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Rocker, Rudolf

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Lexikon der Anarchie: Personen


Rudolf Rocker (1873-1958)

Rudolf Rocker, geb.: 25. März 1873 in Mainz; gest.: 19. September 1958 in Crompond/New York). Rocker gehört zu den einflußreichsten Theoretikern und Organisatoren des deutschen und internationalen Anarchosyndikalismus.

Leben

Rocker wurde am 25. März 1873 als Sohn einer Steindruckerfamilie in Mainz geboren. Nach dem frühen Tod der Eltern wuchs er in einem katholischen Waisenhaus auf, bis er im Alter von vierzehn Jahren vorübergehend als Schiffsjunge auf einem Rheindampfer anheuerte und später das Buchbinderhandwerk erlernte. Unter dem Einfluss eines Patenonkels entdeckte der Jugendliche die sozialistisch-freidenkerische Literatur und erfuhr den Beginn seiner politischen Sozialisation in der Sozialdemokratie unter den restriktiven Bedingungen des Sozialistengesetzes (1878 – 1890). Im Mai 1890 gründete er den sozialdemokratischen Lesezirkel „Freiheit" und schloss sich kurz darauf den so genannten „Jungen" an, eine parteiinterne Strömung, die gegen den legalistisch-parlamentarischen Kurs der Parteiführung opponierte und für Sozialrevolutionäre Ziele im Sinne eines emanzipatorischen Marxismus eintrat.

Noch vor dem offiziellen Ausschluss der „Jungen" auf dem Erfurter Parteitag im Oktober 1891, schied Rocker nach einem Disput mit dem Mainzer Partei vorstand aus der SPD. Auf dem im selben Jahr in Brüssel abgehaltenen Internationalen Sozialistenkongress erlebte er mit, wie die anarchistische Minorität diskriminiert und schließlich ausgeschlossen wurde. Unter diesem Eindruck und insbesondere durch die Lektüre der Schriften Michail Bakunins wandte sich Rocker nun dem Anarchismus zu. Gegen Ende des Jahres 1891 initiierte er eine anarchistische Gruppe, die sich hauptsächlich mit der Verbreitung aus London eingeschmuggelter Literatur beschäftigte. Als sich die ausgeschlossene Opposition der „Jungen" im November 1891 zum „Verein unabhängiger Sozialisten" konstituierte, trat Rocker mit dem von ihm mitbegründeten „Leseclub Vorwärts" den Mainzer „Unabhängigen Sozialisten" bei. Von den anarchistischen Theoretikern, die der dortige Kreis rezipierte, wirkte besonders der →kommunistische Anarchismus Peter Kropotkins, mit seinen anthropologisch-evolutionsphilosophischen Grundgedanken einer in der Natur angelegten „Gegenseitigen Hilfe", für Rocker künftig richtungweisend.

Sein rhetorisches Talent entdeckte und entwickelte der junge Rocker bereits im gewerkschaftlichen Buchbinderfachverein und im „Verein unabhängiger Sozialisten". Dessen Ende, das im April 1894 nur wenige Monate nach der Rückkehr des marxistischen Flügels in die Mutterpartei folgte, erlebte Rocker nicht mehr in Deutschland, da er im Dezember 1892 einer drohenden Verhaftung wegen illegaler anarchistischer Propagandatätigkeit und dem bevorstehenden Militärdienst durch die Flucht ins Ausland zuvorgekommen war. Im Pariser Exil machte Rocker die im Hinblick auf seine künftige syndikalistische Orientierung prägende Erfahrung, dass anarchistische Konzepte in die Ideologie und Praxis der französischen Gewerkschaftsbewegung einzuwirken begannen. Betroffen von der Ausweisungswelle ausländischer Anarchisten, die die Behörden in Folge der von Individualanarchisten verübten Bombenattentate verhängten, siedelte Rocker 1895 mit einigen Freunden von den „Unabhängigen" nach London über. Dort fand er im „Communistischen Arbeiter-Bildungsverein", der ältesten sozialistischen deutschen Auslandsorganisation, in der die anarchistische Fraktion über eine starke Position verfügte, zunächst eine Beschäftigung als Bibliothekar. In London machte Rocker die Bekanntschaft der bedeutendsten Persönlichkeiten des Anarchismus: →Alexander Shapiro, Max Nettlau, Louise Michel und auch Gustav Landauer. Mit Errico Malatesta und P. Kropotkin, mit denen er mehrfach als Redner auf Massenkundgebungen der anarchistischen Bewegung auftrat, verband ihn, ebenso wie mit dem libertären Historiker M. Nettlau, eine lebenslange Freundschaft. Sein politisches Betätigungsfeld fand Rocker jedoch im ostjüdischen Arbeitermilieu des Londoner East-End, in dem er auch seine spätere Lebensgefährtin Milly Witkop (1877 – 1955) kennen lernte. Als Nicht-Jude entwickelte sich der Emigrant bald zu einer der prominentesten Wortführer der aufkeimenden jüdischen Gewerkschaftsbewegung, aus der nicht zuletzt infolge seiner Aktivitäten, die größte libertäre Organisation Englands hervorging.

