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Ward, Colin

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Lexikon der Anarchie: Personen


Colin Ward (1924-2010), Grafik von Clifford Harper.

1. Äußere Daten

Colin Ward, geb.: 14. August 1924, Wanstead (Essex); gest.: 11. Februar 2010, Ipswich (East Anglia), galt fast ein halbes Jahrhundert lang als der wohl berühmteste britische Anarchist. Er vertrat einen pragmatischen Anarchismus, der auf Verwurzelung im Alltagsleben und auf konkrete Lösungsvorschläge für die Gegenwart abzielte.

Beruflich war Ward u.a. als Architekt, Stadt- und Landplaner sowie vor allem als politischer Publizist tätig. Ward war (Mit-)Herausgeber bedeutender anarchistischer Zeitschriften (z.B. von Freedom und Anarchy). Zahlreiche seiner Bücher befassten sich mit Geschichte und aktuellen Perspektiven des Anarchismus.

2. Biographie und politische Entwicklung

Ward wurde in einer Labour-Familie geboren. Sein Vater war Lehrer, seine Mutter Stenotypistin. Nachdem er im Alter von 15 Jahren die Schule verlassen hatte, arbeitete Ward im örtlichen Wohnungsamt und später in einer Baufirma als Konstrukteur. Während des Zweiten Weltkriegs wurde er 1942 in die Armee eingezogen und nach Glasgow, später auf die Orkney- und Shetlandinseln, versetzt. Er diente in der Armee bis 1947.

Schon vorher hatte Ward sich für den Anarchismus interessiert. Er war Abonnent der Zeitschrift War Commentary (Kriegskommentar), in der er auch seine ersten Artikel veröffentlichte (Ende 1943). In einem dieser Artikel forderte er britische Soldaten dazu auf, die Waffen aufzubewahren, die sie für die kommende Revolution benötigen würden. Die Herausgeber von War Commentary wurden angeklagt, Soldaten zur Vernachlässigung ihrer Pflichten verleitet zu haben. Nach dem Krieg ging War Commentary in die anarchistische Wochenzeitschrift Freedom (Freiheit) auf, für die Colin Ward nun regelmäßig Artikel als ordentlicher Mitarbeiter schrieb. In den Jahren 1947–1960 war er dann Mitherausgeber von Freedom.

1961-1970 gab Ward die von ihm gegründete Monatszeitschrift Anarchy (Anarchie) heraus. Das inhaltliche Spektrum, mit dem er sich beschäftigte und über das er in seiner monatlichen Anarchy schrieb, war breit gefächert: Von Vandalismus bis zu den allgemeinen sozialen Problemen des Wohnungsbaus, Spielplätzen für Kinder, Ferienlagern, Hausbesetzern und Siedlern, Gartenkolonien und anderen Themen. Die Art und Weise, wie er darin die Ideen des Anarchismus präsentierte und erklärte, nahm dann in seinem berühmten Werk Anarchy in Action (Anarchie in Aktion [1973]) aggregierte Form an. Es war einerseits eine Distanz zum traditionellen Anarchismus mit seinen revolutionären Illusionen und utopischen Träumen, andererseits die Förderung einer praktischen Einstellung zu sozialen Themen und zu den Alltagserfahrungen der Menschen.

Daneben setzte Ward seine Tätigkeit als Architekt fort und später dann als Herausgeber von The Bulletin of Environmental Education (Das Bulletin für Umwelterziehung). Zu dieser Zeit war er auch als Bildungsbeauftragter bei der Vereinigung für Stadt- und Landesplanung beschäftigt. Er trug auch zu den Zeitschriften New Statesman, New Society, Town and Country Planning bei.

In den nächsten Jahren entfaltete Ward seine anarchistischen Ideen in zahlreichen weiteren Büchern: Utopia (1974) stellt eher einen Spiegel aller Arten von sozialen Träumen – sowohl von Individuen als auch von Gemeinschaften – dar, in dem es weniger um die Begründung, als um die Motivation für Veränderung geht.

