeist. Von Wolfgang Eckhardt
Anfang der 1990er Jahre war mir Jörg als ausgezeichneter Lektor empfohlen worden und da ich nicht weit von der Neuköllner Lenaustraße entfernt wohnte, in der er über Jahrzehnte gelebt hat, kamen wir bald zusammen. Rein geschäftsmäßiges hat uns jedoch nie verbunden, sondern die Sympathie und gemeinsame Interessen. Im Gegensatz zum Typ Wichtigtuer, der gern als ach so kultivierter Intellektueller posiert, war Jörg ein wahrhaft kultivierter Mensch und intellektuell bis in die Zehenspitzen, aber ohne jeden Dünkel. Er war diversen Verästelungen der anarchistischen Philosophie nachgegangen, den Beziehungen zwischen Constantin Brunner und Gustav Landauer etwa, der Authentizität der Anarchismus-Bezüge von Ernst Jünger, der libertären Dimension im Denken Karl Korschs, dem »paulinischen« Marxismus Matticks usw.; daneben widmete er sich seiner ungeheuren CD-Sammlung mit klassischer Musik, verfügte über ein Jahrzehnte währendes Konzert-Abo und eine ausgesuchte Bibliothek. An seine Mitarbeit bei den Zeitschriften ›Die Soziale Revolution ist keine Parteisache‹ und ›Schwarze Protokolle‹ in den 1970er Jahren schloss sich sein Engagement beim libertären Verlag ›Büchse der Pandora‹ (Wetzlar) und im Berliner Buchladenkollektiv am Savignyplatz.
In zahllosen gemeinsamen Konzertbesuchen und Kneipendiskussionsrunden habe ich seine Gesellschaft und Hilfsbereitschaft genossen. Da er nicht viel Aufhebens darum machte, konnte man ihn leicht unterschätzen, ihm war jede Form von Selbstvermarktung zuwider und so wurde ihm nichts geschenkt. Seine Anstellung als Lektor, Übersetzer usw. bei der ›Büchse der Pandora‹ dauerte leider nur wenige Monate und als der Buchladen am Savignyplatz in wirtschaftliche Schieflage geriet, musste er das Kollektiv verlassen – die finanziellen Probleme des Ladens resultierten übrigens seinen Worten zufolge aus dem verbreiteten Ladendiebstahl, der vom Buchladenkollektiv nicht angezeigt wurde; dabei seien überwiegend »Linke« in Uni-Jobs in flagranti erwischt worden, die durch einen gefahrlosen Buchklau wohl ihre revolutionäre Militanz auszudrücken glaubten. Zum Schaden von Jörg, der sich nun arbeitslos gegen Bürokraten zur Wehr setzen musste.
Wenn ein Gradmesser für die Güte einer Gesellschaft darin besteht, alle Kompetenzen ihrer Mitglieder »abzuholen«, sie zu ermutigen und ihnen Raum zu geben, so hat die real-existierende Bürokratie an Jörg wieder einmal ihre Niedertracht bewiesen – sie hat ihm prekäre ABM-Jobs »geboten«, die ihn kaum aus dem Dispo holten, und verpflichtete ihn zu einer Tätigkeit in der Berliner Tourismusinformation, wo sich schon mal US-Touristen erwartungsfroh erkundigten, ob es während ihres geplanten Besuchs im KZ Oranienburg auch Hinrichtungen gebe ... Ende 2006 konnten wir endlich auf seinen »Arbeitslosenvorruhestand« anstoßen; seine Bescheidenheit blieb aber so ausgeprägt, dass alle Anregungen ins Leere liefen, seine weitgespannten Interessen und Kompetenzen weiter auszuarbeiten, zu vertiefen, zu veröffentlichen.
In den letzten Jahren wurden seine Kreise immer kleiner: Als er es nicht mehr zum Griechen schaffte, nahmen wir unsere Biere in seiner Bude ein, im Pflegeheim schließlich war er zeitweise schrecklich abgemagert und kaum noch mobil – scherzte aber mit den Pflegern und spendete großherzig viele seiner Bücher der ›Bibliothek der Freien‹. Andere Bücher packte er beiseite, die er zu seiner unverzichtbaren Handbibliothek erklärte oder noch studieren oder wiederlesen wollte. Aus all dem wurde er durch den plötzlichen Schlaganfall mit Hirnblutung grässlich herausgerissen – zugleich haben wir damit einen raren Feingeist verloren. Da ein Großteil seiner Studien unveröffentlicht blieb, werden sich seine Geschwister hoffentlich um einen guten Aufbewahrungsort für seine Papiere kümmern. Seine veröffentlichten Beiträge und Artikel, die einmal gesammelt erscheinen sollten, haben jedenfalls weder ihre Inspirationskraft noch ihre analytische Klarheit verloren – seine Freunde und alle Interessierten an der Materie werden ihm weiterhin Dank dafür wissen.
