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Wiedertäufer (Anabaptisten)

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Lexikon der Anarchie: Organisationen/Bewegungen

Geschichte und Entwicklung

Die Geschichte der Reformation in Mitteleuropa (Deutschland, Niederlande, Frankreich, Schweiz und England) ist nicht nur die der großen Strömungen, an deren Spitze Martin Luther, Johannes Calvin und Ulrich Zwingli standen, sondern auch die einer großen Anzahl anderer Gruppierungen, die teilweise aus diesen Hauptströmen hervorgingen und die man ganz allgemein meist in der Forschung als „Sekten" bezeichnet. Ihre Gemeinsamkeit ist die Trennung von den Hauptströmen – aus den verschiedensten inneren existentiellen aber auch äußeren politischen und sozio-ökonomischen Gründen. Die Sekten hatten verschiedene Namen, eine von ihnen nannte sich Wiedertäufer (Anabaptisten oder Baptisten) *> , welche sich in der Zeit der Reformation entwickelte. Auch sie war nicht homogen, sondern hatte in sich verschiedene Richtungen von gemäßigten bis zu radikalen, sehr militanten Gruppen, deren verschiedene Aktivitäten auf dialektische Weise auf die Entwicklung wie auch den Niedergang des Wiedertäufertums entscheidenden Einfluss hatte.

Das Geburtsland dieser Bewegung ist die reformatorische Schweiz (Zürich) und sein Reformer U. Zwingli. In Zwickau (Sachsen) sowie in Thüringen um Thomas Münzer entstanden viele anti-lutheranische, kritische Gruppierungen, die besonders im Bauernkrieg (1524/25) eine Rolle spielten. In Böhmen (Muravien) hatten die Anhänger des in Konstanz hingerichteten Johann Hus, die Taboriten, einen wichtigen Anteil an dieser Bewegung. Außerdem in Tirol, das von der habsburgischen Monarchie regiert, geographisch aber von Österreich ziemlich abgeschnitten war. Hier spielten sich die ersten Etappen der sogenannten hutterischen Bewegung ab (nach dem Gründer Jakob Hutter benannt), die noch heute existiert und die Wiedertäufer sind. Auf dem nordamerikanischen Kontinent, besonders in den USA, konnten, durch das dort verbreitete Freikirchentum, diese Kirchen und somit auch verschiedene Wiedertäufersekten weiter existieren.

Die Reformationsjahre sind eine Epoche großer religiöser Spannungen, an deren Beginn die Trennung von der Mutterkirche stand: M. Luthers fünfundneunzig Thesen, deren Grundinhalt die Negierung der bestehenden katholischen Kirchenherrschaft ist und deren fast unvorstellbare Dominanz sich auf alle Lebensgebiete auswirkt: religiös, kulturell, politisch, ethisch usw.; sie sind in diesen Jahren Zeugen einer politischen Entwicklung, die in Frankreich oder England aufgrund der in diesen Ländern spezifischen religiösen Situation zur ersten bewussten politischen und nationalen Entwicklung führte, und in Mitteleuropa entwickelten sich die Territorialstaaten zu entscheidenden Faktoren. Bei dieser Entwicklung des Territorialfürstentums hatten M. Luther und sein Kreis einen entscheidenden Einfluss: M. Luther hatte zwar die Trennung von der Mutterkirche realisiert, aber selbst wieder eine Kirche gegründet, die in vielem der Katholischen Kirche ähnelte, aber ohne die weitgehende Kompetenz eines Kirchenoberhauptes und mit ziemlich weitgehenden Änderungen im Status der Geistlichen und Änderungen in der Liturgie; das wohl Wichtigste ist die Einführung der deutschen Sprache in die Gebete und in den Gottesdienst, aber die weltliche Autorität der Fürsten und Feudalherren wurde nicht in Frage gestellt. Auch die beiden anderen Reformatoren gingen ähnliche Wege, besonders der Calvinismus. Gleichzeitig mit den Änderungen auf kirchlichem Gebiete, vollzogen sich auch sozioökonomische Änderungen. In den sich entwickelnden Städten entstand ein aktiveres Kleinbürgertum, das nicht immer mit dem Gehabe der Patrizier einverstanden war und seine Rechte forderte. Auf dem Lande in den Dörfern begann eine innere Gärung unter den Bauern, die Rechte einforderten oder zumindest zu fordern begannen. All diese sozio-ökonomischen Veränderungen wurden auch zu einem Teil der innerkirchlichen Auseinandersetzungen, da z. B. M. Luther nicht daran interessiert war, die Herrschaft der bestehenden Staaten anzutasten, sondern im Gegenteil, seiner Kirche zuliebe sie zu stärken. Bei diesen Bestrebungen stützten sich M. Luther oder auch U. Zwingli auf die herrschenden Patrizier oder Fürstenhäuser der verschiedenen Staaten, Die unteren Schichten waren deshalb weitgehend von den Ergebnissen der Reformation enttäuscht. Hier sind die Wurzeln der Enttäuschung zu suchen: Die niederen Stände blieben wirtschaftlich und politisch unbefriedigt und die religiösen und kirchlichen Änderungen erfüllten ihre Hoffnungen nur in geringem Maße oder gar nicht.

