Max Stirner Jahr 2006
Interdisziplinäres Symposion (Berlin, 25. bis 28. Oktober 2006): Zur Aktualität der Philosophie Max Stirners. Seine Impulse für eine interdisziplinäre Diskussion der kritisch-krisischen Grundbefindlichkeit des Menschen [Programm der Tagung]
Das Jahr 2006 ist das Jahr Max Stirners!
Max Stirner ist aus verschiedenen Gründen ein äußerst umstrittener Philosoph (Bruch mit den Konventionen eines philosophischen Diskurses, Respektlosigkeit gegenüber den anerkannten Meisterdenkern, brillanter Stilist und respektloser Provokateur, Nähe zu anarchistischen Theorien, radikale anthropologische Position usw.), der mit zunehmender Intensität von den unterschiedlichsten Bezugswissenschaften und gesellschaftlichen Gruppierungen weltweit rezipiert wird: Von der Philosophie, der Theologie, der Soziologie, den Erziehungswissenschaften, der Pädagogik, der Sprach- und Literaturwissenschaft, der Politologie, der Geschichtswissenschaft usw. Indizien für die zunehmende Popularität Stirners sind u.a.
- die wissenschaftlichen Veröffentlichungen über ihn,
- die wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die Stirner mehr oder weniger ausführlich berücksichtigen,
- journalistische Beiträge in Fachzeitschriften, Zeitschriften und Zeitungen,
- Neuauflagen des „Einzigen“ in deutscher Sprache und Übersetzungen,
- Stirner in Vorlesungen, (Ober-)Seminaren und internationalen Kongressen usw.
Das Symposion und die daraus hervorgehende geplante wissenschaftliche Dokumentation soll vor allem die positiven Leistungen Stirners, bei aller notwendigen Kritik an seinen Positionen, würdigen.
Die über 150-jährige Rezeptionsgeschichte Stirners veranschaulicht, dass man nie so recht wusste, wie man ihn einzuschätzen hatte. Disparat wie bei keinem anderen Philosophen fielen die Be- und Verurteilungen aus.
Wie ernst ist dieser Philosoph zu nehmen, den die Philosophie selbst nie so richtig ernst nahm, den sie meist verschwieg und von dem sie doch so viele Anregungen bekam? Diese bislang nur ansatzweise erforschte philosophische Rezeptionsgeschichte reicht von Nietzsche bis Heidegger (die beide nachweislich Stirnersches Gedankengut verarbeiteten, ihn aber öffentlich nie namentlich nannten).
Die widersprüchliche und disqualifizierende Beurteilung von Stirners „Einzigem“ beginnt mit Marx und Engels, die mit der „Deutschen Ideologie“ das Interpretationsmuster für die gesamte marxistische und linke Literatur vorgaben und damit das Thema Stirners und letztlich auch die Diskussion des subjektiven Vorbehalts innerhalb einer sozialistischen Gesellschaft für abgeschlossen erklärten. So verwundert es nicht, dass neuere Publikationen einen wissenschaftlichen Dialog zwischen Stirner und Marx als befruchtend für diese Thematik ansehen.
Besonders anregend wirkte Stirner auf die Literatur. Viele Autoren wurden von ihm beeinflusst, weit mehr noch setzten sich kritisch mit ihm auseinander. Diese literarische Stirner-Rezeption beginnt mit Zeitgenossen Stirners (Robert Giseke und Wilhelm Jordan verarbeiteten Stirner literarisch) und setzt sich fort bis in die neuere und neueste Zeit, in der Bertolt Brecht seinen „Baal“ und seine „Trommeln in der Nacht“ unbemerkt von der Brecht-Forschung oder von ihr verschwiegen unter starkem Einfluss Stirners schrieb, diesen Einfluss dann aber nach seinen marxistischen Studien zu tilgen versuchte. Neben vielen anderen, die Stirner literarisch verarbeiteten oder von ihm beeinflusst waren, sollen aus neuester Zeit beispielhaft nur noch Ernst Jünger und Harry Mulisch genannt werden.
Besondere Aufmerksamkeit genießt Stirner in der Pädagogik, die Stirners Überlegungen, vor allem seinem Aufsatz „Das unwahre Princip unserer Erziehung oder der Humanismus und Realismus“ nach wie vor größte Aktualität beimisst.
Max Stirner gilt als einer der Ausgangspunkte (des individual-anarchistischen Zweiges) des Anarchismus und wird als solcher von allen Nachschlagewerken vereinnahmt, was unseres Erachtens Stirner freilich auf einen Aspekt seiner Philosophie reduziert.
Der Mainzer Philosoph Richard Wisser hat in einem grundlegend-programmatischen Aufsatz dargetan, dass Kritik als eine „Grundbefindlichkeit“ des Menschen in einer engen innerlichen Beziehung zu sehen ist mit dem, was er Krise nennt, dass der Mensch „als Mensch kritisch-krisisch“ ist. Wisser hat aufgezeigt, und in diesem Zusammenhang gewinnt auch Stirners Kritikverständnis einen wichtigen Stellenwert, wie Philosophen mit Hilfe der Kritik inhaltlich „schwierige(n) Positionen“ anderer Philosophen in eine Krise bringen und aufheben können. Das „relative Kriterium“ von Stirners Eigner ist der Momentcharakter des Eigners selbst: seine permanente Selbstsetzung und Selbstaufhebung als Ausdruck des Unfixierten und Standort-losen; dieser Eigner lebt ohne fixe Idee in Opposition zur „Stabilität“ (EE 362) als religiösem Prinzip (Stirner redet vom „Stabilitätsprinzip“ als „dem eigentlichen Lebensprinzip der Religion“; EE 379). „Der Mensch erfährt stets zweierlei: dass Kriterien ‚nötig‘ sind, weil er ein kritisch-krisisches Wesen ist, dass aber kein Kriterium absolut ‚notwendig‘ ist, weil er ein kritisch-krisisches Wesen ist.“
Für den Eigner gilt entsprechend: er weiß, dass er der Schöpfer seiner Kriterien ist und dass er sein eigenes Kriterium ist; dadurch kritisiert er sich und ist sich kritisch. Der Eigner weiß auch, dass er sich selbst setzt und aufhebt; dadurch setzt er sich in eine ständige Krise und erfährt sich als „krisisch“.
Stirner steht mit solchen Positionen am Anfang eines existenzialistischen und konstruktivistischen Diskurses, der in jüngster Zeit durch die von der Hirnforschung initiierte Diskussion um den Freiheitsbegriff neue Aktualität gewinnt.
Das Symposion soll diesen Fragen in ihren historischen und zeitgenössischen Kontexten nachgehen. Die Ergebnisse des Symposions sollen in einem Sammelband mit den Beiträgen der Referenten veröffentlicht werden.
Die Veranstaltung wird durch die Fritz Thyssen Stiftung gefördert. Kontakt: max-stirner@web.de