Wolfgang Eckhardt
Erinnerungen an Jörg-Anselm Asseyer. Von Meinhard Creydt
Mein Kontakt mit Jörg-Anselm Asseyer war nicht intensiv. Michael Ewert aus München, zu dem ich nach Lektüre zweier seiner mich beeindruckenden Texte (1974 und 2001) Kontakt aufgenommen hatte, sagte mir vor vielleicht 12 Jahren, dass ich mir ein Exemplar eines neuen, infolge von Seltsamkeiten des Verlages nur in wenigen Exemplaren erschienenen Bandes von ihm bei Jörg-Anselm Asseyer abholen könne. Ich war zufällig in der Gegend des Kottbusser Dammes und klingelte ohne vorherige "Anmeldung" bei der angegebenen Adresse, einer Querstraße.
Wie erstaunt war ich, als mir die Tür geöffnet wurde. Ich sah den Buchhändler aus dem linken Buchladen am Savignyplatz wieder. Dort erstand ich als junger Student Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre regelmäßig geistige Nahrung. Jörg-Anselm Asseyer war mir damals nicht nur dadurch aufgefallen, dass er im Buchhandelskollektiv der älteste war. Eine Situation war mir gut in Erinnerung geblieben: Ich hatte auf das Hitler-Buch von Sebastian Haffner gezeigt und Asseyer gegenüber eine flapsige Bemerkung nachgesprochen, die ich vorher in einer linken Zeitschrift aufgeschnappt hatte. Asseyer machte mir daraufhin auf eine ruhige Art und mit einer Autorität, die nicht von von oben herab kam, klar, dass das Buch durchaus lesenswert sei und abfälliges „Einordnen“ ohne substanzielle Kenntnis niemand etwas bringe, mir auch nicht. Viel später habe ich dann die Zeitschrift „Die Revolution ist keine Parteisache“ (aus den frühen 1970er Jahren) zur Kenntnis genommen und den dort zu findenden Namen von Asseyer nicht in Verbindung gebracht mit meiner Begegnung im Buchladen. Ebenso verhielt es sich bei der Lektüre der wenigen mir bekannten Texte von Asseyer. Die Gedanken und der Stil gefielen mir sehr. Asseyer trug nicht wie viele andere einen eitlen Stilwillen vor sich her. Mein Eindruck war: Der Stil seiner Aufsätze kam aus seinem eigenen Zugang zur Sache und aus ihrem Durchgearbeitethaben. Seinen Aufsatz über „paulinischen Marxismus“ (in „Hiebe unter die Haut. Kritik an normalen Zuständen & konjunkturbewussten Zeitgenossen; ein Schlüsselbuch für die Erkenntnis vieler falscher Grössen der Gegenwart“) habe ich in den letzten 30 Jahre mehrfach gelesen. Ich erinnere mich auch an Jörg-Anselm Asseyers Text zu Ernst Jünger (Herr und Anarch. Ernst Jünger – Vom Verhaltensfaschisten zum Edelanarchisten? In: Nur die Phantasielosen flüchten in die Realität. Anarchistisches Ja(hr)buch I, Karin Kramer Verlag, (West-)Berlin 1983).