Die Publikation The Child in the City (Das Kind in der Stadt [1978]) erhielt große öffentliche Aufmerksamkeit insbesondere, weil sie mit dem zeitgenössischen Trend zum Abenteuerspielplatz zusammenfiel. Mit diesem Buch half Ward, neue Formen kreativer Entfaltungsmöglichkeiten für Kinder anzuregen.

Im Jahr 1984 veröffentlichte er gemeinsam mit Dennis Hardy das Buch Arcadia for All. The Legacy of a Makeshift Landscape (Arkadien für Alle. Das Vermächtnis einer improvisierten Landschaft). Darin zeichnen die Autoren nach, wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts Hunderte, vielleicht sogar Tausende englischer Familien an mehreren freien Orten Großbritanniens Land besetzten und für sich abgrenzten. Dies taten sie ohne Erlaubnis von Behörden, Landplanern, Architekten, Baufirmen oder Bauherren. Die Frage blieb jedoch offen, ob die historische Erfahrung dieser improvisierten Landschaften eine Lehre und Botschaft für die Gegenwart beinhaltet und ob sie Ausgangspunkt sein kann für aktuelle Initiativen in dieser Richtung.

Einem verwandten Thema widmete sich Colin Ward (gemeinsam mit David Crouch) in der 1988 veröffentlichten Publikation The Allotment. Its Landscape and Culture (Der Kleingarten. Seine Landschaft und Kultur). Die Autoren arbeiten heraus, dass diese wachsende Welle des Interesses an Grundstücken, Gärten und Hütten von der städtischen Bevölkerung ausging, insbesondere von Angehörigen der Arbeiterklasse, denen es um ein Gleichgewicht zwischen Fabrikarbeit und Leben ging, um Zusammenarbeit mit der eigenen Familie, um gegenseitige Hilfe von Freunden und Nachbarn, um sinnvolle Tätigkeit und eigene Ergebnisse.

Im Jahr 1996 wurde Ward als Gastprofessor für Wohnungswesen und Sozialpolitik an die London School of Economics eingeladen, um eine Reihe von Vorträgen zu halten. Sein Thema war Social Policy. An Anarchist Response (Sozialpolitik: Eine anarchistische Antwort [1996]). Wards Versuch, über die zukünftigen Trends nachzudenken, beruhte auf seiner Überzeugung, dass die Menschen auch im 21. Jahrhundert nach neuen Alternativen suchen werden, und dass „eine dieser Alternativen zweifellos der Anarchismus sein wird“ (Ebd., S. 52).

In den späten 1990er Jahren hielt es Ward für notwendig, über die globale Gemeinschaft nachzudenken, ihre Anliegen und moralischen Gebote darzulegen und aus dieser Perspektive auf die Bedrohungen hinzuweisen, denen das Wasser als ein allgemeines natürliches Gut ausgesetzt ist. Das Ergebnis seiner Überlegungen war die Publikation Reflected in Water. A Crisis of Social Responsibility (Im Wasser reflektiert. Eine Krise der sozialen Verantwortung [1997]) Es ist kein Zufall, dass Ward die lebenswichtige Bedeutung von Wasser mit der des Blutes vergleicht. „Während Blut irgendwie im individuellen ‚Besitz‘ ist, ist Wasser eine kollektive Notwendigkeit. Es ist eine sich ständig erneuernde Ressource, aber nicht unerschöpflich. Wie Blut ist Wasser zu kostbar, um als Ware betrachtet zu werden“, schreibt Ward in der Einleitung zu seiner Arbeit (Ebd., S. VIII–IX). Ziel ist es, die wachsende lokale und globale gesellschaftliche Bedeutung des Wassers klar zu reflektieren. „Wir stehen nicht vor einem technischen Problem, sondern vor einer Krise der sozialen Verantwortung“ (Ebd., S. 139). Hier präsentiert Ward – wie in seinen anderen Werken – keine futuristischen Konzepte, sondern er endet mit dem Imperativ sozialer Verantwortung.