Die von Rudolf Rocker herausgegebene anarchistische Monatszeitschrift Zsherminal (Germinal).

Von 1899 bis 1914 gab Rocker die anarchistische Zeitung „Der Arbayter Fraynd (Der Arbeiterfreund)" – und ab 1900 – mit Unterbrechungen – die Kulturzeitschrift „Zsherminal (Germinal)" in jiddischer Sprache heraus. Auf dem Amsterdamer Anarchistenkongress wurde er 1907 zusammen mit E. Malatesta und A. Shapiro zu einem der drei Sekretäre der anarchistischen Internationale nominiert. Ein Aufsehen erregendes Einreiseverbot, das die US-amerikanischen Einreisebehörden zeitweilig wegen seiner nichtehelichen Beziehung zu M. Witkop gegen beide verhängten, eine erneute Ausweisung aus Frankreich aufgrund einer Protestrede gegen die Ermordung des anarchistischen Reformpädagogen Francisco Ferrer im Jahr 1909 und vor allem seine führende Rolle als Initiator des erfolgreichen „Großen Streiks" der jüdischen Textilarbeiter im Jahr 1912, machten den mittlerweile aus Deutschland ausgebürgerten Anarchisten über die Grenzen Englands hinaus derart populär, dass ihn die zuständigen Regierungsstellen zwischen Dezember 1914 und März 1918 als „Spezialfall" in ein Lager für „feindliche Ausländer" internierten. Von dort aus zunächst als Austauschgefangener in die Niederlande deportiert, erreichte Rocker im Januar 1919 das revolutionäre Berlin, wo er als charismatischer und überzeugender Diskussions- und Vortragsredner schnell Einfluss auf die anwachsende syndikalistische Arbeiterbewegung Deutschlands erlangte. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 gelang die überstürzte Flucht aus Deutschland nur unter Zurücklassung seiner über 5.000 Bände umfassenden Bibliothek, die u. a. viele Handschriften und Briefe P. Kropotkins beinhaltete. Seine letzten Lebensjahre verbrachte Rocker – schließlich nahezu erblindet und taub – in einer Siedlungsgemeinschaft bei New York.

Politischer Werdegang

Obgleich Rocker in der libertären Gewerkschaftsbewegung Deutschlands – bis auf eine informelle Sprecherfunktion in der ersten Geschäftskommission der Freien Arbeiter Union Deutschlands (FAUD) – niemals ein offizielles Amt annahm, wirkte er als dessen spiritus rector, was sich nicht zuletzt die Abfassung zahlreicher Programmentwürfe und Grundsatzartikel zeigte. In den 1920iger Jahren formulierte Rocker die wesentlichen theoretischen Grundlagen des →Anarchosyndikalismus und des organisierten Anarchismus. Insofern bestimmte er die Hinwendung der 1920 über 120.000 Mitglieder zählenden FAUD zum kommunistischen Anarchismus, durch seine „Prinzipienerklärung des Syndikalismus" – der bis dahin wohl fundiertesten Theorieplattform der libertären Gewerkschaftsbewegung -, in einem entscheidenden Ausmaß mit. Was die Absorption anarchistischer Theorieinhalte anbelangt, kann Rocker eine katalytische Funktion zugeschrieben werden, durch die die Positionierung der FAUD als eine organisatorische Trägerin des kommunistischen Anarchismus eine erhebliche Beschleunigung erfuhr. Neben einer umfangreichen literarischen Tätigkeit, die in vielen Ländern hunderttausendfache Verbreitung fand, galt Rockers unentwegtes Engagement der Initiierung einer unabhängigen anarchosyndikalistischen Internationale, mit der sowohl dem revolutionären Alleinvertretungsanspruch der 3. Kommunistischen Internationale, als auch der in Gestalt der Roten Gewerkschafts-Internationale seit 1921 existierenden radikalgewerkschaftlichen Konkurrenz des supranationalen Syndikalismus, eine antiautoritäre Alternative entgegengesetzt werden sollte. Die Internationale Arbeiter Assoziation (IAA), die nach jahrelangen Vorbereitungen um die Jahreswende 1922/23 Gestalt annahm, gilt nicht zuletzt als Rockers persönlicher Erfolg. Als einer ihrer drei Sekretäre verfasste Rocker die „Prinzipienerklärung der IAA", die der zum damaligen Zeitpunkt über eineinhalb Millionen Mitglieder zählende Organisation eine ideologische Identität vermittelte und deren föderalistische Organisationsprinzipien festlegte.