Mehr als zwanzig Jahre später nach der ersten Begegnung mit Jörg-Anselm Asseyer saß ich nun in seiner kleiner Parterrewohnung in einem länglichen Raum, in dem sich auf der einen Seite ein Bücherregal mit einigen Buchraritäten und auf der anderen Seite ein Regal mit Platten und CDs befand. Das Gespräch ging hauptsächlich um eine dem Denken von SEW, K-Gruppen und Trotzkisten gegenüber kritische und dem Akademismus gegenüber abgeneigte, aber theorie-affine Berliner Szene der frühen 1970er Jahre, die sich in der genannten Zeitschrift und in den ersten (von ihm sehr geschätzten) 5, 6 Nummern der „Schwarzen Protokolle“ artikulierte. Asseyer zeigte mir auch alte Bände (zwischen 1890 und 1930) zur Spinoza-Rezeption, die ihn beschäftigten. Ich empfand es als zutiefst ungerecht, dass so viele „konjunkturbewusste Zeitgenossen“ der damaligen bewegten Jahre mittlerweile zu „falschen Größen“ geworden sind und Asseyer in Armut existiert. Ich habe ihn später noch einmal besucht. Der Kontrast zwischen der Atmosphäre in Asseyers Stube und der ja ohne Treppendistanz fast unmittelbar erreichbaren Straße fiel mir auf. Telefonieren war ihm eher zu überfallartig. So habe ich ihm ab und an mal Texte gemailt. Und ihm zuletzt im Dezember 2016 meinen Band „Der bürgerliche Materialismus und seine Gegenspieler“ offeriert. Er wollte ihn haben, und ich habe ihn verschickt. Er schrieb, „er sieche“ im Pflegeheim „so dahin“. Ich nahm mir vor, ihn zu fragen, ob ihm ein Besuch recht sei. Dazu ist es nicht mehr gekommen.
Meinhard Creydt
RIP lieber Jörg. Von Hansjörg Viesel
Als ich Anfang der 70er Jahre eine Veranstaltung an der TU über "Rätekommunismus" machte, war der Anarchist und Rätekommunist aus der Lenaustraße mit dabei.
Zuvor kannten wir uns aus der Studentenbewegung, aus den Sitzungen der Zeitschriften Schwarze Protokolle und der Sozialen Revolution (die keine Parteisache sein sollte). Long ago.
Er besuchte mich oft in meinem Antiquariat in Friedenau und vergaß nie, Kranzkuchen von der Bäckerei mitzubringen, er schaute dann bei der Schachrunde zu, die gerade lief oder wir spielten - neben dem Geschäft - selbst eine Runde. Später dann spielten wir fast täglich ein email-Schach, ich erinnere mich, daß er von über 150 Partien bis auf zwei ALLE gewann, ich kam erst spät drauf, daß er auf seinem PC ein Schachprogramm hatte, denn bei Spielen direkt gewann ich halbe halbe.
Dann hatten wir auch eine Skatrunde, die öfters tagte, auch mit Essen und üppig trinken und ausführlich quatschen. Bei meinen Besuchen im Pflegeheim brachte ich ihm immer zwei Flaschen Bier mit, das stellten wir dann ein, weil sein Bier aus dem Gemeinschaftskühlschrank zu oft verschwand, obwohl sein Name drauf stand.
Es waren auch sonst harte zwei Jahre. Jörg blieb im Zimmer, legte keinen Wert auf den Gemeinschaftsraum, er las und las, später auch mehr TV. Besonders Sport.
Jeder von uns hatte seine Ligamannschaft, er Mönchen Gladbach, die Fohlen, ich den SC Freiburg als Lokalpatriot. Wenn sie dann zweimal in der Saison gegeneinander spielten, einigten wir uns auf unentschieden, geklappt hat es jedoch selten.
Er hat es schwergehabt in seinem Leben, aber es tapfer durchgehalten. Einmal planten wir mit ihm einen gemeinsamen Urlaub in den Schwarzwald, als wir dann in der Katzbachstraße klingelten, machte er nicht auf ...
RIP lieber Jörg
Hansjörg Viesel
Leb' wohl, mein Lieber . . . Von Michael Ewert
Meine Gedanken an Jörg führen mich zurück in die 1960er Jahre. Sie waren, wie man wohl sagen kann, eine bewegende Zeit. In Erinnerung bleibt eine traumhafte Selbstverständlichkeit, das Alte hinter sich zu lassen, zu neuen Ufern zu streben und in den emphatischen Worte Hegels zur Französischen Revolution diese "Morgenröte einer schönern Zeit" zu begrüßen: "Es war […] ein herrlicher Sonnenaufgang. Alle denkenden Wesen haben diese Epoche mitgefeiert. Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschauert, als sei es zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst gekommen." Das hielt nicht lange an. Ob-La-Di, Ob-La-Da trug souverän den Sieg davon über Waiting for the Man, schunkelte bis in den Musikunterricht und fügte dem Mißbrauch Abhängiger eine weitere Note hinzu. Sister Ray (ebenfalls von Velvet Underground) war chancenlos gegen Angie und Ruby Tuesday.