Das Werk Anarchism. A Very Short Introduction (Anarchismus. Eine sehr kurze Einführung) wurde 2004 veröffentlicht und stieß auf eine sehr positive Resonanz. Im Kontext der sozialen Prozesse des späten 20. Jahrhunderts erinnert uns Colin Ward daran, dass die Ideen des Anarchismus in neuen Kontexten und in unerwarteten Bereichen der Gesellschaft wiederentdeckt und wiederbelebt werden. „Anarchisten halten ihre Methoden für relevanter als je zuvor und erwarten, dass diese Methoden wiederentdeckt werden, gerade weil die moderne Gesellschaft aus den Mängeln der sozialistischen und der kapitalistischen Alternative gelernt hat“ (Ebd., S. 30). Das Buch endet mit dem Kapitel Green Aspiration and Anarchist Futures (Grünes Streben und anarchistische Zukünfte). Es ist charakteristisch für Ward, dass er zum Abschluss noch eine zumindest kurze Einführung in Umweltfragen und deren Verbindung zum Anarchismus gibt. Zum Schluss schreibt Ward, „dass anarchistische Konzepte im Hinblick auf die Lebensfähigkeit des Planeten und aller seiner Bewohner nicht nur wünschenswert, sondern notwendig sind… Ein beruhigender Gedanke für Anarchisten ist, dass eine Gesellschaft, die weit genug fortgeschritten ist, um die Umweltgebote des 21. Jahrhunderts zu akzeptieren, genötigt sein wird, den Anarchismus als die entsprechende Antwort neu zu entdecken. … Der Anarchismus gewinnt zunehmend Bedeutung für das neue Jahrhundert“ (Ebd., S. 96-98).

3. Theorie / Philosophie: Anarchy in Action (1973) – Ein Hauptwerk des Pragmatischen Anarchismus

Ward war eine jener anarchistischen Persönlichkeiten, die libertären Argumenten und Einstellungen einen konstruktiven, praktischen und kreativen Charakter verliehen. Er gehörte zu den Radikalen der empirischen Orientierung. Ward konzipierte keine utopischen Vorschläge für die Zukunft, sondern brachte konkrete Lösungsvorschläge für die Gegenwart ein. Er verstand den Anarchismus in den Kategorien eines „Mehr oder Weniger“ und als Abfolge allmählicher Schritte. Seine anarchistischen Bestrebungen gingen ihren Weg nicht nach festgelegten Konzepten, sondern bewegten sich in Arbeitshypothesen, die er an den Möglichkeiten realer Schritte überprüfte. Er glaubte, dass anarchistische Prinzipien in alltäglichen menschlichen Beziehungen und Impulsen anerkannt werden könnten.

Anarchy in Action von Colin Ward (Neuauflage: Freedom Press, London 2008).

Im Jahr 1973 publizierte Ward sein Hauptwerk Anarchy in Action (Anarchie in Aktion). Es ist im Grunde genommen das Werk des Autors in dem Sinne, dass sich die Richtung seiner weiteren Arbeit und seiner lebenslangen Tätigkeit von dort ableitet. Aus übergreifender Perspektive des anarchistischen Denkens beschreibt Wards Ansatz sehr genau eine Position, die sich bemüht, konkret genug zu bleiben, um in der Lage zu sein, in realen Dimensionen und Möglichkeiten zu denken.

Die Sichtweisen, die in Anarchy in Action darlegt werden, zeigen, wie der Autor die Aktualität seines Ansatzes versteht. Wards Ansatz ist nicht mit irgendeiner revolutionären Aktion verbunden, sondern weist auf andere Aspekte hin, die für den realen Anarchismus anwendbar sein könnten oder sollten. Wards Haltung selbst bedeutet eher Anarchismus im Alltag. Der Autor weist auf bestimmte Merkmale hin, die sich in der heutigen Gesellschaft soziologisch nachvollziehen lassen: Verhältnis zum Staat, Elemente spontanen Verhaltens, Offenheit der Familien, Konfrontation von autoritärem und nicht-autoritärem Vorgehen, Verhalten von Organisationen und Institutionen. Und er hebt jene Merkmale hervor, die auf Bottom-up-Initiativen beruhen.