Nach dem im Jahr 1924 vollzogenen Bruch mit der →Föderation Kommunistischer Anarchisten Deutschlands (FKAD), unterstützte Rocker in den späten zwanziger Jahren mittels einer regen Vortragstätigkeit und auch durch die Mitarbeit an deren Publikationsorganen die →Gemeinschaft proletarischer Freidenker und vorzugsweise die →Anarchistische Vereinigung seines Intimus Erich Mühsam. Auf umfangreichen Agitationstouren war er auch nach seiner Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland für die internationale libertäre Bewegung aktiv. Bis zu seinem Tod blieb er vorwiegend schriftstellerisch tätig und nahm aus den →USA publizistischen Anteil an der →Föderation freiheitlicher Sozialisten (FFS); der seit Pfingsten 1947 bestehenden – jedoch ungleich mitgliederschwächeren und nichtgewerkschaftlichen Nachfolgeorganisation der FAUD. Der konzeptionelle Revisionismus der FFS, den Rocker maßgeblich vorantrieb, passte sich hierbei nicht nur der antikommunistischen Atmosphäre der deutschen Nachkriegsgesellschaft an, er kontrastierte insbesondere durch seinen an der Realpolitik verhafteten Pragmatismus in drastischer Weise mit dem moralisch-ethischen Imperativen einiger anarchistischer Theoriezirkel, die in der deutschlandzentrierten Orientierung der FFS einige Gemeinsamkeiten mit den offiziellen Zielvorstellungen eines administrativ föderierten Europas erkannten. Aufgrund einer Stagnation ihrer Mitgliedsstärke und der Insuffizienz ihrer Organisationsstrukturen misslang die beabsichtigte Einflussnahme der FFS in Gewerkschaften, Gemeinden und Genossenschaften weitgehend. Weder die von ihm als Mentor beeinflussten theoretischen Protagonisten des freiheitlichen →Sozialismus: →Fritz Linow, →Helmut Rüdiger, →Augustin Souchy, noch Rocker selbst, konnten dauerhafte Impulse ihrer libertären Sozialismuskonzeption in den entstehenden Neo-Anarchismus transformieren.