Sehr schnell wurde jeder Ansatz einer Gefährdung gesellschaftlicher Strukturen verdrängt. Man kaprizierte sich auf die Bedeutung von Attitüden, Mentalitäten und Konventionen. Da sie mit der Weiterentwicklung von Herrschaftsstrukturen ohnehin einem permanenten Wandel unterworfen sind, war es eine gute Gelegenheit für Karrieristen, sich hier einzuklinken. Gerade jene Aufsteiger, die dem Charakter des Rebellen als moralischen Bankrotteur am nächsten kamen, beschränkten sich, unterstützt von den Medien, auf jene Punkte, die macht-, konsum- und marktkonform waren.
Rebellen stehen zur Herrschaft ebenso in symbiotischen Bindungen wie zu machtlosen Schichten. Sie brauchen diese, solange sie von der Herrschaft ausgeschlossen sind, der sie sich, sind sie endlich akzeptiert, problemlos anschließen werden. Man kann ihnen nicht einmal Verrat vorwerfen, denn sie bleiben ihren autoritären Überzeugungen treu. Von daher ist es verständlich, wie viele der früh als Pragmatiker gefeierten Grüne ihr politisches Handwerk bei stalinistischen Kaderorganisationen lernten oder als "Spontis" auffielen, deren verbale oder tatsächliche Gewalttätigkeit nach einem Bonmot von Noam Chomsky ein sicherer Hinweis auf ihren bei passender Gelegenheit vollzogenen Wechsel an die Schaltstellen der Macht war (denken wir an Kretschmann, Vollmer, Volmer, Trittin, Bütekofer, Fücks, Koenen, Sager, Nachtwei, Schmierer, Fischer, Cohn-Bendit, etc., etc). So schwanden alle Hoffnungen . . .
Gegen diesen Konformismus gegenüber Machtapparaten stellte sich eine Geschichte der Arbeiterbewegung, deren revolutionärer Charakter zum Ausdruck kam in einer Kritik der politischen Ökonomie, wie sie von Paul Mattick im Laufe jahrzehntelanger Auseinandersetzungen dargelegt wurde. Seine Schriften (sowie generell Vorstellungen von Rätekommunismus, Anarchosyndikalismus oder Anarchismus) wurden in Deutschland wohl zuerst von einer Gruppe verbreitet, die eine Zeitschrift mit dem Namen "Die Revolution ist keine Parteisache" herausbrachte. Neben Hansjörg Viesel war einer der Herausgeber Jörg Asseyer. So lernten wir uns kennen.
Es muß 1969 oder 1970 gewesen sein. Ich arbeitete (in München) als Werkstudent bei der Telefonauskunft und nutzte die Gelegenheit, (umsonst) bei der angegebenen Nummer anzurufen, um anzufragen, wann (endlich!) die zweite Nummer erscheinen würde. Am Apparat war Jörg. Er freute sich ungemein über das Interesse, bat sofort um Namen und Adresse mit der Zusicherung, daß die Zeitschrift umgehend zugeschickt werden würde. Leider war es (nach meiner Erinnerung) die letzte Nummer. Auch der Kontakt zu Jörg verlor sich, bis er eines Tages (es muß Mitte der 70er gewesen sein) anrief wegen einer Übernachtungsmöglichkeit.
Wir sahen uns dann gelegentlich, wenn er nach München kam, und schrieben uns auch öfters. Ungemein wohltuend war die Unbeirrbarkeit, mit der Jörg seinen undogmatischen Einstellungen treu blieb. Sie waren ausgerichtet auf die Freiheit des Ich, die Maßstab allen Denkens und, wenn möglich, Handelns war. Gut, es war immer weniger möglich. Auch wenn positive Entwicklungen nicht übersehen werden sollten, haben möglicherweise Zyniker nicht ganz unrecht, wenn sie meinen, die Aufhebung des Verbots für Polizisten, Bärte tragen zu dürfen, stelle den größten Erfolg der 68er dar… Ansonsten war "Aufbrechen verkrusteter Strukturen" sowohl Leerformel wie Kampfparole des technischen Fortschritts, nach Frank Böckelmann und Herbert Frank "das Programm des emanzipierten Finanzkapitals", das gerade so weit reichte, als es den aktuellen Zwängen sowie beschränkten Ansprüchen nach "Selbstverwirklichung", Modernität und Ausleben rezeptiver Bedürfnisse entsprach.