In der Einleitung zur zweiten Auflage von Anarchy in Action (1982) schrieb Ward: „Es geht nicht um Revolutionsstrategien, und es geht nicht um Spekulationen darüber, wie die anarchistische Gesellschaft funktionieren wird. Es ist ein Buch darüber, wie sich Menschen in jeder Art von Gesellschaft selbst organisieren, ganz unabhängig davon, ob wir diese Gesellschaften als primitiv, traditionell, kapitalistisch oder kommunistisch einstufen“ (Ebd., S. 7 f.). So entwirft Colin Ward kein einziges Mal den Aufbau einer zukünftigen anarchistischen Gesellschaft, sondern untersucht die bestehende Gesellschaft in ihren Erscheinungsformen und ihren Prozessen. In diesem Sinne ist Wards Anarchismus der Anarchismus in Aktion, das heißt Anarchismus im wirklichen Leben mit seinen Möglichkeiten und Tendenzen. Es ist Anarchismus, der auf den Möglichkeiten hier und jetzt basiert. Aber diese Möglichkeiten sind nicht nur in irgendeiner Weise gegeben, sondern sie sind zu beobachten, aus der Wirklichkeit als reale Potentialität abzulesen.

„Dieses Buch sagt uns, dass eine anarchistische Gesellschaft, also eine Gesellschaft, die sich ohne Autorität organisiert, immer hier ist, so wie eine Aussaat, die unter dem Schnee liegt, begraben unter dem Gewicht des Staates und seiner Bürokratie, des Kapitalismus und seiner Verschwendung, der Privilegien und ihrer Ungerechtigkeit, des Nationalismus und seiner selbstmörderischen Anhänger… Von den vielen möglichen Interpretationen des Anarchismus wird in diesem Buch eine präsentiert, die weit davon entfernt ist, eine spekulative Vision der zukünftigen Gesellschaft zu sein, die aber eine Organisation von Menschen beschreibt, die auf den Erfahrungen des Alltags basiert“, schreibt Ward (Ebd., S. 18). „Unsere Aufgabe ist nicht, Macht zu gewinnen, sondern, sie zu zerfressen, sie dem Staate zu entziehen.“ (Ward [1978 a], S. 11) Anders ausgedrückt, betont Ward eine Art libertären Organisationsimperativ: „Wir müssen Netze statt Pyramiden bauen“ (Ebd., S. 11), d.h. wir müssen nichthierarchische Organisationen schaffen, die auf freiwilligen Vereinigungen von interessierten Mitgliedern, Berufsverbänden oder Syndikaten beruhen, die ihrerseits miteinander verbunden sind.

„Das Autoritätsprinzip“, schreibt Ward, „ist dermaßen in jeden Aspekt unserer Gesellschaft eingebaut, dass das Prinzip der spontanen Ordnung nur in Revolutionen, Notfällen und besonderen Ereignissen durchkommt. Aber es gibt uns einen Schimmer von der Art menschlichen Verhaltens, welches der Anarchist als ‚normal‘ und der Autoritäre als ungewöhnlich betrachtet“ (Ebd., S. 25 f.). Der Autor illustriert die Theorie des spontanen Verhaltens anhand einer Reihe realer Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit und aus seiner Gegenwart. Er stellt sie als das Potenzial der menschlichen Gemeinschaft dar, die sich unter bestimmten Umständen – wo Autorität fehlt – freiwillig und spontan organisieren kann.

Wenn Ward von Revolution spricht, bezieht er sich nicht auf einen einmaligen politischen Akt, sondern auf die Struktur von Aktivitäten, an denen Menschen freiwillig auf lokaler Ebene, in Gruppen oder in informellen Organisationen beteiligt sind. „Revolution braucht Hunderte, Tausende, schließlich Millionen von Leuten, die in Gruppen arbeiten, die informelle Kontakte untereinander haben. Revolution braucht Massenbewusstsein. Wenn eine Gruppe eine sinnvolle Initiative ergreift, werden andere sie aufgreifen“ (Ebd., S. 90).