Eigene Theorieausbildung

Rockers wesentlichste Bedeutung lag weniger auf theoretischem Gebiet, zumal er seine exponierte Stellung innerhalb des internationalen Anarchismus bereits geraume Zeit vor der Abfassung seiner fundiertesten Schriften einnahm. Geltung erlangte Rocker vor allem als international akzeptierte Integrationsfigur der freiheitlich-sozialistischen Prinzipien verbundenen Arbeiterbewegung. Hinsichtlich der radikalgewerkschaftlichen Ideologiebildung präzisierte Rocker die bereits durch die französische →Confédération Générale du Travail (CGT) antizipierte Theorieadaption des Anarchosyndikalismus, die hierdurch einen inhaltlichen Bezugsrahmen erhielt, der darin konsequenter als das französische Vorbild, die anarchistischen Ideologiepostulate integrierte. Rocker entwickelte nicht nur die theoretisch-programmatische Ablehnung des →Parlamentarismus und →Antimilitarismus zugunsten des anarchosyndikalistische Primats eines ökonomisch ausgerichteten Kampfes mittels der →Direkten Aktion weiter, er entwarf mit dem angestrebten Endziel der Ablösung des kapitalistischen →Staates und die Übernahme der gesellschaftlichen Produktionsmittel und der administrativen Verwaltung durch die Industrieföderationen und Arbeitsbörsen, eine konkrete gegengesellschaftliche Utopiekonzeption, die er, mit Rekurs auf P. Kropotkin, in ihren wesentlichen Grundzügen bereits in den bestehenden Verhältnissen angelegt sah. Neben der Umsetzung des antietatistischen →Föderalismus →Pierre-Joseph Proudhons als das regulierende gesellschaftliche Konstitutionsprinzip auf der Grundlage autonomer Basiseinheiten, rezipierte Rocker besonders den kommunistischen Anarchismus P. Kropotkinscher Provenienz, den er seinerseits mit dem bewusstseinsbildenden Erziehungsidealen des von G. Landauer angestrebten Kultursozialismus verband. Rudimentäre Impulse des Marxismus sind in Rockers theoretischen Schriften hinsichtlich der Kritik an dem Klassencharakter der bürgerlichen Staatsform erkennbar. Klassenkämpferische Formulierungen, die seine Programmschrift "Die Prinzipienerklärung des Syndikalismus" (1920) enthalten, finden sich in ähnlicher Diktion in der Schrift Lenins "Staat und Revolution". Dennoch sind die grundlegenden Kategorien des Marxismus, auf die bereits Bakunin rekurrierte, bei Rocker stets unterschwellig präsent. Die politische Ökonomie verwarf er vor allem wegen des darin vermeintlich enthaltenen wirtschaftlich-materiellen Determinismus. Seine antimarxistische Kritik richtete sich vor allem gegen die klassengebundene Vorrangstellung einer Arbeiterelite („Diktatur des Proletariats"), wie sie explizit in dem von Lenin formulierten Anspruch einer proletarischen Anvantgardepartei zum Tragen kommt. Dieses Konzept stellte für R. den totalitären ("absolutistischen") Kerngedanken des autoritären Kommunismus dar.

Einer wissenschaftlichen Kriterien entsprechenden Analyse auf empirischer Basis kam Rockers Broschüre „Die Rationalisierung der Wirtschaft und die Arbeiterklasse" (1927), in der er den kapitalistischen Kartellierungen und Trusts eine latente Affinität zum faschistischen Korporativismus attestierte, wohl am nächsten. In seinem Hauptwerk „Nationalism and Culture" (New York 1937), das erst 1949 unter dem Titel „Die Entscheidung des Abendlandes" in deutscher Sprache erschien, versuchte er in einer breit angelegten ideen- und kulturgeschichtlichen Abhandlung, die regressive Wirkung des Nationalismus im Hinblick auf die allgemeine Kulturentwicklung nachzuweisen. Mit dieser Grundsatzkritik an der Hegemonie von Hierarchie und →Zentralismus, die er mit einer antimarxistischen Sozialismuskonzeption kombinierte, stieß Rocker erstmals auf über anarchistische Kreise hinausreichende Beachtung. Dass der autodidaktisch gebildete Arbeiterintellektuelle besonders von den humanistischen Kulturidealen geprägt war, zeigen hingegen Rockers zahlreiche Abhandlungen über die literarischen Klassiker. Auf dem Gebiet der →Anarchismusforschung trat er außerdem durch die Abfassung einiger verdienstvoller Biographien, so z. B. über →Johann Most und M. Nettlau sowie durch einige autobiographische Schriften hervor.

Stellenwert Rockers innerhalb des libertären Spektrums

Die Wiederentdeckung von Rudolf Rocker und seinen Schriften durch den "Neuen Anarchismus" in der Bundesrepublik Deutschland

