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Voltairine de Cleyre

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Lexikon der Anarchie: Personen


Voltairine de Cleyre (1862-1912)

Voltairine de Cleyre, geb. am 26. Mai 1862 in Leslie (USA); gest. am 20. Juni 1912 in Chicago.

Äußere Daten

Ihr ungewöhnlicher Vorname geht darauf zurück, dass ihr Vater vor ihrer Geburt ein Freidenker in der Linie von Voltaire war. Zu ihrem Unglück änderte er allerdings seine Auffassung und schickte sie später in eine Klosterschule, die ihr nur schlimme Erinnerungen hinterließ.

Cleyre und ihre Schwestern wuchsen in bitterer Armut auf. Im Alter von 17 Jahren begann sie, für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten, indem sie Privatunterricht in Musik, Französisch und Schönschrift gab. Bei diesem Beruf blieb sie ihr Leben lang. Da sie ihn stets unter den Einwanderern und Armen ausübte, bekam sie nie mehr als einen Hungerlohn zusammen.

Zunächst engagierte sich Cleyre in der Freidenkerbewegung. Die Erfahrung des täglichen Elends führte sie dazu, die geistig antiautoritäre Haltung der Freidenker auch auf die soziale Frage auszuweiten. Durch den Kontakt mit dem individualistischen Anarchisten Benjamin Tucker und seiner Zeitschrift "Liberty" wurde Cleyre zur Anarchistin. Schnell entwickelte sie sich zu einer wichtigen Aktivistin der vielgestaltigen amerikanischen anarchistischen Bewegung um die Jahrhundertwende. Sie lehnte die "adjektivistische" Differenzierung des Anarchismus - individualistischer, mutualistischer, kollektivistischer, kommunistischer Anarchismus - ab und entwickelte den "Anarchismus ohne Adjektive". Sie versuchte sogar (leider ohne Erfolg), zwischen den Hauptkontrahenten in der Bewegung - Benjamin Tucker und Johann Most - zu vermitteln. Ihre eigene persönliche Abneigung gegen Emma Goldman, deren Lebensstil ihr nicht revolutionär-asketisch genug war, überwand sie bedauerlicherweise nie ganz.

Cleyres Hauptaktivität verlagerte sich in die anarchistischen Zirkel der jüdischen Einwanderer, denen sie Englisch beibrachte. Am 19. Dezember 1902 wurde Cleyre, von einem ihrer Schüler, der an Verfolgungswahn litt, angeschossen. In der Linie von Errico Malatesta und Louise Michel, die als Opfer von Anschlägen darauf verzichtet hatten, ihre Attentäter zu identifizieren, setzte sich Cleyre - vergeblich - für die Freilassung des Schützen ein. Ihre konsequente Haltung in diesem Fall brachte ihr die bewundernde Anerkennung auch in der etablierten Presse ein. Ihr letzter Lebensabschnitt war von Schmerzen und Krankheit gekennzeichnet, die teils von dem Attentat und teils von ihrer insgesamt schlechten Gesundheit herrührten.

Cleyre trat für den anarchistischen Pädagogen Francisco Ferrer ein (der 1909 in Spanien hingerichtet wurde) und half das von ihm inspirierte "Modern School Movement" (Escuelas Modernas) aufzubauen. Kurz vor ihrem Tod steckte sie den Rest ihrer Energie in die Unterstützung der mexikanischen Revolution.

Stellenwert de Cleyres innerhalb des libertären Spektrums

Cleyre steht bis heute im "Schatten" von Emma Goldman. Max Nettlau allerdings bemerkte, Cleyres Konzeption der anarchistischen Idee sei in ihrer Toleranz, Breite und Klarheit sonst nur von Elisée Reclus erreicht worden. Damit stellte er die zentrale Bedeutung ihres "Anarchismus ohne Adjektive" heraus. Obwohl schon andere vor ihr versucht hatten, die Auseinandersetzungen über die ökonomische Struktur der Anarchie – Individualismus, Mutualismus, Kollektivismus oder Kommunismus - als "zweitrangig" hinter dem gemeinsamen Ziel der Abschaffung des Staates auszuweisen, hat erst Cleyre die geniale Formulierung gefunden, die dem anarchistischen Prinzip selbst entspringt: Konsequente Anarchisten können überhaupt keine verbindliche Aussage über die Lebensform der Freiheit treffen, sondern nur Vorschläge machen und Anregungen geben. Den Wünschen und der Kreativität der handelnden Menschen gibt die Anarchie freie Entfaltungsmöglichkeiten für Experimente, in denen sich herausstellen wird, welche Lebensformen praktikabel und befriedigend sind.

Obgleich Cleyre kein umfangreiches Werk hinterlassen und kaum theoretische Ansätze entwickelt hat, ist ihr "Anarchismus ohne Adjektive" heute nicht weniger aktuell und bedeutsam für die anarchistische Theorie und die revolutionäre Bewegung als damals.

Autor: Stefan Blankertz

Die wichtigsten Werke

Voltairine de Cleyre: Selected Works. New York 1914.

Literatur und Quellen

  • P. Avrich: An American Anarchist: The Live of Voltairine de Cleyre, Princeton 1978
  • W. McElroy: Freedom, Feminism, anthe State, Washington 1982.
  • Bibliographie (Schriften auf deutsch): Voltairine de Cleyre; Anarchismus (1901). Bern 2001. Mit einer Einführung des Übersetzers Reinhold Straub, sowie einen Anhang: Voltairine de Clayre über Dyer D. Lum.

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Quelle: Dieser Artikel erschien erstmals in: Lexikon der Anarchie: Encyclopaedia of Anarchy. Lexique de l'anarchie. - Hrsg. von Hans Jürgen Degen. - Bösdorf: Verlag Schwarzer Nachtschatten, 1993-1996 (5 Lieferungen). - Loseblattsammlung in 2 Ringbuchordnern (alph. sortiert, jeder Beitrag mit separater Paginierung). Für die vorliegende Ausgabe wurde er überarbeitet.

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