Wenn Ward über das Bildungs- und Ausbildungssystem schreibt, so unter dem programmatischen Titel Keine Schulen mehr (Ebd., S. 148-163). Der Autor steht der bestehenden Schulorganisation sehr ablehnend gegenüber. Es weist darauf hin, dass das Bildungssystem heute mit dem Staat zutiefst verbunden ist, indem es gerade dazu beiträgt, Macht und Autorität zu bewahren. Denjenigen, die das Bündnis zwischen nationaler Regierung und nationaler Erziehung kritisieren, stimmt Ward zu und erklärt, „dass es die Natur öffentlicher Autorität ist, Institutionen zu betreiben, die von Zwang und Hierarchie geprägt sind, und deren letztliche Funktion die Verewigung sozialer Ungleichheit ist, und die Jugend mit einer Gehirnwäsche in die Hinnahme ihres besonderen Eckchens im organisierten System hineinzupressen“ (Ebd., S. 152 f.). Bildung muss auf dem freiwilligen Engagement der Schüler und Studenten beruhen, auf ihrer Kreativität und auf ihrem Eigeninteresse an der Erlangung von Wissen und Kenntnissen. Ward nennt als Beispiel Paul Goodmans Idee einer dezentralen Schule, organisiert als eine Art freiwilliger Verein, der theoretisches Lernen mit praktischer Ausbildung verbindet.

Aber auch hier geht es dem Autor nicht darum, utopische Konzepte der zukünftigen freien Schule zu entwickeln, sondern er will zeigen, was heutzutage noch ihre freie Entwicklung behindert und welche Momente helfen können. Er erwähnt die massive Welle von Studentenrevolten in den späten 1960er Jahren und weist darauf hin, „dass die Periode der revolutionären Selbstverwaltung eine echte bildende Erfahrung war… Die Studentenrevolte war ein Mikrokosmos von Anarchie, spontaner selbstbestimmter Aktivität, die die Machtstruktur durch ein Netz autonomer Gruppen und Individuen ersetzte. Die Erfahrung, die die Studenten machten, war die des Gefühls der Befreiung, das vom eigenen Fällen der Entscheidungen und des Übernehmens seiner eigenen Verantwortung herkommt. Es ist eine Erfahrung, die wir weit über die privilegierte Welt höherer Bildung hinaustragen müssen, in die Fabrik, die Nachbarschaft, das Alltagsleben der Leute überall“ (Ebd., S. 162 f.).

Eines der wichtigsten Kapitel von Anarchy in Action handelt vom Phänomen der „Institutionalisierung“, das sich parallel zu den wachsenden und sich verfestigenden Staatsstrukturen gegenüber den freiwilligen Formen durchgesetzt hat: „In der Sprache der Sozialverwaltung“ heißt das, „Leute in Institutionen zu stecken… ‚Institution‘ bedeutet in einem allgemeinen Sinn ‚ein festgesetztes Gesetz, Sitte, Brauch, Praxis, Organisation oder anderes Element im politischen und sozialen Leben eines Volkes‘ und in einem spezielleren Sinn bedeutet es ‚eine erziehende, philanthropische, heilende oder strafende Einrichtung, in der ein Gebäude oder ein System von Gebäuden eine wichtige oder eine zentrale Rolle spielt, d.h. Schulen, Krankenhäuser, Waisenhäuser, Altenheime, Gefängnisse.‘ Wenn man diese Definitionen akzeptiert, sieht man, dass Anarchismus Institutionen im allgemeinen Sinn gegenüber feindlich eingestellt ist“ (Ebd., S. 215 f.). Ward konstatiert einen „dehumanisierten institutionellen Charakter“ (Ebd., S. 231). Im Gegensatz dazu waren diejenigen, die danach strebten, die Institutionen niederzureißen oder abzubauen, immer schon durch andere Werte motiviert. Die Schlüsselbegriffe ihres Wortschatzes waren Liebe, Sympathie, Freiheit. Anstelle von Institutionen bevorzugten sie Familien, Gemeinschaften, Gruppen ohne Führer, autonome Gruppen. Das ist die anarchistische Herangehensweise: „das Aufbrechen von Institutionen in kleine Einheiten in der weiten Gesellschaft, auf Selbsthilfe und gegenseitiger Unterstützung basierend.“ (Ebd., S. 236).