Als konsequenter Anarchist definierte Rocker jedes staatliche System, ungeachtet seiner jeweiligen Ausprägung, als einen „Gewaltapparat", dessen Hauptzweck in der „wirtschaftlichen Ausbeutung der breiten Massen durch privilegierte Minderheiten" besteht („Der Kampf ums tägliche Brot", Berlin 1925). Im Unterschied zu vielen radikalen Gegnern des Parlamentarismus, verteidigte Rocker hingegen die seiner Meinung nach zwar beschränkten, gleichwohl jedoch formal existierenden politischen Rechte bürgerlicher Demokratien. Die durch die Gesetzgebung dokumentierten Freiheitsrechte betrachtete er als den festgeschriebenen Ausdruck eines internalisierten Emanzipationsbedürfnisses einer aufgeklärten Öffentlichkeit, an das die „kapitalistische Gesellschaft" letztlich zu Konzessionen gezwungen sei. Für die progressiv fortschreitende Realisierung freiheitlicher Grundprinzipien galt es seiner Meinung nach die Position libertärer Minderheiten außerhalb der staatlichen Einflusssphäre auszubauen. Den für diesen gesellschaftlichen Emanzipationsprozess beschränkten Einwirkungsmöglichkeiten anarchistischer oder anarchosyndikalistischer Minderheitenorganisationen maß Rocker bereits während der zwanziger Jahre weniger Bedeutung zu, wie seine Artikel in E. Mühsams Theoriezeitschrift „Fanal" zeigen. Die Neuorientierung seiner politischen Axiome, insbesondere seine Parteinahme zugunsten der Westalliierten während des 2. Weltkriegs, stieß in anarchistischen Kreisen auf entschiedene Kritik an der Abkehr von den traditionellen libertären Grundpositionen. In der Tat stand Rocker nun den liberalen Wurzeln des Sozialismus näher als den revolutionären Klassenkampfpostulaten des Marxismus, den er – hierin gemeinhin wenig differenzierend und quellenanalytisch argumentierend – in seinem gesamten Spektrum pauschal ablehnte. In seinen von G. Landauer geprägten Auffassungen eines Anarchismus als soziales Kulturideal, zielte er insofern auf die Synthese eines radikal interpretierten →Liberalismus mit einem antiautoritär-föderalistischen Sozialismus ab. Charakteristisch für R. ist nicht der klassenkämpferische Gestus, sondern eine humanistische Grundeinstellung, die er auch praktizierte.


Nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus und dem Aufkommen der despotischen „realsozialistischen" Diktaturen, revidierte Rocker die im kommunistischen Anarchismus hypostasierte Idealvorstellung einer uneingeschränkten menschlichen Soziabilität und setzte seine Hoffnungen auf eine evolutionäre Umgestaltung mittels einer gesellschaftlich breit angelegten emanzipatorischen Bewusstseinsentwicklung. Seine dezidierte Kritik an dem institutionalisierten Staatsbürokratismus und nicht zuletzt seine anhaltende Skepsis hinsichtlich des positiven Charakters der hochrationalisierten Industriegesellschaften, weisen dabei viele Parallelen zu den basisdemokratischen Grundprinzipien auf, die später in den →„Neuen Sozialen Bewegungen" erneut aktualisiert wurden. Für Rockers Schriften kennzeichnend ist die Formulierung eines antiautoritären Sozialismusverständnisses, welches die uneingeschränkte Selbstbestimmungsrechte des Individuums gegenüber dem gesellschaftlichen Ganzen einfordert. Das zu verwirklichende Ideal band er jedoch niemals an eine abstrakte →Utopie, da er in der bestehenden Gesellschaft bereits das grundlegende Potential zur Realisierung föderalistischer und libertärer Ordnungsprinzipien antizipiert sah. Die Offenheit für neue Lernprozesse und die Fähigkeit zum Überdenken eigener Positionen charakterisiert Rocker als einen undogmatischen Denker, der die gesellschaftliche Realität stets mit seinen libertären Grundprinzipien zu konfrontieren suchte. Im Unterschied zu seiner Popularität zu Lebzeiten besaßen Rockers Ideen nach seinem Tode indessen weder durch seine frühe anarchosyndikalistische Theorieausprägung, noch durch seine späteren reversierenden Beiträge eine Relevanz, die wahrnehmbar über libertäre Insiderkreise hinausgereicht hätte. In den siebziger und achtziger Jahren wurden die wichtigsten Aufsätze und Broschüren Rockers neu editiert, so auch sein Hauptwerk „Nationalismus und Kultur". Gleichwohl lässt sich jedoch ein bis in die Gegenwart zu beobachtendes Interesse an der Biographie Rockers konstatieren, wie die in zeitlichen Abständen erscheinenden Monographien bestätigen. Im Hinblick auf die nach wie vor bestehende Integrationskraft der modernen Industrie- und Konsumgesellschaften mit ihren von den Individuen introjizierten Mechanismen der sozialen Kontrolle und den subjektiv nicht mehr als solche wahrgenommenen Interessengegensätzen, hat sich die vermeintliche Option einer grundlegenden inneren Wandlungsfähigkeit der industriellen Zivilisation bislang nur von eingeschränkter Tragweite erwiesen. Rocker gebührt der Verdienst, frühzeitig auf die psychologische Bedeutung und die soziale Tragweite dieser verinnerlichten und zunehmend nicht mehr hinterfragten Herrschaftsverhältnisse hingewiesen zu haben.