Auch in der Katholischen Kirche des Mittelalters und des ausgehenden Mittelalters bestanden häretische Bewegungen, oft mit starkem mystischen und millenaristischen Einschlag. Albigenser, Waldenser u.a. sind hierfür beispielhaft. Der Kampf der Kirche und Fürsten gegen sie und andere ihnen ähnliche Bewegungen sind bekannt. Das heißt: Schon im Mittelalter kämpfte die Katholische Kirche um ihre Homogenität. Dies waren die Jahre großer mystischer Prediger in der Kirche, wie z.B. Meister Eckhart und Johannes Tauler. ( Gustav Landauer hat einen Teil von Meister Eckharts Predigten ins deutsche übersetzt). Diese Mystiker hatten einen nicht zu unterschätzenden Einfluss und waren sozusagen „von unten" aktiv. Hinzu kommen millenarische Bewegungen, welche die Rückkehr des Erlösers voraussagten, wie die des Joachim aus Fiore u.a.

Dies sind nur einige Beispiele. Hierzu gehören selbstverständlich auch die Taboriten. Auch hier ist das Gemeinsame die Unzufriedenheit mit der in der Kirche und Gesellschaft bestehenden Lage, auch nach der Reformation und ihrem Handeln und ihrer Herrschaft, wie auch ein Suchen nach neuen christlichen Lebensformen. Dazu gehörte die Rückbesinnung auf die urchristliche Gemeinde, die Auslegung der Bergpredigt sowie der Gedanke an eine Schaffung neuer christlicher und ursprünglicher Lebensformen mit starkem „kommunistischem“ Einschlag, mit Verzicht auf Privateigentum und Privatgüter sowie sehr starken Friedensideen, verbunden mit einer fundamentalen Kritik des Staates, wenn diese Kritik auch, wie das Beispiel Münster (s.u.) zeigte, entarten konnte. Diese letzteren Bestrebungen verstärkten sich in der Reformationszeit auch durch die sich in diesen Jahren entwickelnden neuen sozio-ökonomischen und politischen Veränderungen, wie z.B. das Anwachsen der Macht der Territorialfürsten. Dieser Machtzuwachs war für diese Kreise der Grund zu jeder Opposition gegen die „von oben“ ausgeübte Macht als der Nährboden von jeder Form von Herrschaft und Gewalt. Ganz allgemein können wir sagen, dass sich hier im Gegensatz zu der an den Staat gebundenen Kirche – M. Luther ging mit seiner neuen Kirche diesen Weg – sich eine von unten aufkommende neue christliche Lebensform zu entwickeln begann. Diese neue christliche Lebensauffassung, in der dann auch die Erwachsenentaufe entsprechend den im Johannesevangelium erwähnten Ereignisse eine entscheidende Rolle spielte, wurde in den Jahren der Reformation sowohl zu einer politischen wie auch zu einer religiösen Kraft. Die deutschen Bauernaufstände und ihre Forderungen, sowie die verschiedenen religiösen Aufbegehrungen bis zu ihrer radikalsten Form, dem „Neuen Jerusalem“, das in der Stadt Münster (Westfalen) entstand und in seinem inneren Leben zu schweren Exzessen führte (John von Leyden und seine Mitschwärmer), sind hierfür ein Zeugnis. Hierzu gehören auch die Predigten von Thomas Münzer, der Zwickauer Schwärmer oder die des Sebastian Frank und anderer, die erheblichen Einfluss hatten.

Die Jahre der Reformation in Deutschland, der Schweiz und in den Niederlanden waren für die Wiedertäufer Jahre der schwersten Verfolgungen. Schätzungen besagen, dass zehntausende ihrer Anhänger hingerichtet wurden. Die Katholische Kirche, die erst entstandene lutherische Kirche und die verschiedenen Territorialfürsten, die sich alle durch diese Bewegung bedroht fühlten, arbeiteten dabei Hand in Hand. Eine ruhigere Epoche begann mit dem Beginn der Tätigkeit von Simon Mennon einem holländisch-friesischen Prediger, dem es gelang, nach den furchtbaren Jahren des Kampfes der Wiedertäufer gegen die Kirche, deren Gemeinden in „ruhige“ evangelische Gemeinden umzugestalten und auch in den verschiedenen Ländern die anabaptistische Bewegung zu einigermaßen friedlichen Beziehungen mit den Regierenden zu führen. Grundlage hierfür war, dass unterdessen die allgemeine politische, wirtschaftliche und geistige Situation große Veränderungen durchmachte.

Schlussfolgerung

Es hat durchaus seine Berechtigung, der Wiedertäuferbewegung starke anarchistische Züge zuzuschreiben. Erwähnt sei, dass Norman Cohn in seinem Buch „The Pursuit of the Millenium“ den anarchistischen Charakter dieser Bewegung herausarbeitete. Ähnliches finden wir bei Ulrich Linse hinsichtlich des Beginns der Bruderhöfe in Deutschland (Sannerz, Eberhard Arnold) und ebenso bei Forschern wie Peter Marshall (s. Bibliographie), die diese Bewegung in der Geschichte des Anarchismus verankern.

Autor: Chaim Seeligmann

Literatur und Quellen

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Quelle: Dieser Artikel erschien erstmals in: Lexikon der Anarchie: Encyclopaedia of Anarchy. Lexique de l'anarchie. - Hrsg. von Hans Jürgen Degen. - Bösdorf: Verlag Schwarzer Nachtschatten, 1993-1996 (5 Lieferungen). - Loseblattsammlung in 2 Ringbuchordnern (alph. sortiert, jeder Beitrag mit separater Paginierung). Für die vorliegende Ausgabe wurde er überarbeitet.

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