Es ist ein wesentliches Kennzeichen von Wards Methode, dass er einen empirischen Ansatz verfolgt, der es ihm nicht erlaubt, sich in die freie Spekulation zu wagen. Seine empirische Herangehensweise bestätigt Colin Ward im abschließenden Kapitel Anarchie und eine plausible Zukunft (Ebd., S. 256-270). Es geht nicht darum, Theorien des Anarchismus zu entwickeln, sondern die sozialen Trends aufzuzeigen, die die Zukunft annehmbar und die Anarchie umsetzbar machen können. Oder wie Autor selbst schreibt: „Dieses Buch hat die Argumente für den Anarchismus gezeigt, nicht aus Theorien hergeleitet, sondern aus aktuellen Beispielen von Tendenzen, die schon neben starken und dominierenden autoritären Methoden der sozialen Organisation bestehen. Die wichtige Frage ist deshalb nicht, ob Anarchismus möglich ist oder nicht, sondern ob wir den Umfang und Einfluss der libertären Methoden so vergrößern können, dass es die normale Art und Weise wird, in der die Menschen ihre Gesellschaft organisieren“ (Ebd., S. 256).

Auch hier wird deutlich, dass Wards Überzeugungen auf wirklicher Erfahrung beruhen. Er zieht keine kurzschlüssigen Folgerungen und entwickelt keine unbegründeten Erwartungen. In den sozialen Prozessen selbst kann er auf jene Momente verweisen, die einen Ausweg bieten könnten. Ward ist überzeugt, dass „sich der Spielraum für freie Entwicklung und das Potenzial für Freiheit in unserer Gesellschaft vergrößern werden“ (Ebd., S. 261). Wards Quintessenz libertärer Haltung lautet wie folgt: „Der Anarchismus ist in all seinen Formen eine Bestätigung der menschlichen Würde und Verantwortlichkeit. Er ist kein Programm für politische Veränderungen, sondern ein Akt der gesellschaftlichen Selbstbestimmung“ (Ebd., S. 270).

4. Stellenwert Wards innerhalb des libertären Spektrums

Colin Ward war zweifellos einer der größten anarchistischen Denker in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ihm ging es darum, einen Ausweg nicht länger in utopischen Träumen zu suchen, sondern echte Taten zu betonen, die den Sinn und das Ziel libertären Handelns in Sichtweite lenken. Überall dort, wo er Formen des spontanen Verhaltens, der freien Kooperation und der kreativen Entfaltung entdeckte, sah er Anarchie in der Praxis, Anarchie in der Tätigkeit, Anarchie in Aktion. Ward ging es darum, schon innerhalb der heutigen Gesellschaft spontane dezentrale Verhaltensnetzwerke zu entwickeln, Räume zu erweitern für Freiheit und Freiwilligkeit im individuellen Denken und im sozialen Verhalten.

Anarchy in Action, Wards bekanntestes Werk, entstammt der Atmosphäre einer aktivierten Linken um die Wende der 1960er und 1970er Jahre. Es zeigt aber vor allem sehr charakteristisch die pragmatische Tendenz im anarchistischen Denken des 20. Jahrhunderts. Dieses Denken löst sich allmählich von utopischen Visionen und von unrealistischen Auffassungen der Gegenwart.

Ideengeschichtlich konnte Wards Pragmatischer Anarchismus sich durchaus auf klassische Vorbilder berufen: Etwa auf die Überzeugung von Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, wonach die Gesellschaft sich auf die eine oder andere Weise in eine anarchistische Richtung bewege. Aber auch auf die Traditionslinien des Experimentalsozialismus, wie ihn beispielsweise Pierre-Joseph Proudhon, Gustav Landauer oder Max Nettlau vertraten.