Literatur und Quellen:

Wichtigste Schriften in deutscher Sprache

  • Keine Kriegswaffen mehr! Rede gehalten auf der Reichs-Konferenz der Rüstungsarbeiter Deutschlands abgehalten vom 18. bis 22. März 1919 in Erfurt, Erfurt o. J. (1919);
  • Zur Geschichte der parlamentarischen Tätigkeit in der modernen Arbeiterbewegung, Berlin o. J. (1919);
  • Sozialdemokratie und Anarchismus, Berlin o. J. (1919);
  • Prinzipienerklärung des Syndikalismus, Berlin o. J. (1920);
  • Anarchismus und Organisation, Berlin o. J. (1921);
  • Der Bankerott des russischen Staatskommunismus, Berlin 1921;
  • Über das Wesen des Föderalismus im Gegensatz zum Zentralismus. Vortrag, gehalten auf dem 14. Kongress der F.A.U.D., 19. – 22. November 1922 in Erfurt, Berlin 1923;
  • Grundlagen des revolutionären Syndikalismus. Prinzipienerklärung der Internationalen Arbeiter-Assoziation, Berlin 1923;
  • Johann Most. Das Leben eines Rebellen, Berlin 1924;
  • Nachtrag zu Johann Most, Berlin 1925;
  • Hinter Stacheldraht und Gitter. Erinnerungen aus der englischen Kriegsgefangenschaft, Berlin 1925;
  • Der Kampf ums tägliche Brot, Berlin 1925;
  • Vom anderen Ufer, Berlin 1926;
  • Die Rationalisierung der Wirtschaft und die Arbeiterklasse, Berlin 1927;
  • Der Leidensweg Erich Mühsams, Zürich 1935;
  • Die Sechs, Berlin 1928;
  • Die Entscheidung des Abendlandes (Nationalismus und Kultur), 2 Bde., Hamburg 1949 (Bremen 1977, Zürich 1979, Münster 1999);
  • Zur Betrachtung der Lage in Deutschland. Die Möglichkeit einer freiheitlichen Bewegung, New York 1947;
  • Der Leidensweg der Zenzl Mühsam, Frankfurt/M. o. J. (1949);
  • Absolutistische Gedankengänge im Sozialismus, Darmstadt o. J. (1952, Frankfurt/M. 1974);
  • Heinrich Heine. Ein deutscher Dichter als Prophet, Darmstadt, o. J. (1953);
  • Milly Witkop-Rocker, Berkeley Heights/New Jersey 1956;
  • Aus den Memoiren eines deutschen Anarchisten, (hg. v. P. Duerr u. M. Melnikow), Frankfurt/M. 1974;
  • Erich und Zenzl Mühsam. Gefangene bei Hitler und Stalin, Wetzlar 1976;
  • Die spanische Tragödie, Berlin 1976;
  • Max Nettlau. Leben und Werk des Historikers vergessener sozialer Bewegungen, Berlin 1978;
  • Anarchismus und Anarcho-Syndikalismus, Berlin 1979;
  • Aufsatzsammlung, Bd. 1: 1919-1933, Bd. 2: 1949- 1953, Frankfurt/M. 1980;
  • Fritz Kater. Ein Leben für den revolutionären Syndikalismus. Biographie von Fritz Kater, Hamburg 1985.