Solchen Mystifikationen des Bestehenden, wie sie Frankfurter Schule, Dutzende K-Gruppen oder andere staats- und machttragende "NGO"s boten, war Jörg abhold. Die Ablehnung jeglicher Ausbeutungsverhältnisse zeigte sich unspektakulär, als wir in den 8oer oder 90er Jahren beiläufig über die pädophilen Ansichten redeten, die damals als progressiv galten, zumindest in Kreisen, die halt- und geistlos genug waren, später ebenso bar jeder Moral und Vernunft Flächenbombardements, neoliberale Verhältnisse mitsamt Angriffskriegen zu fordern und zu unterstützen: immer galt es, Menschen zu ihrem Glück zu zwingen, und warum sollte Kindern hierzulande ein besseres Schicksal beschieden sein als wenn sie zum falschen Zeitpunkt einer afghanischen Hochzeitsgesellschaft angehörten.
Unsere letzten Kontakte waren spärlich. Er war schon lange nicht mehr in München gewesen, ich zuletzt kurz 2010 in Berlin. Es war Ende Januar, eine Eiseskälte, überall lag Schnee und es kam zu keinem Besuch. Ich sah ihn zuletzt im Herbst davor in seiner Wohnung in der Lenaustraße. Er hatte einige Probleme mit dem Herzen, an dem er zuvor oder danach (oder sowohl als auch) einige Male operiert wurde. Am verheerendsten empfand er wohl seine beträchtliche Schwerhörigkeit, die ihn vom Genuß seiner riesigen Plattensammlung mit klassischer Musik abhielt. Noch bedrückender wurde für ihn seine Situation, als er vor drei oder vier Jahren in einem Pflegeheim untergebracht werden mußte - in welchem Ausmaß hier makabre Euphemismen transportiert werden, ist mir klar (ich habe es über unseren gemeinsamen Freund Hansjörg erfahren).
Seit über einem Jahr hat er auf meine Bitte, mir seine Bücherwünsche mitzuteilen, nicht reagiert. Am 23. Dezember 2016 bin ich zufällig in einen Mailwechsel mit einer seiner Schwestern reingerutscht. Es ging um Einzelheiten seines (bescheidenen) Essens zu Weihnachten. Ich schrieb ihm am gleichen Tag zurück, erzählte von meinen (ebenfalls bescheidenen) Projekten und lobte die tollen Zeiten, in denen Politik und Medien bis zur Kenntlichkeit verzerrt seien: in dem Weltbild, das sie uns einzuhämmern beliebten, seien Rückschläge eigenen Handelns nicht vorgesehen, weshalb - wir hätten zwar nicht 1984, aber 2001ff - die Verwüstung ferner Erdteile (etwa von Pakistan, Afghanistan über Irak und Syrien bis Libyen) mit Millionen Toten keine Rolle spielte, sondern allein unser, wie der Führer sagen würde, "unerschütterliche Wille", uns in der Art, wie wir gemütlich in Freiheit, Aufklärung pp vor uns hindämmern, durch nichts erschüttern zu lassen - da könnten sich Unzivilisierte, die weder über Uranmunition, Splitterbomben oder von Drohnen abgefeuerte Raketen verfügten, sondern, und das sei doch wirklich das Letzte, Lastwagen klauen müßten, auf den Kopf stellen.
Man kann nicht gerade sagen, daß ein Gespräch zustande kam. Nach einer guten Stunde schrieb er immerhin zurück: "Hallo Mike, ja - aber bei der Gelegenheit alles Gute für Weihnachten und zum neuen Jahr […]! Bei mir - leider vor allem auch gesundheitlich - nix Neues bzw. Positives. Ist alles doch recht trübe... Dennoch mit Gruß, Jörg".
Einer der Mails war zu entnehmen, daß ein Pedro für den 5. Januar zu Besuch angekündigt war. Drei Tage später war Jörg tot, wie ich aus der nächsten Mail erfuhr, die mich aus seinem Umkreis erreichte. Sie kam am 15. Januar von einer seiner Schwestern und enthielt die traurige Nachricht.