Zugleich bemühte sich die von Ward mitgeprägte Richtung wie Wenige zuvor um wirklich zeitgemäße Aktualisierungen. Das anarchistische Denken öffnete sich für die modernen Erkenntnisse von Soziologie, Psychologie, Anthropologie, Erziehungs- und Kommunikationswissenschaften bis hin zur Kybernetik. Wie Ward und der Redaktionskreis von Anarchy sich den unmittelbaren Lebensumständen der Menschen zuwandten, war vorwärtsweisend für das anarchistische Denken. Unter anderem führte es zur konzeptionellen Entdeckung von ganz neuen Themen: Von Wohnungsfragen über Stadtplanung, Betriebsorganisation und Schulproblemen bis hin zur Ökologie (lange bevor diese von einer größeren Öffentlichkeit als Handlungsbereich erkannt wurde).

Eine Entsprechung fand der Pragmatische Anarchismus aus Großbritannien etwa zeitgleich in der niederländischen Provo- und Kabouterbewegung. In Deutschland kann das von Horst Stowasser seit den 1980er Jahren entwickelte Modell des Projektanarchismus in diesen Wirkungskreis eingereiht werden.

5. Quellen- und Literaturverzeichnis

Schriften Wards

  • Crouch, David / Ward, Colin (1988): The Allotment. Its Landscape and Culture, London.
  • Hardy, Dennis / Ward, Colin (1984): Arcadia for all. The Legacy of a Makeshift Landscape, London.
  • Ward, Collin (1972): Der Anarchismus als Organisationstheorie, in: Oberländer, Erwin (Hrsg.): Der Anarchismus, Olten/Freiburg i.Br. (= Dokumente der Weltrevolution), S. 403-422.
  • Ward, Colin (1973): Anarchy in Action, London.
  • Ward, Colin (1974): Utopia, Harmondsworth.
  • Ward, Colin (1978): The Child in the City, London.
  • Ward, Colin (1978 a): Anarchismus in Aktion, Bremen.
  • Ward, Colin (1978 b): Das Kind in der Stadt, Frankfurt am Main.
  • Ward, Colin (1982): Anarchy in Action, New Edition, London.
  • Ward, Colin (1996): Social Policy: An Anarchist Response, London.
  • Ward, Colin (1997): Reflected in Water. A Crisis of Social Responsibility, London/Washington.
  • Ward, Colin (1998): Anarchie und Journalismus, in: graswurzelrevolution, Nr. 225, S. 13.
  • Ward, Colin (2004): Anarchism. A Very Short Introduction, Oxford.
  • Ward, Colin / Reichert, William O. (1983): Anarchismus als Organisationstheorie / Anarchismus, Freiheit und Macht, 2. Aufl., Siegen-Eiserfeld (= Winddruck Texte; 1)

Über Ward (in deutscher Sprache)

  • Goodway, David (1997): Wasser und Anarchie. Colin Ward über Ökologie, kommende Kriege und die Krise der sozialen Verantwortung, in: graswurzelrevolution, Nr. 220, S. 16.
  • Oberländer, Erwin (1972): Einleitung, in: Ders. (Hrsg.): Der Anarchismus, Olten/Freiburg i.Br. (= Dokumente der Weltrevolution), S. 7-64.
  • Tomek, Václav (2016): Der Anarchismus. Absicht und Tat, Prag.
  • Tomek, Václav (2020): „Wir müssen Netze statt Pyramiden bauen!“ Colin Ward zum 10. Todestag: Leben und Werk eines pragmatischen Anarchisten, in espero (Potsdam, N.F.), Nr. 1 (Juni 2020), S. 59-92.



Autor: Václav Tomek
(Redaktionelle Bearbeitung: Markus Henning; sämtliche Übersetzungen aus dem Englischen stammen von Václav Tomek)

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