Quellen

  • G. Bartsch: Anarchismus in Deutschland, Bd. I: 1945 – 1965, Hannover 1972;
  • H. M. Bock: Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918 bis 1923. Ein Beitrag zur Sozial- und Ideengeschichte der frühen Weimarer Republik, Darmstadt 1993;
  • P. Buhle: Rocker, Rudolf (1873 – 1958), in: M. J. Buhle/P. Buhle/D. Georgakas (Hg.): Encyclopedia of the American Left, Urbana/ Chicago 1992, S. 657 f.;
  • H. J. Degen: Anarchismus in Deutschland 1945-1960. Die Föderation Freiheitlicher Sozialisten, Ulm 2002;
  • M. Graur: An Anarchist „Rabbi". The Life and Teachings of Rudolf Rocker, New York/Jerusalem 1997;
  • W. Haug: „Der Geist der Abhängigkeit ist gewaltig gestärkt worden ..." Zum Werk und zur Person Rudolf Rocker, in: „Schwarzer Faden", 16. Jg. (1995) Nr. 4 [55], S. 52 – 61;
  • M. Hedinger: Die Marxismuskritik von Rudolf Rocker, Lizentiatsarbeit, Zürich 1986;
  • B. Hoffmann: Rudolf Rocker. Ein Mainzer Emigrant in Paris (1892 – 1894), Magisterarbeit, Univ. Mainz 1980;
  • E. Koen/T. de Boer: Inventar des Nachlasses von Rudolf Rocker (1873-1958): 1894-1958 (-1959), Amsterdam 1998;
  • »Mittwochsgruppe Frankfurt/M«: Rockers Beitrag zur Kritik des Nationalismus, in: „... und nie davon träumt, Zahn oder Messer zu sein". Texte zu Anarchismus und gewaltlose Revolution heute [GWR 21. Jg. (1992) Nr. 171 – 173], S. 71 – 75;
  • F. Mohrhof: Rudolf Rocker und die soziale Befreiung. Zur Aktualität des Anarchosyndikalismus am Beispiel seines deutschen Vertreters, in: W. Beyer (Hg.): Anarchisten. Zur Aktualität anarchistischer Klassiker, Berlin 1993, S. 101 – 114;
  • D. Nelles/H. v. d. Berg: Nationalismus oder Kultur. Über die kulturpolitischen Vorstellungen in der anarchosyndikalistischen Exilpublizistik in den Niederlanden (1933-1940), in: Deutsche Literatur im Exil in den Niederlanden 1933-1940. Hrsg. v. H. Würzner/K. Kröhnke, Amsterdam 1994, S. 119-136;
  • Rocker Publications Committee: Testimonial to Rudolf Rocker : 1873 – 1943, Los Angeles (Calif.) 1944;
  • H. Rübner: Freiheit und Brot. Die Freie Arbeiter-Union Deutschlands. Eine Studie zur Geschichte des Anarchosyndikalismus, Berlin/Köln 1994;
  • Ders.: Rudolf Rocker, in: M. Asendorf, R. v. Bockel, J. P. Reemtsma (Hg.): Demokratische Wege. Deutsche Lebensläufe aus vier Jahrhunderten, Stuttgart 1996;
  • Ders.: »Eine unvollkommene Demokratie ist besser als eine vollkommene Despotie«. Rudolf Rockers Wandlung vom kommunistischen Anarchisten zum libertären Revisionisten, in: Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit 15/1998, S. 205 – 226;
  • M. Wallance: Rudolf Rocker, a biographical sketch, in: Journal of Contemporary History, Vol. 1973, S. 75 – 95;
  • A. Vogel: Der deutsche Anarcho-Syndikalismus. Genese und Theorie einer vergessenen Bewegung, Berlin 1977;
  • N. Walter: Rudolf Rocker's Anarcho-Syndicalism, in: The Raven Vol. 1 (1988), Nr. 4, S. 351 – 360;
  • P. Wienand: Der »geborene Rebell«. Rudolf Rocker. Leben und Werk, Berlin 1981.

Autor: Hartmut Rübner

Quelle: Dieser Artikel erschien erstmals in: Lexikon der Anarchie: Encyclopaedia of Anarchy. Lexique de l'anarchie. - Hrsg. von Hans Jürgen Degen. - Bösdorf: Verlag Schwarzer Nachtschatten, 1993-1996 (5 Lieferungen). - Loseblattsammlung in 2 Ringbuchordnern (alph. sortiert, jeder Beitrag mit separater Paginierung). Für die vorliegende Ausgabe wurde er überarbeitet.

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