Ja, es ist traurig. Es tut immer gut, mit Leuten Kontakt zu haben, die keinerlei Anzeichen von Anpassung und Opportunismus zeigen, und jetzt gab es einen weniger von ihnen. Jörg war einer jener Helden des Alltags, die nicht den geringsten Zweifel an ihrer Integrität zugelassen haben - im Gegensatz zu all den verrotteten Charakteren, die ihre Hände nach dem wärmenden Herd ausstrecken wie Bettler in Slums nach vorbeiflanierenden Touristen. Hier sollten wir, denke ich, auch das Hoffnungsvolle sehen.
Es war eine Genugtuung und auch eine Freude, jemanden wie Jörg gekannt zu haben. Er hat nicht zu Unterschätzendes geleistet. Paul Mattick wurde einmal gefragt, ob der Sozialismus eine Zukunft habe. Er meinte, ja - solange es Sozialisten gäbe. Das gilt generell für eine Gesellschaft der Selbstbestimmung, der Freiheit und der Vernunft. Alles andere sind Formen der Barbarei, denen klein beizugeben Jörg der Letzte gewesen wäre.
Leb' wohl, mein Lieber, und vielen Dank für Alles . . .
Michael Ewert
Veröffentlichungen
Artikel/Beiträge
- Die soziale Revolution ist keine Parteisache. Berlin Nr.1 März 1971 Redaktion: Peter Rambauseck, V.i.S.d.P. Rüdiger Blankertz, Konto: Jörg-Anselm Asseyer
- Jörg v. Asseyer: Aktuelles Nachwort zum Thema »Objektive Entwicklungstendenz des Kapitalismus und revolutionäres Subjekt der Geschichte«. In: Karl Korsch, Paul Mattick, Anton Pannekoek: Zusammenbruchstheorie des Kapitalismus oder Revolutionäres Subjekt. Karin Kramer Verlag, Berlin 1973, S. 113-122.
- Jörg Asseyer: Dem Marxismus eine Gasse? Über die Unzulänglichkeiten des paulinischen Marxismus. In: Jörg Asseyer, Bernd Kramer, Hansjörg Viesel, Hans-Dieter Heilmann: Hiebe unter die Haut. Kritik an normalen Zuständen & konjunkturbewussten Zeitgenossen. Ein Schlüsselbuch für die Erkenntnis vieler falscher Grössen der Gegenwart: Mattick, Lenk, Lösche, Rabehl. Karin Kramer Verlag, Berlin 1984 [1974], S. 5-24.
- Jörg Asseyer: Jenseits von Grund und Ordnung. Nachwort zur Neuherausgabe von Gustav Landauers »Skepsis und Mystik«. In: Gustav Landauer: Skepsis und Mystik. Versuche im Anschluss an Mauthners Sprachkritik. Verlag Büchse der Pandora, Münster/Wetzlar 1978, S. 77-92 (Online-Version).
- Jörg-Anselm Asseyer: Herr und Anarch - Ernst Jünger - Vom Verhaltensfaschisten zum Edelanarchisten? In: Nur die Phantasielosen flüchten in die Realität. Anarchistisches Ja(hr)buch I. Karin Kramer Verlag, Berlin 1983, S. 60-63.
Übersetzungen
- Bob Potter: Vietnam Superstar, Sieg für wen? Aus dem Englischen übersetzt von Jörg Asseyer. MaD-Verlag Lutz Schulenburg, Hamburg 1975.
- Maurice Brinton: Mai 68. Die Subversion der Beleidigten. Aus dem Englischen übersetzt von Jörg Asseyer. MaD-Verlag Lutz Schulenburg, Hamburg 1976.
- Robert Paul Wolff: Eine Verteidigung des Anarchismus Aus dem Amerikanischen von Jörg Asseyer. Verlag Büchse der Pandora, Wetzlar 1979.
- James L. Walker: Die Philosophie des Egoismus. Übersetzt von Jörg-Anselm Asseyer. Verlag der Mackay-Gesellschaft, Freiburg im Breisgau 1979.
- Paul Avrich: Einleitung (aus dem Amerikanischen übersetzt von Jörg Asseyer). In: Michael Bakunin: Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Wolfgang Eckhardt. Band 1: Gott und der Staat (1871). Karin Kramer Verlag, Berlin 1995, S. 19-31.
Weblinks
- Jörg Asseyer: Jenseits von Grund und Ordnung (Nachwort zu: Gustav Landauer: Skepsis und Mystik, Wetzlar 1978)